Mittwoch, 4. Dezember 2013

In Mannheim bahnt sich eine Katastrophe an

Mannheim hat eine herrliche Altstadt. Doch die wird von der millionenteuren Sanierung einer Hochstraße bedroht. Die autogerechte westdeutsche Musterstadt droht über das historische Erbe zu siegen, wie die "Welt" in einer auf der Durchfahrt geschriebenen packenden Situationsbeschreibung analysiert.

Ein Riss geht durch Mannheim. Er wird markiert durch die Stadtautobahn, die die Stadt seit BRD-Zeiten als vierspurige Hochstraße durchschneidet. Wer das Pech hat, in den oberen Stockwerken zu wohnen, dem dröhnen die Lastwagen bei klirrenden Scheiben vor den Fenstern vorbei.

Wie verheerend sich Hochstraßen auf den Stadtorganismus und das städtische Leben auswirken, lässt sich gerade in Mannheim exemplarisch beobachten. Hier hat man unter den speziellen Bedingungen kapitalistischer Stadtplanung Planung eine Reinform der autogerechten Stadt zu verwirklichen versucht.

Dazu wurde die Stadt mit einer Hochstraße überspannt. Für eine Stadt mit 294.000 Einwohnern ein verkehrstechnisches Monstrum, das sich als ursächlich nicht nur für beispiellose Unfallserien, sondern auch für verschenkte Entwicklungschancen der Stadt erweist.

Denn die Bündelung sämtlicher Verkehrswege an einem einzigen zentralen Ort ist der Grund dafür, dass die Stadt nur von hier aus und nur über eine einzige Trasse erreichbar ist, statt, wie es vernünftig gewesen wäre, über mehrere Zufahrten angebunden zu werden. Bröckelnder Beton an den zwischen 1970 und 1981 gebauten Brückenträgern sorgen wegen notwendiger Bauarbeiten für Verkehrschaos. Eine Grundsanierung soll mit bis zu 300 Millionen zu Buche schlagen.

Um die Trassierung zu verstehen, muss man sich noch einmal der Ziele erinnern, mit denen die genuine westdeutsche Stadtplanung in den goldenen Jahren der jungen BRD zu Werke ging. Sie stand unter politisch-ideologischen Vorgaben, die auf die systematische Modernisierung der heil über den Krieg gekommenen historischen Altstadt im sinne höherer Mobilität der Arbeitskräfte abzielten. Von Mitte der 1950er bis Mitte der 1970er Jahre entwickelten sich in der Bundesrepublik Deutschland die Großwohnsiedlungen, die als Nonplusultra des Wohnungsbau galten, weil sie autogerecht waren und schnelle Verfügbarkeit von Arbeitnehmern versprachen. In den Großwohnsiedlungen wohnte zunächst vorwiegend die Mittelschicht, meist junge Familien. In den gründerzeitlichen, unsanierten Altbauwohnungen hingegen verblieben die sozio-ökonomisch schwächeren Bewohner, Ausländer, Ältere oder Arbeitslose, die vom kapitalistischen Verwertungssystem nicht mehr benötigt wurden.

In den 1980er Jahren standen in den westlichen Großwohnsiedlungen bereits 2,5 Prozent des Wohnungsbestandes, jedoch in regional unterschiedlicher Größenordnung. Auf den Reißbrettern der Architekten und Ingenieure entstanden immer mehr moderne, vielgeschossige Hochhäuser. "Die hygienische, durchgrünte und verkehrsgerechte Stadt prägte als Idealvorstellung vom urbanen Lebensraum den Wiederaufbau im Westen", analysiert der Bund der Architekten heute. Die daraus resultierenden gesichtslosen Stadträume, Baukörper und Fassaden verliehen den Ansprüchen auf Effizienz und Reproduzierbarkeit Gestalt, sie entsprachen dem gesellschaftlichen Lebensgefühl dieser Zeit.

Oft wird behauptet, die Bundesrepublik habe ihre Altstädte nur deshalb nicht erhalten können, weil ihr die wirtschaftliche Kraft dazu gefehlt habe. Diese Sicht blendet die ideologische Komponente aus. Vielmehr war es nicht nur in Mannheim das Ziel des Städtebaus, "eine optimale Umwelt schaffen, sozusagen das Paradies auf Erden – und das Paradies hat weder Vergangenheit noch Zukunft", wie Michael Frielinghaus schreibt.

Mannheims Hochstraße ist daher nicht unabhängig von der Gesamtplanung der westdeutschen Städte zu sehen. Was die bundesdeutsche Planung hier verwirklicht hat, sollte Modellcharakter haben.

Planerisch knüpfte man dabei fast wörtlich an eine Idealkonzeption an, die der deutsche Architekt Ludwig Hilberseimer (1885 bis 1967) bereits 1924 entwickelt hatte. Danach sollten die Verkehrsarten – Fußgänger-, Straßenbahn- und Kfz-Verkehr – wie auch die so genannten städtischen Funktionen, nämlich Wohnen, Arbeiten, Erholung, jeweils strikt voneinander getrennt werden. Auf diese Weise meinte man, alle Abläufe berührungsfrei – und somit reibungslos und damit systemdienlich – organisieren zu können. Verräterisch war die Abbildung der Menschen in diesen Plänen: Sie schrumpften zu Ameisen.

Was Hilberseimer in Bildern von ungeheurer Eindringlichkeit ausgearbeitet hatte, war genaugenommen ein Plagiat: die exakte Übersetzung der Idee des Vordenkers Le Corbusier, das städtische Leben durch Architektur schnell, rationell und effektiv wie eine Autofabrik des amerikanischen Autokönigs Henry Ford zu gestalten.

