Montag, 30. April 2018

Der Atomtod ist verfassungsmäßig

Es war im Frühling vor acht Jahren, als den Bundestag der Hafer stach. Mit großer Mehrheit beschloss das Hohe Haus, den Abzug der letzten noch verbliebenen US-Atomwaffen aus Deutschland zu fordern. Mit Ausnahme der Linken, die gnatzig war, stimmen alle Fraktionen zu, die Bundesregierung aufzufordern, die USA "mit Nachdruck" darauf hinzuweisen, dass Deutschland keine nuklearen Waffen bei sich stationiert haben mag. Auch die Bundesregierung schloss sich später an: Die Bundesregierung unterstütze das Ziel einer Welt ohne Atomwaffen.

"Womöglich auf deutschem Boden"


Doch bei amerikanischen Nuklearsprengköpfen auf deutschem Boden handelt es sich nach Auffassung der Bundesregierung offiziell nur um "Waffensysteme, die womöglich sich auch auf deutschem Boden befinden könnten". Eine Möglichkeit, die offiziell nie bestätigt worden ist, nicht einmal nach dem Ende der 4+2-Gespräche, deren Ergebnis Deutschland in die volle Souveränität entließ. Die aber eben gerade nur bis an den Zaun der amerikanischen Kasernen in Deutschland reicht.

Erwartbar, dass auch das Bundesverfassungsgericht  (BVG) daran nichts andern kann. Es hat jetzt eine Verfassungsbeschwerde gegen die Stationierung US-amerikanischer Atomwaffen auf dem Fliegerhorst Büchel im Landkreis Cochem-Zell in Rheinland-Pfalz mit seinem Beschluss 2 BvR 1371/13 zurückgewiesen, weil die Beschwerdeführerin nicht angeführt haben, wieso diese Atomwaffen einen Eingriff in ihre Grundrechte darstelle. Genauso wenig sei eine Verletzung grundrechtlicher Schutzpflichten durch den Staat zu erkennen.

Eine interessante Argumentation, denn was auch immer Spatzen von den Dächern pfiffen:  Die in "Deutschland gelagerten Nuklearwaffen sowie ihre Lagerorte unterliegen aufgrund von Abkommen und einschlägigen Bestimmungen der Geheimhaltung", argumentierten alle Bundesregierungen bis heute. Anfragen und Behauptungen zu Lagerorten oder dem Umfang der gelagerten Waffen wurden deshalb offiziell nie bestätigt.

Illoyal zur Staatsräson


Das leistet nun das BVG in einem beispiellosen Akt der Illoyalität zur deutschen Staatsräson. Zu den Aufgaben der in Büchel stationierten Truppen gehöre "vor allem die Verwahrung, Bewachung, Wartung und Freigabe der dort im Rahmen der innerhalb der NATO vereinbarten nuklearen Teilhabe gelagerten Atomwaffen", lüftet das BVG ein Staatsgeheimnis. Nur um der Beschwerdeführerin, die 3,5 Kilometer vom Fliegerhorst Büchel entfernt wohnt, anschließend zu bescheinigen, dass deren Besorgnis,  terroristischen Angriffen auf den Fliegerhorst in besonderer Weise ausgesetzt zu sein, keinen Anlass hat.

Die Frau hatte argumentiert, dass allein schon das Vorhandensein der Nuklearwaffen gegen Prinzipien des humanitären Völkerrechts, das eine rechtswidrige Kriegsführung verbiete. Aus Art. 25 und 26 des Grundgesetzes wollte die Frau ihr Recht ableiten,  vom Staat verlangen zu können, von deutschem Boden aus keine rechtswidrige Kriegsführung zu planen. Deshalb sollte das Verwaltungsgericht Köln die Bundesregierung verurteilen, gegenüber den USA darauf hinzuwirken, auch die angeblich letzten in Deutschland gelagerten Atomwaffen abzuziehen.

Einen kleinen Justizmarathon später ist die Klägerin nun vor dem BVG gelandet. Das Kölner Gericht hatte ihre Klage verworfen, das Oberverwaltungsgericht urteilte, dass die Vorbereitung eines Nuklearkrieges keinen Verstoß gegen allgemeine Regeln des Völkerrechts darstelle. Die  von der Beschwerdeführerin gefürchteten möglichen terroristischen Handlungen hingegen seien der Bundesrepublik Deutschland nicht zuzurechnen, von dieser "nur begrenzt vorherzusehen" und schwer zu verhindert.

Keinerlei Verfügungsgewalt


Kritik klingt hier an, weil schon das OVG stillschweigend davon ausgeht, dass die Bundesregierung keinerlei Verfügungsgewalt über die Atomwaffen hat. Spannender aber wird es nicht. Das BVG lehnte die eingereichte Klage nun endgültig mit ähnlicher Begründung als unzulässig ab, weil die von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Gefahren keinen Grundrechtseingriff darstellten. Ein solcher setze voraus, dass der Staat einen Schaden als für ihn vorhersehbare Folge zumindest in Kauf nehme und die Möglichkeit habe, ihn zu verhindern. Aber, so das Gericht: "Ist er aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen gehindert, auf den Geschehensablauf Einfluss zu nehmen, kann ihm dieser verfassungsrechtlich nicht als Folge eigenen Verhaltens zugerechnet werden."

Die Bundesregierung nun ist, auch wenn das in der Berichterstattung der Leitmedien ein bisschen untergeht, eben nicht in der Lage, auf den Geschehensablauf Einfluss zu nehmen". Damit endet, so das BVG, "die Verantwortlichkeit der an das Grundgesetz gebundenen öffentlichen Gewalt, und damit auch der Schutzbereich der Grundrechte, dort, wo ein Vorgang in seinem wesentlichen Verlauf von einer fremden Macht nach ihrem, von der Bundesrepublik Deutschland unabhängigen Willen gestaltet wird."

Ein Staat ohne  Eingriffsmöglichkeit


Kurz gesagt: Ein Staat, der nicht die Möglichkeit hat, die US-Regierung zum Abzug ihrer Atomwaffen zu veranlassen, und auch nicht die, Terroristen von Anschlägen auf  seine Bürger abzuhalten, ist nicht verantwortlich dafür, wenn Terroristen diese Atomwaffen womöglich wirklich zum Ziel erklären würden.

Auch die von der Beschwerdeführerin in ihrer Klage genannten Normen des humanitären Völkerrechts, etwa das Gebot, zwischen Soldaten und Zivilbevölkerung zu unterscheiden, ändern an der Ablehnung nicht. Diese Vorschrift schütze "Personen, die unmittelbar mit Kampfhandlungen konfrontiert sind", schreibt das BVG, "das ist bei der Beschwerdeführerin offenkundig nicht der Fall."

Link zum Ablehnungsbeschluss

Meinungsfreiheitsschutz: Zu Besuch in der Hassmeldestelle

Wenn Herrnfried Hegenzecht morgens zur Arbeit kommt, dann ist das Postfach meistens voller Anzeigen, die sie hier beim Bundesblogampelamt (BBAA) im mecklenburgischen Warin ganz harmlos "Tickets" nennen. Ein „Ticket“, das ist ein Arbeitsauftrag: Jemand hat im Internet etwas Auffälliges entdeckt, ist davon verunsichert, fühlt sich in seinen Gefühlen verletzt oder glaubt, andere könnten in ihren Gefühlen verletzt werden - und Herrnfried Hegenzecht, seit inzwischen acht Jahren Chef des BBAA und gemeinsam mit dem früheren Bundesjustizminister Heiko Maas Initiator der Hassmeldestelle bei der Meinungsfreiheitsschutzabteilung des BBAA, der muss sich nun mit der Anfrage auseinandersetzen. 

