Dienstag, 24. November 2015

Doku Deutschland: Flüchtlingskrise feiert 20. Geburtstag

Es war mitten im Sommer, als die Flüchtlingskrise Deutschland erreichte. Anarchie an den Grenzen, ein Ansturm, wie ihn die meisten Bürger noch nie erlebt hatten. Es ist das Jahr 1995, als eine gewaltige Diskussion über europäische Solidarität, Kontingente, Obergrenzen und Menschlichkeit die deutsche Gesellschaft spaltet.

Was damals, vor zwanzig Jahren, von wem wie diskutiert wurde, welche Argumente welche Seite in die Debatte warf und wohin das Ganze am Ende trieb, ist ein Lehrstück für die Nachgewachsenen, die meinen, sie führten all die Dispute zum ersten Mal, weil es all das noch nie gegeben habe. Hat es, doch es ist vergessen, weil nie ausdiskuitert worden. Damals verschwand ein Teil der Flüchtlinge irgendwo in Deutschland, integriert oder nicht, in jedem Fall aufgelöst in der Mehrheitsgesellschaft. Ein anderer ging nach kriegsende zurück nach Bosnien, teilweise befeuert von Eingliederungszuschüssen der Bundesrepublik.

Weil sich die Bilder aus 1995 und 2015 so sehr gleichen, dokumentiert das kleine Heimatgeschichtsboard PPQ den Stand der Dinge und der Diskussion, damals, 1995. Der "Spiegel" fantasiert seinerzeit von "kriminellen Ausländern", die Berliner Zeitung übt sich in Frontberichterstattung. Der Kanzler heißt Kohl, den Innenminister spielt Kanther, im Außenamt residiert ein längst vergessener Freidemokrat namens Kinkel und Horst Seehofer amtiert als Gesundheitsminister. Die SPD wird vertreten durch Ottmar Schreiner, der als Bundestagsabgeordneter sterben wird. Und für die Grünen spricht eine erst später enttarnte Antisemitin namens Kerstin Müller, die heute bei der Heinrich-Böll-Stiftung ihr Gnadenbrot verzehrt.


Deutschland fordert wegen der Flüchtlinge aus Bosnien bei den europäischen Partnern eine ausgewogene Lastenteilung ein


Mit fein dosierter Ironie verpaßt der Sprecher des französischen Außenministeriums den aufgeregten Deutschen einen Seitenhieb: „Es gehört nicht zu unseren Gepflogenheiten zu reagieren, bevor der Fall überhaupt eingetreten ist.“ Glückliches Frankreich. Was geht Paris die hitzige Bon-ner Sommerdebatte um weitere Zig- oder Hunderttausende Kriegsflüchtlinge vom Balkan an?

„Bloß nicht herbeireden“, hieß die Parole der Bundesregierung nach der letzten Kabinettssitzung vor dem Urlaub des Kanzlers. Solange die Notlage nicht eintritt, soll die Zeit genutzt werden, um die EU-Partner zu „ausgewogener Lastenteilung“ zu drängen.

Fromme Wünsche. Seit 1991 nahm Deutschland mindestens 350 000 Flüchtlinge auf, meist Bosnier. Frankreich meldete dem UN-Flüchtlingskommissar (UNHCR) 15 900 Aufnahmen. Der EU-Gipfel in Cannes hinterließ Ende Juni eine wortreiche Entschließung zur Lastenteilung, die niemanden bindet.

Nicht herbeireden? Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) persönlich löste den inneren Streit aus. Seine Beamten hatten Order, den Mund zu halten. Er selbst gab ein Interview, da wars passiert: „Ich bin der Meinung, daß wir unsere Pflicht erfüllt haben“, bezogen auf jene 350 000 und die Vergleichsleistung der EU-Partner, die nun „ihrerseits Pflichten übernehmen“ müßten.