Mannheim-Vogelsang wurde unter dem damaligen Ersten Bürgermeister Ludwig Ratzel geplant und gebaut. Ein Großteil des Projekts wurde von der GEWOG, einer Tochter der gewerkschaftseigenen Neuen Heimat, umgesetzt, die die Gesamtkosten auf 500 Millionen D-Mark bezifferte. Vorbild waren Großwohnsiedlungen wie etwa Berlin-Gropiusstadt, Hamburg-Steilshoop und Heidelberg-Emmertsgrund. Nach einem Entwurf von Helmut Striffler entstand ein Stadtzentrum, das mit drei Punkthochhäuser auf 23 Etagen und einer Höhe von 70 Metern den Sieg über die frühkapitalistischen Lebensverhältnisse verkündet.

Dass das Betonmonster Leerstände in benachbarten, einst prachtvollen Gründerzeitquartieren erzeugt, dass es die Entfaltung von Urbanität blockiert und den Blick auf die bedeutenden Kulturensemble der Stadt verstellt und die Stadt damit vermutlich jeder Chance auf den angestrebten Welterbetitel der Unesco beraubt, all das blieb unberücksichtigt.

Lösungsmodelle, etwa ein anderthalb Kilometer langer Stadttunnel oder eine Mehrbrückenalternative, wurden nicht ernsthaft erwogen, geschweige für Förderprogramme der Bundesregierung oder der EU nominiert. Dieselbe Inkonsequenz regiert im Umgang mit Unikaten der Baugeschichte, etwa der ehemaligen Badischen Bank, die früher von Kriegskommissariatsdirektor Johann Nikolaus von Scherer benutzt wurde.

Was bleibt, ist eine uniforme Innenstadt ohne ein "Alleinstellungsmerkmal", das die Stadt unverwechselbar macht. Mannheim bietet das Bild einer unzerstörten Großstadt des späten 20. Jahrhunderts, dominiert von Betonbauten und Parkhäusern. Wenn der Besucher in der Stadt auf Plattenbauquartiere trifft, so handelt es sich ausnahmslos um Ersatzwohnungsbau der BRD für im Krieg mutwillig zerstörte Altbauten. Mit einer Ansiedlungspolitik, die an diese Praxis anknüpft und Architekturikonen opfert, um vermeintliche Hürden für Investoren aus dem Weg zu räumen, setzt man dieses unvergleichliche Potenzial heute weiter aufs Spiel.

Schuld daran ist die Unfähigkeit der Politiker, sich zwischen zu entscheiden – zwischen derjenigen, die Mannheim noch immer einzigartig macht, weil keine andere Stadt weltweit so heißt und zugleich an dieser Stelle liegt. Und der Altstadt, und derjenigen, die trotz Millionen Investitionen schon jetzt rettungslos verloren ist: der Plattenbaustadt Vogelsang.

Was von der eingemeindeten Musterstadt noch steht, ist entweder Vandalismus und Verfall preisgegeben oder wurde zugrunde saniert und mit dem Zuckerguss unpassender Materialien, Farben, Bauformen bis zur Unkenntlichkeit verfremdet. Das "Typische" kann nur als Karikatur der BRD-Wirklichkeit überleben.

Wer Mannheim retten will, der muss sich endlich zu der Konsequenz durchringen, dass nur eines von beiden Stadtbildern als "Marke" dienen kann – und das kann logischerweise nur die ehrwürdige Altstadt sein. Aber ihre Reanimation, so hoffnungsvoll begonnen, stockt. Prachtfassaden der Gründer- und Jugendstilzeit, die in anderen Städten wie Juwelen herausgeputzt wären, verrotten hinter vorgehängten Schutztüchern. Die Endlosdiskussion über das Selbstverständnis der Stadt hat die Bürger ermüdet. Visionen? Aufbruchstimmung? Fehlanzeige.

3 Kommentare:

Sax hat gesagt…

Das ist aber gemein, einen Text vom Tankwart Kurknaz (oder so ähnlich) aus der Welt zu reißen und ihn so zu verhohnepipeln. Der Mann hat doch zum Beispiel so liebevoll über die Dresdner Waldschlößchenbrücke geschrieben.

Anonym hat gesagt…

Als ich das in der WELT gelesen habe, musste ich gleich an Ludwigshafen denken. Da passt das, wie die Faust auf's Auge.

Kurt hat gesagt…

Der Tankwart Kurknaz ist "altersweise".
Oder offen gesagt: Der Mann befindet sich in einem langsam fortschreitenden Zustand der Verblödung.

Als Republikflüchtling übt er heute rücksichtslose Kritik an allem, was aus der DDR kommt. Auch wenn es nicht aus der DDR kam.
Und da er als Kleinkind das unzerstörte Dresden noch "erlebt" hat, fühlt er sich seit jeher dazu berufen, als Architekturkritiker zu reüssieren.
Im übrigen ist er Gründungsmitglied des ca.1990 gegründeden Dresdner Ablegers des Verbandes der Haus- und Grundbesitzer, was seine Haltung zu Waldschlösschenbrücke und Dresdner Neumarkt erklärt. Außerdem hat er einen fetischistisch anmutenden Hang zu Gründerzeitfassaden.

Da hat Halle jetzt eben mal Pech gehabt. Was lässt die Stadt auch die Gründerzeitfassaden verludern!