Die Fragen, mit denen er es zu tun hat, ähneln sich meistens: Ist das eigentlich legal, wenn jemand auf Twitter über Flüchtlinge schreibt? Kann man jemanden belangen, der in einem sozialen Netzwerk ein Bild teilt, auf dem Inder Schachteln mit Hakenkreuz-Aufdruck in die Kamera halten? Und ist ein Posting, in dem Deutschland höhnisch als „Allahs Paradies“ bezeichnet wird, nicht fremdenfeindlich und rassistisch? Wie, fragt sich Hegenzecht dann, bekommen wir das aus dem Netz? Und welche Strafmaßnahmen lassen sich gegen den Urheber einleiten?

Ernste und akute Fälle


Herrnfried Hegenzecht wird es im Tagesverlauf entscheiden. Normalerweise sortiert er zuerst alle Anzeigen aus, bei denen er keine Chance auf Erfolg sieht. Die ernsteren und akuten Fälle, bei denen der studierte Grundschullehrer den Verdacht hat, es könne sich um Hetze, Hass oder Zweifel handeln, wenn auch zuweilen verpackt in eine angebliche "Satire", wird am Nachmittag über eine automatische Schnittstelle zu den Profis der Cybereinheiten des Staatsschutzes weitergeleitet. Intern nennen Hegenzecht und seine Mitarbeiter die Kolleginnen und Kollegen dort die "Mouse-Police", "ein Scherz nach einem alten Jethro-Tull-Song", grinst der höchste deutsche Meinungsfreiheitsschützer.

Für ihn sieht jeder Tag hier im offiziell inzwischen "Demokratiezentrum" genannten Herzkammer der deutschen Meinungsfreiheitsaufsicht so aus: Hass sichten, Hass einordnen, dann dagegen vorgehen. Oder auch nicht; weil zwar der Verdacht besteht, eine Äußerung im Netz könne meinungsfreiheitsfeindlich sein. Deutsche Gesetze aber im Augenblick noch nicht ausreichen, wirksam dagegen vorzugehen.

Herrnfried Hegenzecht, ein kleiner, runder Mann mit von den langen Bürotagen unreiner Haut, arbeitet stehend an einem Pult tief unten in den Kellergewölben des BBAA. Kein Sonnenstrahl reicht hierher, damit die sieben Bildschirme, auf denen eine endlose Parade an Verdachtsfällen an ihm vorbeiparadiert, gut zu erkennen ist. Hegenzecht hat gerötete Auge, hin und wieder muss er sich Feuchtigkeitstropfen geben. Das Licht der Neonröhren fällt ihm in den Rücken und er sagt: „Ich bin keine Ermittlungsbehörde. Meine Arbeit könnte theoretisch jeder an seinem Schreibtisch verrichten. Jedenfalls, sofern er bereit ist, sich in die Thematik einzuarbeiten.“

All der ganze Schund


Doch wer will das schon. All den Schund lesen, die Ausfälle, das Gemecker. Hegenzecht, der vor seiner Arbeit beim BBAA lange arbeitslos war, begann als Freiwilliger, in Kommentarspalten und Foren nach Meinungsgängstern zu suchen. "Ich habe nicht mehr ertragen, was dort gehetzt wurde", erinnert er sich an eine Zeit, als es Facebook noch nicht einmal gab. dann kam die Bundesregierung auf ihn zu und beauftragte ihn, eine Anlaufstelle zu gründen, bei der jeder Hass im Internet melden kann. Der Beginn des BBAA, das heute mehr als 7.000 Mitarbeiter zählt - nicht mitgerechnet die Zeitarbeiter von Arvato, einem früheren Groschenheftverlag, der heute hunderte Volunteers beschäftigt, die Verstöße gegen den Meinungsfreiheitsschutz ahnden.

Wer in Deutschland etwas Vergleichbares sucht, der wird nichts finden. Hate Speech und der Aufruf zu Straftaten, unappetitliche Satire, fragwürdige Bildchen, krude Witze - damit die Betreiber sozialer Medien und die Polizei nur auseinandersetzen, wenn jemand ihnen einen Tipp gibt. Das BBAA dagegen sucht proaktiv nach Meinungsverbrechern und entscheidet dabei in eigenem Auftrag, was legal ist und was illegal. "Was wird warum gelöscht und was strafrechtlich weiterverfolgt?", beschreibt Hegenzecht, "das ist die Frage, die wir uns täglich tausendfach stellen."

Das verändert den Charakter, darüber ist sich der 56-Jährige klar. "Man schaut anders auf die Welt, wenn man tagsüber im Hass badet", gesteht er. Das "Pack", wie sie es hier nach einem entschiedenen Satz des früheren SPD-Politikers Sigmar Gabriel nennen, schläft nicht, es schläft nie. Und wer immer auf Facebook, Twitter oder sonst wo im Internet einen Inhalt findet, den er für bedenklich hält, landet bei der Hassmeldestelle - unter der etwas umständlichen Internetadresse www.hassmeldestelle-bbaa-warin-respect.de. Das System hat den Vorteil, dass der aufmerksame und um die Meinungsfreiheit besorgte Bürger eine eventuelle Anzeige nicht selbst stellen muss. Dadurch ist er geschützt, denn ein Mensch, gegen den eine Anzeige vorliegt, erfährt über seinen Anwalt oft die Anschrift des Anzeigenden und würde, bei der Psychostruktur der meisten Hetzer hält Hegenzecht das für ausgemacht, vermutlich weitere Hassbomben auf den Betreffenden werfen.

Gesetze sind eindeutig


Herrnfried Hegenzecht ist eigentlich Lehrer, auch wenn er in seinem Beruf nie gearbeitet hat. Sein wichtigstes Hilfsmittel ist ein zerlesenes Strafgesetzbuch. „Mit etwas Übung kann man leicht damit umgehen. Die Gesetzestexte sind im Bezug auf viele Fälle relativ eindeutig“, sagt er. Paragraf 86a ist derjenige, auf dessen Basis der BBAA-Chef bis heute tausende Anzeigen gegen die angeblichen Inder formuliert hat, die das Foto mit den Hakenkreuz-Pin-ups ins Netz gestellt haben. "Das Vergehen ist eindeutig, denn das Zeigen von Hakenkreuzen in der Öffentlichkeit ist nun einmal verboten", sagt er. Dass die Urheber sich auf indisches Recht berufen werden, greife nicht. "In Deutschland gilt deutsches Recht."

Schwieirger sind die Fälle aus der Grauzone, mit denen das BBAA immer öfter zu tun hat. "Wenn jemand weiß, was er sagen darf und was er sich lieber verkneifen muss, dann geht ziemlich viel als Meinungsfreiheit durch", klagt Hegenzecht. Strafrechtlich mache es zum Beispiel leider immer noch einen Unterschied, ob jemand andere Menschen mit dem Tod bedroht oder nur schreibt, dass man da mal was machen müsste. "Jeder weiß, was gemeint ist, aber wir können nichts tun." Oft ist das Absicht, ein Versuch, die Arbeit des BBAA zu boykottieren. Eine Strategie, die oft verfängt: „Wenn man merkt, dass Menschen so gerissen argumentieren, dann weiß man als erfahrender Meinungsfreiheitsschützer, dass man da mit Hetzern zu tun hat, die fast schon professionell agieren."