Pflicht erfüllt? Das Wort machte sich selbständig – als wäre sie ein für allemal erfüllt. Seither gilt Kanther als unbarmherzig – als hätte er die Tür zugeschlagen. Hat er aber nicht. Er weiß es so gut wie der Kollege im Außenamt Klaus Kinkel (FDP): „Wir müssen uns darauf einrichten. Deutschland würde wieder bevorzugter Fluchtpunkt.“

Das Feindbild Innenminister pflegt Grünen-Fraktionssprecherin Kerstin Müller: dessen „Politik der Abschottung schürt den Fremdenhaß“. Die SPD ist geteilter Meinung. Ihr Bonner Außenpolitiker Freimut Duve rügte Kanthers „fast skandalöse Bemerkung in diesem Moment der Massenvertreibung“. Kanthers baden-württembergischer Ressortkollege Frieder Birzele (SPD) indessen nahm seinerseits die Hinhaltetaktik der EU-Partner aufs Korn: „Ich halte das für unverantwortlich.“

Völlig losgelöst von der Gegenwart hat sich SPD-Sozialexperte Ottmar Schreiner. Er denkt über die Heimkehr der Bosnier nach: Für den Fall, daß Flüchtlinge frühzeitig in ihre Heimat zurückkehren, will er ihnen einen Teil der in Deutschland gezahlten Sozialhilfe nach Bosnien schicken.

Die hochmoralische Dramatik des innenpolitischen Krachs ist durch das Lagebild des UNHCR kaum gerechtfertigt. Die vielberedete neue Fluchtwelle aus Bosnien-Herzegowina nach Zentraleuropa werde „im schlechtesten Fall 50 000 Menschen“ umfassen, schätzt Stefan Telöken, Sprecher der deutschen UNHCR-Vertretung.

Die UN-Behörde hat 30 westliche Regierungen aufgefordert, für diese 50 000 vorzusorgen. Der Fall träte ein, wenn nach der serbischen Eroberung von Srebrenica und Zepa weitere Muslim-Enklaven wie Bihac oder Gorazde „ethnisch gesäubert“ würden.

Neue Vertreibungen von Muslimen nach Zentralbosnien wären nicht mehr zu verkraften. Nach UNHCR-Informationen drängen sich dort „zwischen 300 000 und 400 000 Flüchtlinge“. Der Botschafter Bosnien-Herzegowinas in Bonn, Enver Ajanovic, zählt gar „700 000 Menschen im Lande auf der Flucht“. Am schlimmsten sei die Lage in der Stadt Zenica, deren Einwohnerzahl von regulär 65 000 sich „mehr als verdoppelt“ habe. Die „heimatnahe Lösung“ des Flüchtlingsproblems, die auch Kanther als vorrangig empfiehlt, hilft nicht mehr weiter.

Ausweichen nach Kroatien ist unmöglich. Die Regierung in Zagreb zählt 385 000 Flüchtlinge im Land und „nimmt niemanden mehr auf“, berichtet der UNHCR. Derweil reißt die Schlange der Visum-Antragsteller vor der deutschen Botschaft in Zagreb nicht ab.

Nach Focus-Informationen wandern auf diesem stillen Wege weiterhin Monat für Monat Hunderte von Bosniern und Kroaten nach Deutschland ein. Sie legen Einladungen von Verwandten und Freunden vor, verbunden mit der Zusicherung, daß diese für ihren Unterhalt sorgen werden. Die Anziehungskraft Deutschlands ist ungebrochen.

UNHCR-Sprecher Telöken verweist auf „die vielfältigen landsmannschaftlichen Bindungen“ derer, die schon hier sind – allein 270 000 Vertriebene aus Bosnien, weiß die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Cornelia Schmalz-Jacobsen (FDP). Botschafter Ajanovic ergänzt: „Für uns Bosnier war Deutschland immer gleichbedeutend mit Europa. Unsere Landsleute möchten eben nicht nach Frankreich oder England gehen, aus den bekannten Gründen . . .“ – eine Anspielung auf die Kompromißpolitik Londons und Paris gegenüber den Serben.

Gegen den Fluchtpunkt Deutschland hat Frankreich überhaupt nichts einzuwenden: „Wir halten es auch für wichtig, den Betroffenen die Freiheit zu lassen, in das Land ihrer Wahl zu flüchten“, geben sich die Diplomaten am Pariser Quai dOrsay betont tolerant.