Grenzen der Meinungsfreiheit


Herrnfried Hegenzecht ist sich darüber bewusst, dass seine Arbeit von der Allgemeinheit finanziert wird, die entsprechende Ergebnisse erwartet. Nicht alles aber könne gleich gelingen, argumentiert er, der nicht jeden Tag in sein Büro fährt. Hegenzecht ist auch viel unterwegs, er hält Vorträge, besucht Schulen, belehrt über die Grenzen der Meinungsfreiheit. Oft helfe es schon, wenn Kindern und Jugendlichen klar werde, dass die Polizei einen finden kann, wenn man Zweifelhaftes postet. Dank Netzwerkdurchsetzungsgesetz sei die Arbeit in den vergangenen Monaten schon ein bisschen weniger geworden, sagt Herrnfried Hegenzecht. Fragwürdige Beiträge verschwänden oft schneller, andere würden offenbar gar nicht erst geschrieben. Flächendeckend sei das aber keineswegs der Fall. "Da muss noch was passieren."

Aber das reine Löschen eines Beitrags ist ohnehin nicht das primäre Ziel der Meldestelle, sondern die Strafverfolgung. "Strafe einen, erziehe Tausende", zitiert Hegenzecht einen Grundsatz seiner Arbeit. Wenn etwas zu schnell gelöscht ist, dann kann das sogar kontraproduktiv sein: „Das ist dann manchmal, als hätte es den Verstoß gar nicht gegeben."


Sonntag, 29. April 2018

Zitate zur Zeit: Karl-Eduards sanfter Erbe

Franz Josef Wagner wäre, hätte die Weltgeschichte einen Purzelbaum mehr geschlagen, der Karl-Eduard von Schnitzler eines wiedervereinigten, aber sozialistischen Deutschland geworden. Ohne die eifernde Wut des roten Hof-Propagandisten, der 1960 das Wort "Gefährder" erfand, beweist der Bildkolumist in seinen Kurzkommentaren zur Lage der Nation seit Jahren, dass ein Hetzer reinsten Wassers auch mit der Seele eines betrunkenen Poeten ausgestattet sein kann. Wagner, irrlichternd und auf das Deutsch eines schwäbischen Rappers vertrauend, schreibt Briefe, nun, eher Postkarten, in denen er mal das Wetter anspricht, mal den Planeten, mal die Sonne und mal Opfer von Unfällen.

Jetzt hat der Mann von Seite 2 an die Bundeskanzlerin geschrieben, vermeintlich. Adressiert aber ist der Brief an den US-Präsidenten, der ihn wohl auch sofort gelesen hat. Die Stelle, an der Wagner behauptet, Angela Merkel werde sich nicht von Trump küssen lassen, hat dann umgehend den Ehrgeiz des "Irren" (FR) angestachelt. Er küsste die Kanzlerin.

PPQ dokumentiert den poetischen Auslöser der transatlantischen Liebesaffäre in der zeitgeschichtlichen Reihe "Zitate zu Zeit".

Liebe Bundeskanzlerin,

Sie sind nicht der Typ Frau, mit denen Donald Trump Umgang hat. Donald Trump ist ein Anfasser, Protzer. Frauen wie Sie, die vernünftige Schuhe tragen, kennt er nicht.

Die Frauen von Donald Trump waren alle Models, Schauspielerinnen. Eine Frau wie unsere Bundeskanzlerin kennt er nicht. Sie ist eine Gehirnfrau. Sie spielt nicht Golf und verabredet sich nicht in Hotelzimmern. Sie ist von Trumps Welt so weit entfernt wie wir vom Mars.

Beim heutigen Arbeitstreffen sollen sie sich die Hand geben, aber mehr nicht. Ein Küsschen wäre schon eine Belästigung. Meine Kanzlerin lässt sich von ihrem Ehemann küssen. Aber nicht von Donald Trump. Unsere Kanzlerin ist keine Schönheitskönigin.

Es gibt so viele Schönheitsköniginnen. Wir Deutschen können stolz sein, dass wir eine Kopf-Königin haben.

Herzlichst Ihr

Franz Josef Wagner

Die Selektionäre: Sie suchen den Nachwuchs für Deutschland aus

Es war eine Nachricht, die viele nach der abrupten Wende der deutschen Flüchtlingspolitik schwer gewordene Gewissen erleichterte: Im Rahmen eines neuen EU-Umsiedlungsprogramm, so versprach die Bundesregierung, werde Deutschland weitere 10.200 Flüchtlinge aufnehmen. Vielleicht nicht das, was sich viele Bürgerinnen und Bürger von ihrem Land gewünscht hatten, dem es seit dem Flüchtlingszustrom von 2015 nachgewiesenermaßen so gut geht wie noch zuvor. Aber doch immerhin ein symbolischer Schritt, der Deutschland erneut als führende moralische Macht in einer zunehmend egozentrisch und brutal auf den eigenen Vorteil orientierten Welt präsentiert.

10.200 ist allerdings, das war den Verantworlichen in Berlin schnell klar. Als Obergrenze gilt diese Zahl selbst der CSU als zu niedrig, Linke, CDU, SPD und Grüne würden sie vielleicht als Tageszahl anerkennen, nicht aber als Gesamtgröße für ein Land,d as mit 82,67 Millionen Einwohnern Vermutungen zufolge so bevölkerungsreich ist wie nie zuvor.

Auswahl für Umsiedlungsprogramm


Nun gelte es, die mehrere tausend Flüchtlinge, die im Zuge des Umsiedlungsprogramms für besonders Schutzbedürftige auf direktem Weg nach Deutschland kommen dürfen, entsprechend klug und weitsichtig auszusuchen. Zu diesem Zweck sind bereits vor Verkündung des Resettlements Teams aus Ärzten, Polizisten, Mitarbeitern der Arbeitsämter und Beamten des Bamf nach Nordafrika und dem Nahen Osten reisen, um dort mit der Selektion der Glücklichen zu beginnen, die künftig in Deutschland leben dürfen. PPQ-Reporter hatten Gelegenheit, als sogenannte "embedded journalists" an der Reise teilzunehmen. Amania Tukür, eigentlich Teamleitin Socialmedia hier beim Mitmachboard, kabelte inzwischen den ersten Bericht aus Thyna, einer Stadt im früherenUrlaubsland Tunesien, in der eines der ersten EU-Umsiedlungszentren arbeitet.

PPQ dokumentiert ihre herzergreifende Reportage über den schweren Job der 47 deutschen Spitzenbeamten, Mediziner und Verwaltungsangestellten, die über Schicksale entscheiden.


An der Rampe ist gar kein Gedränge mehr. Diszipliniert stehen die Menschen in einer Reihe, geduldig, fatalistisch fast, obwohl die tunesische Sonne auch an diesem ersten Morgen der Resettlement-Mission erbarmungslos vom Himmel brennt. Es ist grausam. daran zu denken, dass nur 90 von den Männern, Frauen und Kindern, die in der Schlange vor der Medizinbaracke von Camp Gustav stehen, ihren Traum werden leben können, künftig in Deutschland zu wohnen und zu arbeiten. 90, das ist die magische Zahl, ein erster Schwung, wie der leitende Arzt Horst Egster scherzhaft sagt. Weitere 1.110 Menschen werden später nachkommen, ausgesucht von weiteren Selektionskommissionen, die in den kommenden Wochen im Auftrag der Bundesregierung in ganz Nordafrika nach besonders schutzbedürftigen Menschen suchen werden, um sie mitzunehmen nach Norden, dorthin, wo Integration nicht nur ein Wort, sondern gelebte Wirtklichkeit ist.

Experten für exotische Krankheiten


Egster und seine Mitarbeiter, Fachleute allesamt, zum Teil für Altersfeststellung, zum Teil für exotische Krankheiten, aber auch für bestimmte gefragte Handwerksberufe, Sprachen und Intelligenztests, sind die ersten deutschen Abgesandten, die hierher nach Tunesien gekommen sind. Alles ist Neuland, was sie betreten. Selbst die Auswahlverfahren, nach denen entschieden werden muss, wer verdient hat, aus der Hoffnungslosigkeit der brennenden afrikanischen Sonne erlöst zu werden, sind noch neu und unerprobt.

Klar ist nur, es gibt ein Punktesystem, an das sich die von Geflüchtetetnhilfeorganisationen mistrauisch beobachteten Vertreter der Bundesregierung halten müssen. Sie tun das, obwohl ihnen bei der Ankunft neben warmem Applaus auch Hass entgegenschlug. Mehrere Aktivisten aus Berlin, Saarlouis und Bremen hatten sich am Tor festgekettet, durch das der deutsche Selektionsbus fahren musste. Sie protestierten gegen die Absicht der EU, nur handverlesene Geflüchtete mitzunehmen. "Kein Mensch ist illegal", hieß es auf mitgebrachten Transparenten, aber auch "Offene Grenzen für alle".

Petra S., die eigentlich anders heißt, aus Angst vor Übergriffen nach ihrer Rückkehr nach Deutschland aber nicht mit vollem Namen genannt werden möchte, hatte anfangs selbst Probleme, "eine Haltung zu der Sache zu finden", wie sie sagt. Flüchtlingen helfen, das sei immer richtig, so ihre Ansicht. Aber auswählen müssen, wem geholfen wird? "Ich? Mit welcher Autorität denn?", fragt sie sich selbst immer wieder.

Erst als klar war, dass die große Koalition in Berlin der Selektionskommission klare Regeln mitgegeben hat, über die Petra S. allerdings nicht öffentlich sprechen darf, gab sie sich einen Ruck. "Einer muss es ja machen", sagt sie. Zudem werde kollektiv entschieden, ihr Votum sei nur eins unter mindestens zehn. "verteilte Verantwortung macht das Entscheiden leichter", gestehe die 44-jährige, die normalerweise als Einarbeitungshilfe bei einer Handwerkskammer in Süddeutschland arbeitet.

Der Job an der Rampe, er ist doch nochmal etwas anderes, das hat auch Robert M. gleich bemerkt. "Zwar wähle ich nur grob aus", beschreibt er sein Seelenleben, "aber der, den ich wegwinke, hat ja gar keine Chance mehr." Auch M., der die Menschen ganz vorn in der Reihe die Münder aufsperren lässt, um den Zahstatus zu überprüfen ("klar, dass man verhindern will, dass da in Deutschland erstmal teure Sanierungsmaßnahmen nötig sind"), leitet die Hoffnungen nur weiter. Und bei anderen zerstört er sie.

Willkommenskultur nach Nase


Aus der großherzigen Zusage der Bundesregierung an EU-Migrations- und Innenkommissar Dimitris Avramopoulos, die der über die Zeitungen der sogenannten "Funke Mediengruppe" bekannt machte, wird so eine seelisch belastende Tätigkeit, die die deutsche Delegation in Tunesien zwingt, eine Willkommenskultur nach Nase zu inszenieren, wie es M. nennt. 

Weil aus anderen EU-Mitgliedstaaten nur Zusagen für die Aufnahme von 40.000 Flüchtlingen vorliegen und Deutschland seine Obergrenze völlig willkürlich und ohne jede Rechtsgrundlage auf 10.200 festgelegte habe, könne das "Resettlement-Programm" nur einen kleinen Teil der vielen Millionen Menschen, die in Afrika auf der Flucht sind, retten.

"Die deutsche Regierung ist erneut zur Stelle, wenn es um internationale Solidarität geht", lobte der EU-Kommissar. "Manche Vorgaben zur Auswahl, die wir bekommen haben, sind widersprüchlich", kritisiert Petra S. Einerseits dürften nur Menschen ausgewählt werden,  die besonders schutzbedürftig sind. Andererseits solle nur denen ein direkter und sicherer Weg nach Europa geöffnet werden, die Deutschlands demografisches Problem lösen helfen wollen.

Mit 90 Schutzbedürftigen im Gepäck wird die erste deutsche Selektionsmission  Anfang Mai nach Deutschland zurückkehren. Bis Herbst 2021 sollen dann mehrere Dutzend weitere Auswahlkommissionen Flüchtlinge bis zur Obergrenze von 10.200 vor allem aus Nordafrika holen und in Deutschland ansiedeln. Die EU unterstützt die Aufnahmeländer mit der Zahlung einer Ansiedlungsprämie von 10.000 Euro pro umgesiedelten Flüchtling.

Samstag, 28. April 2018

HFC: Das letzte Derby als chinesische Wasserfolter

Beim HFC stehen die Zeichen auf Abschied. Und niemand weint.
Rico Schmitt sitzt auf der Bank. Der HFC-Trainer, der sonst immer durch die Coachingzone tigert, kaut Kaugummi und textet seinen Co-Trainer Mario Kämpfe zu. Es ist vorbei, erledigt, überstanden. 70 Minuten im Derby gegen den 1. FC Magdeburg sind gespielt, es steht diesmal 0:2, nicht wie zuletzt im Pokal nur 0:1. Aber besser gespielt hat die Mannschaft des in drei Woche aus halle scheidenden Sachsen, beinahe wäre es fast möglich gewesen, gegen die von den Aufstiegsfeiern müden Magdeburger doch mal mehr zu holen als ein tröstendes Schulterklopfen.

Aber dann ist es wieder, wie es immer ist, seit Schmitt den HFC coacht. Zwar zeigen die Rot-Weißen gegen den frischgebackenen Aufsteiger aus der Landeshauptstadt mehr Einsatzwillen als im Landespokal. Es gibt für die knapp über 6000 Zuschauer sogar eine spielerische Überlegenheit zu besichtigen, die sich in einigen vielversprechenden Offensivaktionen entlädt. Aber ob Lindenhahn, Gjasula, Manu oder Fetsch, die Chancen sind da, aber irgendein Magdeburger Bein ist immer zwischen Abschluss und Torerfolg.

Das letzte Derby für vermutlich sehr lange Zeit krankt an den Gebrechen, die den HFC seit der Zeit vor dem Abschied von Sven Köhler begleiten. Wie nach einem Muster gestrickt, das zumindest die halleschen Zuschauer auf den Tribünen kennen, geschieht auch heute wieder dasselbe: Der von Toni Lindenhahn angetriebene HFC spielt, engagiert sogar, mit sichtlichem Willen, wenigstens heute ein versöhnliches Ergebnis zu liefern. Der FCM dagegen tut nicht viel, schießt aber dennoch das erste Tor. 31. Minute, Türpitz verlädt Schilk, Pass nach innen, Tom Müller macht die Beine breit, Lohkemper schiebt aus Nahdistanz ein.

Ein Nackenschlag, der inzwischen zur HFC-Routine gehört. In 19 von 35 Saisonbegegnungen geriet der HFC bis hierhin in Rückstand, Lohkämpers Führungstor für Magdeburg macht die 20 voll und bedeutet rein statistisch gesehen schon nach einer halben Stunde, dass alle Messen gelesen sind, denn einen Rückstand zu drehen, gelang Schmitts Elf bis hierher äußerst selten.