Der jüngste Treck aus der serbisch bewohnten Krajina im Südwesten Kroatiens, ausgelöst durch den Angriff der kroatischen Armee gegen die Separatisten, macht in Bonn weniger Sorgen: Die kroatischen Serben, so wird erwartet, würden Schutz bei ihren Landsleuten in Bosnien suchen.

Ob die „Lastenteilung“ in der EU vorankommt, steht derweil in den europäischen Sternen. Kanther hat auf diplomatischem Wege die spanische Regierung – derzeit in der EU-Präsidentschaft – aufgefordert, nach der papierenen Absichtserklärung des Juni-Gipfels von Cannes jetzt nicht lockerzulassen. Dankbar verzeichnet das Bonner Innenministerium „Interessengleichheit“ mit den Niederlanden und Österreich.

Über Frankreich verliert niemand in Bonn ein Wort. Der Zweibund im Kern Europas steht über allen anderen Interessen. So werden auch die Nadelstiche aus Paris – und London – mit Schweigen quittiert, die schmerzhaft an die andere Lesart europäischer Lastenteilung im Balkan-Konflikt erinnern: „Vergessen wir doch nicht, daß die französischen oder britischen Blauhelme im früheren Jugoslawien auch eine humanitäre Aufgabe haben, nämlich die Zivilbevölkerung zu schützen und zum Bleiben zu ermutigen. Das ist auch ein Beitrag zur Lösung des Flüchtlingsproblems.“

Bertolt Brecht, frei übersetzt : Stell dir vor, es ist Krieg in Europa, und die Deutschen gehen nicht hin. Trotzdem kommt der Krieg zu ihnen – in Gestalt Hunderttausender Flüchtlinge.



RECHTSSTATUS: Die meisten der rund 350 000 Flüchtlinge werden gemäß Ausländergesetz „geduldet“. Das entspricht einem zeitweiligen Schutz vor Abschiebung, nicht aber einer Aufenthaltsbefugnis. Sie dürfen das jeweilige Bundesland nicht verlassen.

Etwa 16 Prozent der Flüchtlinge erhielten eine Aufenthaltsbefugnis, nachdem Verwandte, Bekannte oder Kirchengruppen den Lebensunterhalt garantiert hatten.

Nur rund 15 Prozent haben Asyl beantragt. Wegen des Bürgerkriegs lassen die Behörden die Anträge meist ruhen.

Knapp fünf Prozent, überwiegend Opfer serbischer Gewalttaten, bekamen als „Kontingentflüchtlinge“ eine Aufenthaltsbefugnis.

SOZIALE LEISTUNGEN: Flüchtlinge haben Anspruch auf Sozialhilfe (Regelsatz 519 Mark für Ledige, 1270 Mark für Ehepaare mit einem Kind, zuzüglich Wohnung). Asylbewerber erhalten im ersten Jahr 20 Prozent weniger, vorrangig als Sachleistungen.

Kinder- und Erziehungsgeld gibt es nur bei Aufenthaltserlaubnis.

Arbeitserlaubnis (jeweils auf ein Jahr befristet) erhalten „Geduldete“ nur, wenn für die Stelle kein Deutscher zur Verfügung steht.

NEUE GESETZESPLÄNE: Gesundheitsminister Horst Seehofer plant ein „Ausländerleistungsgesetz“: Danach sollen die um 20 Prozent gekürzten Sozialhilfesätze für alle Kriegsflüchtlinge gelten.

KRIEGSFLÜCHTLINGE AUS EX-JUGOSLAWIEN

Kompliziert: Die Aufnahmezahlen der europäischen Staaten (Deutschland: 350 000) umfassen die Flüchtlinge aus dem gesamten Krisengebiet. Die deutschen Bundesländer nennen nur die Zahl bosnischer Flüchtlinge. Wegen der Unterschiede bei deren Rechtsstatus (siehe unten) weicht die Summe der Länderzahlen (300 497 nur aus Bosnien) von Angaben des Bundes (270 000 Bosnier) ab.