Aber sie mühen sich. Im Mittelfeld hat der HFC ein Übergewicht, in Strafraumnähe sogar mehr Ballberührungen als Magdeburgs Verteidigung. Allein auch heute hilft es nicht, weil Lindenhahns gute Ecken nie einen eigenen Mann erreichen, Landgrafs platzierter Freistoß von rechts zu wenig Geschwindigkeit hat, Fetsch vorbeiköpft und Gjasula einmal mehr zeigt, dass er auch kein Stürmer ist.

Hängende Schultern auf dem Rasen, wegwerfende Gesten auf den Rängen. Magdeburg tut eigentlich nichts, macht aber kurz vor der Halbzeit beinahe noch das zweite Tor, als Türpitz einen Freistoß auf Müllers Kasten zieht, den der HFC-Keeper gerade noch am Einschlag hindern kann.

Wäre das Wetter nicht so schön, es wäre ein fürchterlicher Nachmittag. Trotz aller Bekundungen der Magdeburger, das sportlich bedeutungslose Spiel in Halle ernst nehmen zu müssen, weil man unbedingt noch Drittliga-Meister werden wolle, wirkt der Auftritt der Blauweißen zu keinem Zeitpunkt, als würden sie sich ein Bein ausreißen. Sie spielen ihr Spiel, mehr routiniert als leidenschaftlich. Und sie setzen die Waffen ein, die sie haben: Fünf Minuten nach der Halbzeit lassen sie den HFC kommen, Manu und Fetsch sind auch zweimal recht nahe dran an der Möglichkeit, den Ausgleich zu machen. Dann ist es Costly, der in einer Wiederholung der Szene vom 0:1 flankt und am langen Pfosten Lohkemper findet, der ohne jede Mühe zum zweiten Mal trifft.

Wie all das geschehen kann, nicht einmal, sondern immer wieder, eine Qual, vergleichbar der chinesischen Wasserfolter, wird für immer ein Geheimnis bleiben. Seit zwei Jahren trainieren diese Männer zusammen, seit zwei Jahren schleift ihnen ihr Coach in wissenschaftlich geplanten Trainingseinheiten Routinen ein, die das Zusammenspiel automatisieren sollen. Bei den Magdeburgern, deren Trainingsplan derselbe Sportwissenschaftler ersonnen hat, ist zu sehen, wohin das führen kann. Beim HFC auch.

Ohne Luft auf den Reifen und ohne Lust auf eine wenigstens teilweise Rehabilitation taumelt Rico Schmitts auseinanderfallende Elf in die Zielgerade ihrer gemeinsamen Zeit. Zweimal noch müssen sie sich und den verbliebenen Fans das antun. Zweimal noch lange Gesichter zum müden Spiel und anschließend Kommentare, die nach Überdruss klingen.

Wer nach Schmitts überraschender Erfolgsserie zwischen Anfang März und Anfang April zweifelte, ob der Mann im roten Poloshirt nicht vielleicht doch noch eine Chance verdient hätte, sollte es jetzt besser wissen.


Zitate zur Zeit: Keine Chefin einer Eisdiele


Andrea Nahles kann man schon mal eisschleckend durch Andernach laufen sehen, aber niemand traut ihr zu, auch nur eine Eisdiele zu führen."

Brigitte Seebacher-Brandt über Andrea Nahles, 2007

Echo-Preis: Stars haben Probleme bei Rückgabe

Im Foyer des Phonoverbandes nimmt MMW für die mitgereisten Fotografen noch einmal einen seiner fast unzähligen "Echos" in die Hand.
Marius Müller-Westernhagen war als erster unfassbar empört. Damals, als sie der Naziband Freiwild einen Echo hatten geben wollen und der Schlagertussi Helene Fischer jedes Jahr sieben hinterherwarfen, hielt er noch still. Inzwischen aber, die Absatzzahlen sind seit Jahren rückläufig, die Konzertorte werden immer kleiner, das Publikum immer älter und Auszeichnungen gibt es nur noch in absurden Randsparten, muss auch Westernhagen rudern. 

Naheliegend, dass der 69-Jährige jede Gelegenheit ergreift, auf sich aufmerksam zu machen: Erst benannte er sich von "Westernhagen" wieder in Marius Müller-Westernhagen um. Dann erhöhte er die Ticketpreise in seinen Konzerten schlagzeilenträchtig auf Rolling-Stones-Niveau. Und nun ließ er, kaum waren die ersten Meldungen über den neuerlichen Eklat bei der "Echo"-Verleihung unterwegs, ankündigen, dass er seine sämtlichen sieben "Echo"-Preise aus Protest gegen den mit vier Monaten und hunderttausenden verkauften CDs Verspätung erkannten Antisemitismusreim von Farid Peng und Kollege zurückgeben werden.

Die guten Tage als Theo


Westernhagen, in seinen guten Tagen als Theo Gromberg ein malerischer, weil unangepasster Verlierer, wurde mit seiner Aktionsankündigung zur Speerspitze eines mutigen opportunistischen Aufschreis von Künstlerkollegen, die nun alle in ihre Keller sprangen, um zu schauen, ob sie nicht auch noch irgendwo irgendeinen alten "Echo" herumliegen haben, mit dessen Rückgabe sie nun im trüben Herbst ihrer Karriere noch einmal eine kleine Schlagzeile geschenkt bekommen könnten. Auch in der Bevölkerung meistenteils unbekannte Künstler wie das Notos Quartett, der Pianist Igor Levit, der Dirigent Enoch zu Guttenberg, der Dirigent Christian Thielemann und drei namentlich ungenannt bleibende ehemalige Sänger der Wise Guys sowie der Dirigent Daniel Barenboim und das West-Eastern Divan Orchestra entschlossen sich zu einem harten Schnitt und gaben ihre Preise zurück.

Zumindest verbal. Denn die praktische Rückgabe stößt auf hohe Hürden, wie PPQ-Kulturreporterin Swenja Prantl bemerkt, als sie pünktlich um 7 Uhr morgens vor Westernhagens Villa in Hamburg-Barmbeck steht. Prantl, nicht verwandt und nicht verschwägert, ist mit dem einstigen Theo gegen den Rest der Welt verabredet, um den Multimillionär auf seinem Weg zur Rückgabe seiner immerhin sieben "Echos" zu begleiten.

Westernhagen erscheint gegen halb acht, fast pünktlich im Rockgeschäft, die ersten handverlesenen Fotografen und das von Peter F. Bringmann, dem Regisseur der erfolgreichen "Theo"-Filme geleitete Videoteam sind inzwischen auch eingetroffen. Es soll nach Berlin gehen, wo die Deutschen Phono-Akademie ihren Sitz hat, die mit der Verleihung eines "Echo" an die beiden frauenfeindlichen, homophoben, rechtsextremen oder antisemitischemn Rapper Peng und Kollegah "eine Grenze überschritten" haben, wie MMWs Kollegah Campino von den Toten Hosen bei der Preisverleihung bestätigt hatte.

Im Führungswagen der Rückgabeaktion


Der Tross der Fahrzeuge setzt sich in Bewegung, erstes Ziel die Bundesautobahn 24 nach Berlin. Westernhagen hofft, so sagt er im Fonds des Führungswagens, mit der Rückgabeaktion in die "Tagesschau" zu kommen, "zumindest aber in die Tagesthemen", schmunzelt er unter dem großen Hut hervor, den er nach dem Vorbild seines Vorbilds Udo Lindenberg seit einiger Zeit anstelle langer Haare trägt.

Vier Stunden und zwei Pinkelstopps später, bis auf Fahrer Ered sind alle im Auto immer mal kurz eingenickt, obwohl Westernhagens sehr erfolgreiche Unplugged-CD in Dauerrotation läuft, erreicht die Wagenkarawane ihr Ziel. Die Deutsche Phono-Akademie, so hat es MMWs Assistentin Jule herausgefunden, sitzt als Untermieterin mit im prächtigen Gebäude des Bundesverbandes Musikindustrie, der trotz permanenter Absatzkrise ein für Berliner Verhältnisse recht prächtiges Haus in der zentralen Reinhardtstraße bewohnt.

Aufgeräumter Stimmung steigt Westernhagen aus. Der alte Löwe des deutschen Rock weiß, es gibt keine Regeln für die Rückgabe des höchsten deutschen Musikpreises. Er ist ein Pionier, was er hier macht, hat noch niemand getan. Westernhagen, in engen Jeans und mit großer Sonnenbrille keinen Tag älter als 49, ist wieder Rebell, ein Mann in seinem Element. Jule trägt die Umzugskiste mit den sieben "Echos", die er als einer der erfolgreichsten deutschen Rockmusiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts errungen hat.

Klappernde Kiste mit Trophäen


Es klappert ein bisschen, als die zierliche Blondine versucht, die Kiste zu halten und ihrem Chef zugleich mit der linken Hand die große Flügeltür zum Allerallerheiligsten des deutschen Pop-Palastes zu öffnen. Drinnen springt ein Pförtner irritiert auf, Westernhagens privater Manager Nils Doren versucht, ihm das Anliegen des Mannes mit dem Hut zu erklären, den der junge Mann in der Uniform einer großen Sicherheitsfirma nicht zu kennen behauptet. Es sei niemand da, sagt er, "alle zum Krisentreff in Köln". Peter F. Bringmann lässt seine Crew die Kameras draufhalten. Jule steht der Schweiß auf der Stirn. Eine Echo-Trophäe wiegt 2,5 Kilo, die schmale Blondine balanciert 17,5 Kilo in ihren Armen, die noch definierter sind als die von Brigitte Macron..

Eine Planungspanne, die Jule einen kurzen, gnadenlosen Blick ihres Chefs einträgt. Ein Kommentar zu ihrem Versagen bleibt ihr allerdings erspart, denn die Flügeltür öffnet sich erneut und Westernhagens Mitstreiter bei der Rückgabeaktion treffen ein Das Notos Quartett, der Pianist Igor Levit und der Dirigent Enoch zu Guttenberg betreten schüchtern das Foyer. Alle tragen sie Echos in der Hand beziehungsweise ihre persönlichen Assistenten tun das. Westernhagen zieht die Stirn in Falten, das hier läuft anders als geplant. Bringmann, zuletzt das Hirn hinter dem 1997er Kinohit "Die drei Mädels von der Tankstelle" mit Wigald Boning, der einst einen "Echo" an den Flötisten Maurice Steger übergeben hatte, der sich bislang weigert, ihn zurückzugeben, schlägt vor, man solle doch dann zur nächsten Postfiliale gehen.

Am Ende muss die Post ran


"Gut möglich, dass das Gelb gut aussieht", sagt der frühere Kino-Profi. Die Tür schwingt auf und der Dirigent Christian Thielemann und drei niemandem im Saal bekannte ehemalige Sänger der Wise Guys treten ein. Großes Hallo! Die Wise Guys tragen ihre "Echos" selbst, Thielemann hat seinen dabei sowie den von Barenboim, der selbst nicht kommen kann. Bringmanns Idee mit der Post findet Sympathien, Nils Doren, ein mit allen Wassern gewaschener Strippenzieher, findet es "schonungslos, den Typen das so ins Maul zurückzustopfen". Nur MMW zweifelt noch. "Der Plan war anders", kritisiert er mit einem Seitenblick auf Jule, die ein wenig zu schwanken scheint, obwohl der Geiger vom Notos Quartett jetzt eine Ecke ihrer Echo-Kiste mitträgt.

"Marius, lass uns das so machen", sagt Doren, der aus dem Augenwinkel schon sehen kann, dass das 117-köpfige West-Eastern Divan Orchestra, das aus Versöhnungsgründen zu gleichen Teilen aus israelischen und arabischen Musikern besteht, draußen aus Bussen steigt. "Und dann per Einschreiben oder was", ätzt Westernhagen, der ein wenig ungehalten wirkt. "Wertsendung", empfiehlt Bringmann.

"Du hälst die Klappe", sagt Nils Doren aus dem Mundwinkel zu der Kinolegende, die nachweislich nie einen Echo gewonnen hat. Westernhagen winkt seinen Leuten. "Abgang, Mittagessen im Borchers", sagt er und meint wohl das "Borchardts", in dem Deutschlands Eliten regelmäßig zusammenkommen. Man könne "das Ding", wie er es inzwischen nennt, auch von Hamburg aus per Post schicken. Und zwar nicht per Wertsendung, denn "Wert hat das nicht mehr".

Verblüfft bleiben die anderen Rückgabewilligen im Sternenstaub des Starabgangs zurück. Jule, die den Schluss der Truppe bildet, stolpert mit der Kiste. Es klirrt sehr laut. Später, die ganze Gruppe sitzt inzwischen gemütlich beim Borchardts, wird Doren sie sich eine Currywurst holen schicken. "Nach der Nummer", sagt er leise, "ist es besser, der Chef sieht dich ein paar Stunden nicht."


Freitag, 27. April 2018

Auf dem Inflationskarussell: Die Menschen wollen es doch auch

Die Staatsausgaben hat Deutschland schon hochgefahren, jetzt folgen die Preise.
Jetzt geht es los, jetzt kommt Bewegung in den Aufschwung. Erst konnte der Staat seine Steuereinnahmen über Jahre hinweg steigern, ohne seinen Bürgern etwas abzugeben. Dann durften sich die Angestellten des öffentlichen Dienstes über satte sieben Prozent Lohnplus in zwei Jahren freuen. Und nun folgt schon die nächste Runde im Hütchenspiel: „Verbraucher akzeptieren teurere Lebensmittel“, meldet der „Spiegel“, der seit 2015 um immerhin elf Prozent teurer wurde und dafür mit einem Auflagenrückgang um zehn Prozent bezahlte.

Vor die Wahl gestellt, zu verhungern oder mehr für Lebensmittel zu zahlen, so analysiert das Magazin die Lage messerscharf, seien „die Verbraucher bereit, mehr auszugeben“. Eine gute Nachricht nach Jahren der zumindest statistisch behaupteten Preisstabilität. Endlich finden gestiegene Staatseinnahmen, explodierte Staatsausgaben, höhere Löhne und teurere Lebensmittel zueinander, um das Ende der seit der Finanzkrise grassierenden Niedrigzinsphase von unten her einzuleiten.

Der durchschnittliche Preisanstieg bei Lebensmitteln liegt nach Angaben des Statistischen Bundesamts mit rund drei Prozent inzwischen fast doppelt so hoch wie die allgemeine Inflationsrate, die durch die fortlaufende Anpassung des sogenannten Warenkorbes seit Jahren ähnlich liebevoll an die Bedürfnisse der Bundesregierung angepasst wird wie zuletzt die Kriminalitätsstatistik. Häufig gekaufte Waren, die zu deutliche inflationäre Tendenzen zeigen, werden aus dem Korb genommen, und durch sehr viel seltener gekaufte hochpreisige Technikartikel ersetzt, deren zunehmende Verbreitung für sinkenden Preise in ihrem jeweiligen Segment sorgt.