Mehr Doku, mehr Deutschland in der großen PPQ-Serie

6 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Türkei : die Kanacken haben sich heute mit den Russen angelegt - es gibt doch einen Gott .

Anonym hat gesagt…

Danke ppq, daran habe ich auch nicht mehr gedacht. Man lässt sich von dem was heute als wichtig erscheint ablenken. Damals wurde auch noch abgeschoben. Mir ist erinnerlich was es für ein Theater gab, als ein Schulkamerad meiner Tochter mit Familie zurückgeführt werden sollte. Alle prima integriert, Abi gemacht hat der Junge, sprechen alle gut doitsch in der Familie, wie kann man nur. Da meint man vernünftig erzogen zu haben, um dann von 15Jährigen angefeindet zu werden weil man dem Ansinnen eines dauerhaften Bleiberechts nicht mit Unterschrift zustimmt. Die Kirche, der KPD Zauselbart von der Lehrergewerkschaft, alle gingen steil. Zu schlechter Letzt hat sich der Gesamtschullehrer, nun in Bürgermeisterfunktion, für ein Bleiberecht durchsetzen können. Ein Jahr später sind die dann freiwillig zurück. Möge es ihnen dort gutgehen. Zwei Jugos in einer 78.000 Stadt sollten als Hirtenspieß Bräter ausreichen.
Nebenbei möchte ich erwähnen dass ich seit gestern aktives Pack bin. Durch meine aktive Pegida Teilnahme in Dresden. Ich habe mich mit einem Polizisten um die dreißig unterhalten. Über seine Überstunden, wie es um die Familie steht und so weiter. Glücklich war er nicht gerade. Wenn man das Häuflein Gegendemonstranten in einen anderen Stadtteil verbannt hätte wären als Polizeischutz die vier Damen auf Pferd ausreichend gewesen. Apropos auf Pferd. Zwei von denen waren so fett, dass sie die Strecke niemals zu Fuß bewältigt hätten. Frauen an die Macht. Macht in diesem „Staat“ wohl auch nichts mehr. Hauptsache Quote. Auf jeden Fall möchte ich nicht unerwähnt lassen das bei den Pegida Leuten gewallt bereite waren. Die sind mir sofort aufgefallen. Menschen die an Krücken gingen und Rollstuhlfahrer.
Dresden ist für die BRD vermutlich verlorenes Gebiet. In neun Stunden fragte mich nur ein Neger, andere waren nicht zu sehen, vergeblich nach einer Auskunft in der Besatzersprache. Ölaugen konnte ich keine Zehn zusammen bekommen. Das in einer Stadt mit 540.000 Einwohnern. Da ich aus dem Kalifat Kraft einreiste, war das für mich eine Zeitreise die mich um mehr als dreißig Jahre zurückbrachte. Ich muss eingestehen, es gefiel mir sehr.

Soweit meine ersten Eindrücke aus Sachsen mit aktuellen Standort Görlitz.

Viele Grüße vom Preußen
Reichsabschnittsbeobachter, Abschnitt Mitte

Anonym hat gesagt…

Wenn mein schwacher Verstand sich nicht irrt, so wären "Gegendemos" gleichzeitig am gleichen Ort ohnehin sozusagen gewissermaßen eigentlich verboten.

Zonendödel

sie ist wieder weg hat gesagt…

"Morgen kommt eine Uhr. Morgen. Uhr kommt." - "Wieso kommt eine Uhr?"

Was sind schon 20 Jahre.

Anonym hat gesagt…

@ sie ist wieder weg:
Jaja, schon gut.
An deren Stelle hätte ich Kohlenmonoxid verwendet, als welches in Mono(!)witz gar reichlich verfügbar war, statt dieses sündhaft teuren Cyanids auf Granulatbasis. Hätte auch nicht solche häßlichen blauen Flatschen im Mauerwerk hinterlassen.

Anonym hat gesagt…

re anonym:

Sie sind ein schlimmer Mordbube und Ihr Name ist Eichmann. Mir graut vor Ihnen. Sieht so Integration aus? Anonym, Ihr Name ist Unmensch. Auweia, hihi. So eine Textilreinigung hat schon etwas Gutes...