Wird das Bier also binnen von nur 15 Jahren um 60 Prozent teurer -  ein Preissprung, für den das Getränk zwischen 1949 und 1979 immerhin noch 30 Jahre benötigt hatte -, dann fällt das nicht weiter ins Gewicht, weil durch die sogenannte hedonistische Bewertung Mittelklassewagen, Flachbildfernseher und Smartphones (Anteil 11,5 Prozent) stärker berücksichtigt werden als Nahrungsmittel (10,3 Prozent). Noch unsichtbar, beginnt das Inflationskarussell, sich wieder zu drehen. Der "Spiegel" kennt auch den wahren Grund, etwa dafür, dass Thunfisch zuletzt um 30 Prozent teurer geworden ist. "Zum Teil liegt das ganz einfach daran, dass die Verbraucher bereit sind, mehr auszugeben, weil sie mehr verdienen."

Netzwerkregulierung: Deutschlands Alleingang

Nur noch Reste einstiger Gemeinsamkeit: Beim Kampf gegen Facebook schert nun auch Deutschland aus und setzt auf eigene Lösungen anstelle von EU-weiten Maßnahmen.
Erst Großbritannien, dass den übrigen Partnerstaaten in Europa wegen einiger kleiner Meinungsverschiedenheiten die Gefolgschaft kündigte. Dann Spaniens Beharren auf einer nationalen Lösung der Katalonien-Krise. Schließlich Frankreichs Solo-Ritt nach Syrien, ein völkerrechtswidriger Angriff auf einen souveränen Staat, den der gutaussehende französische Präsident weder im europäischen Rat zur Abstimmung vorlegte noch von der EU-Kommission abnicken ließ. Auch Berlin, über viele Jahre hinweg das Kraftzentrum des alten Europa, wurde nicht gefragt, der Kanzlerin, im Stich gelassen von ihrem, engsten Verbündeten, blieb nur, im nachhinein zuzustimmen, um den innereuropäischen Dissenz nicht öffentlich zum Eklat werden zu lassen.

Deutschlands Absage an Europa 


Doch die Bundesregierung hat den Verrat der EU-Partner nicht vergessen. Während Heiko Maas noch nach europäischen Lösungen ruft, schaffen seine Ministerkollegen im Fall Facebook im Hinterzimmer Fakten. Ohne Europa. Zwar mahnte SPD-Ministerin Katarina Barley pro forma noch, dass es „Zeit für eine deutliche Reaktion der europäischen Staaten" sei und Europa "klare Regeln“ schaffen müsse.

Aber statt nun auf dem gewohnten und bewährten Weg die europäische Richtlinienmaschine anzuwerfen und diese „klaren Anforderungen“ an die Betreiber sozialer Netzwerke auf europäischer Ebene nach umfassenden Abstimmungen unter allen Partnerstaaten in sieben oder acht Jahren gesetzlich felsenfest zu schreiben, kündigte das neue Heimatmuseum nun an, in einem deutschen Alleingang die angestrebte strenge gesetzliche Regulierung zu schaffen, die es der Bundesregierung erlauben soll, Netzwerke wie Facebook und Twitter künftig so in demokratische Prozesse einzubinden, dass die Nutzung etwa in Wahlkämpfen oder für allgemeine Werbezwecke möglich bleibt, Kritik an der Regierung oder Werbung für Staatsfeinde aber ausgeschlossen ist.

Hauptsächlich soll die künftige harte deutsche Regulierung offenbar mithilfe des Datenschutzrechts durchgesetzt werden, wie es in einem Schreiben des Heimatministeriums heißt. Da die Befürchtung besteht, dass ein erweiterter Meinungsfreiheitsschutz allein durch einen Verweis auf den Datenschutz kaum umfassend und im Sinne der Parteien des demokratischen Blocks durchsetzbar ist, sollen "zusätzliche gesetzgeberische Maßnahmen" den deutschen Alleingang in Sachen Netzwerkregulierung flankieren. „Die Bundesregierung wird deshalb über das Datenschutzrecht und über das in 2017 verabschiedete Netzwerkdurchsetzungsgesetz hinaus genau prüfen, ob zur Sicherung demokratischer Prozesse noch weitere Maßnahmen erforderlich sind, etwa im Rahmen der Regulierung von Plattformen“, heißt es in einem Schreiben aus dem Heimatministerium.

Vorreiter gegen die Trollarmeen


Europa bleibt außen vor, ein weiteres Mal. Statt auf die zunehmend massiven politischen Manipulationen von russischen Trollarmee mit einer einheitlichen europäischen Strategie zu antworten und "gesellschaftlich ausgleichende Regelungen" für die Äußerung politischer Ansichten im Netz zu schaffen, wie es Kanzleramtchef Helge Braun nennt, fällt die europäische Staatengemeinschaft in der Stunde der Not auseinander wie ein Kartenhaus.

Mit 26 neuen Mitarbeitern soll Deutschlands Digitalkoordinator Braun das empfindliche Politikfeld steuern und vorreitermäßige Maßnahmen erarbeiten, die es möglich machen, Algorithmen durch Bundesbehörden wie das Bundesblogampelamt (BBAA) zu kontrollieren und den Missbrauch der privaten Meinungsmacht von Nutzern einzuschränken. Die Bundesregierung komme damit ihrer „Schutzpflicht“ gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern nach, die oft überhaupt nicht ahnten, dass Facebook ihre Daten zu Werbezwecken nutze. „Was für ein gröberes Vergehen kann es in einer Demokratie geben? Das ist doch unfassbar“, urteilt Unionsfraktionschef Volker Kauder. Deutschland müsse hier Vorreiter sein, sagt der mächtige Strippenzieher der Kanzlerin, der vor Jahren bereits für eine umfassende Germanisierung der EU plädiert hatte.

Donnerstag, 26. April 2018

Ohrfeigen für Deutschland: Befehlsausgabe in Washington

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz (r.) war bislang der einzige bedeutende deutsche Politiker, der im Garten des Weißen Hauses bei der Rasenpflege helfen durfte.
Es ist die größte anzunehmende Ohrfeige für das mächtigste Land Europas, einen eingeschworenen Gefolgsstaat der USA und verlässlichen Partner über Jahrzehnte. Emmanuel Macron, vor nicht einmal einem Jahr ins Amt des französischen Präsidenten gewählt, bekommt schon nach elf Monaten einen Staatsbesuch geschenkt, mit der zu Hause im kriselnden Frankreich punkten kann. Walter Steinmeier aber, volle dreieinhalb Monate länger im Amt als sein französischer Kollege, wartet bis heute auf eine Einladung ins Weiße Haus. Die Amerikaner, vor allem wohl deren "irrer" (FR) Präsident Donald Trump, zeigen Deutschland demonstrativ die kalte Schulter.

Immerhin darf Kanzlerin Angela Merkel in dieser Woche vorfahren, zu einem "Arbeitsbesuch" ohne Militärkapelle und Staatsdiner. Merkel sei auch keine Präsidentin, sondern nur Regierungschefin begründen das ihre Anhänger. Eine verwegene Volte, weilten frühere Kanzler doch durchaus zu Staatsbesuchen in der Hauptstadt der westlichen Führungsnation.

Heute aber reicht es nicht einmal mehr zu einer Einladung für das deutsche Staatsoberhaupt, das auch bei seinem gerade anstehenden nächsten USA-Besuch keinen Einlass im Weißen Haus finden wird.

Walter Steinmeier reist stattdessen nach Kalifornien, aus deutscher Sicht die letzte Insel eines Amerika nach deutschem Bild, sonnig, voller Elekroautos und Weinberge, mit harten Abgasregeln und - besonders wichtig -  einer großen, fast schon deutsch wirkenden Abneigung gegen den Präsidenten. Am Rande von Los Angeles eröffnet Steinmeier ein Thomas-Mann-Haus. Selten war eine Auslandsmission eines deutschen Präsidenten bedeutsamer für den Weltfrieden und geeigneter, einen auf Abwege geratenen US-Präsidenten zurückzuholen in die Gemeinschaft der friedensschaffenden Staaten.

Was für ein Kontrast. Als der US-Präsident noch Barack Obama hieß, hat er den deutschen Bundespräsidenten gern empfangen. Joachim Gauck, damals schon auf Abschiedstour, durfte sich einen Lebenstraum erfüllen und sich von Obama loben lassen: „Deutschland ist einer unserer stärksten Verbündeten“.

Gleich danach zerbrach das Bündnis. Die Amerikaner drohten falsch zu wählen und der heutige Bundespräsident ließ keinen Zweifel daran, dass das politische Deutschland der Großkoalition Trump als neuen Mann im Weißen Haus kategorisch ablehnt. Steinmeier zeigte sich nicht nur irritiert von der populistischen Art Trumps, sondern auch klare Kante gegen den Neueinsteiger in die Weltpolitik. Ein "Hassprediger" sei der Republikaner, sagte er, und er verzichtete nach dessen trotzdem erfolgter Wahl demonstrativ darauf, Trump zur Wahl zu gratulieren.

Angela Merkel fing ihren damaligen Außenminister nicht etwa ein, sondern sie setzte noch einen drauf: Schmallippig las sie eine "Gratulation" vom Blatt ab - und ergänzte sie mit einem umfassenden Katalog an Mahnungen, dass die Vereinigten Staaten "gemeinsame Werte wie "Demokratie, Freiheit, den Respekt vor dem Recht und der Würde des Menschen – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung oder politischer Einstellung" aber weiterhin respektieren müssten. Also etwa wie damals, als die USA unter George W. Bush Terrorkrieger im Namen der gemeinsamen Werte und mit Wissen der Bundesregierung folterten. Und Angela Merkel begeistert war.

Demonstrativ behandelt die US-Regierung den deutschen Bundespräsidenten nun wie eine persona non grata; einen Politiker, der nicht existiert und deshalb keinerlei Beachtung verdient. Angela Merkel hingegen wird als existent akzeptiert und am Katzentisch empfangen: Drei Tage nach Emmanuel Macron, ohne Militärparade und ohne Staatsbankett und womöglich auch wieder ohne Handschlag.

Militärs würden sagen: Dann wäre es eine ganz normale Befehlsausgabe.








Echo: Radikale Umbenennung soll Preis retten

Dieser Rap-Kollege bekam den letzten Echo unter dem alten Namen.
Nach dem Skandal um die Skandalrapper Kollegah und Farid Bang wird der Musikpreis „Echo“ umbenannt. Das hat der Vorstand des Bundesverbandes Musikindustrie beschlossen. In einer Pressemitteilung heißt es, die Marke ECHO sei so stark beschädigt worden, dass ein vollständiger Neuanfang notwendig sei. Geplant sei eine radikale Umbenneung. Auch die bisher involvierten Gremien sollen ihre Tätigkeit einstellen, die Mitglieder werden dann in neuer Form in noch zu bildenden neuen Beratunsgrunden Platz nehmen.

Hintergrund der Rückgabe des seit vielen Jahren vor sich hindarbenden „Echo“ nun auch durch den Echo selbst ist der gelungene Versuch der Macher, dem Preis im Zusammenspiel mit einer großen Boulevardzeitung mit einem Sturm der Empörung über ein vier Monate altes Musikalbum für Mittelstandskinder mit Ghettosehnsucht zu mehr Aufsehen zu verhelfen. Das gelang zwar kurzzeitig, auch die beiden Reimkünstler durften sich noch einmal über einen erneuten Sprung unter die Top 20 freuen.

Doch nachdem auch Kollegah und Bang ihren frischen Echo empört über den Missbrauch der Preisvergabe als Werbeplattform für Antisemitismus, Frauenverachtung, Homophobie oder Gewaltverharmlosung zurückgegeben hatten, blieb nur ein totaler Neuanfang. Dazu werden die Kriterien der Nominierung und Preisvergabe vollständig verändert: Der neue Musikpreis wird künftig unter dem Namen "Widerhall" nicht mehr an besonders erfolgreiche Künstler, sondern ausschließlich an geprüft verlässliche und auch inhaltlich saubere Pop-Kader vergeben, die eine Jury mit Unterstützung der Kommission für Tanzmusik beim Bundeskulturministerium in Berlin auswählen wird.

Im Juni soll es einen Workshop geben, um möglichst viele Ideen und Erwartungen aus der Branche, den Medien, bürgerschaftlich engagierten Gruppen und der Bundespolitik beim Prozess der Neugestaltung einzubeziehen. Ziel sei es, eine Lösung zu finden, damit die Preisvergabe am Ende nicht öffentlich macht, was das von rechten Populisten verführte Volk für Musik kauft.

Der Bundesverband Musikindustrie ist laut Pressemitteilung auch an andere Institutionen herangetreten, um die Debatte über Kunstfreiheit und ihre Grenzen so in die Neugestaltung einfließen zu lassen, dass künftig weder politisch unzuverlässige Italiener noch sexistische Muslime irrtümlich ausgezeichnet werden können.

Der "Widerhall" soll künftig außerdem nur noch in kleinem Kreis und ohne TV-Übertragung verliehen werden, um Störversuche zu verhindern. Diese neueste Entwicklung ist der Höhepunkt einer seit Jahren anhaltenden Entwicklung, die den wichtigsten Preis für industriell hergestellte Großhallenmusik Deutschlands zum Aushängeschild für Tonkunst aus der untersten Schublade der Geschmacksverirrung gemacht hatte.

Mittwoch, 25. April 2018

Fingerabdruckpflicht: Europa wird noch sicherer

Die Kriminalität in Deutschland geht inzwischen schneller zurück als sie jemals steigen konnte, selbst russische Cyberattacken und Giftgrasangriffe in der EU bleiben tageweise aus. Um letzte noch offene Straftaten aufzuklären und die Täter künftig schon vorbeugend in Haft nehmen zu können, arbeitet die EU-Kommission an einem neuen Maßnahmepaket, das Terrorabwehr und Kriminalitätsbekämpfung von hinter her denkt. Um die Sicherheit im gesamten EU-Raum weiter zu verbessern, sieht Kommission die verpflichtende Aufnahme von digitalen Fingerabdrücken im Personalausweis vor. Kriminellen Fälschern wären damit die Hände gebunden, Terroristen könnten sich nicht länger unter falschen Identitäten verstecken und normale Bürger hätten die Gewissheit, jederzeit und überall identifiziert werden zu können.

Die Pläne, die Sicherheitskommissar Dimitris Avramopoulus auch im Licht des erneuten Vorfalls in Kanade allen noch 28 Mitgliedsstaaten vorlegen wird, sind für die Gemeinschaft ein großer Schritt, für den einzelnen Bürger und die einzelne Bürgerin aber kaum der Rede wert. Mit der verbindlichen Aufnahme von Fingerabdrücken und biometrischen Daten des Ausweisinhabers vollzieht die EU nur nach, was ohnehin eines Tages kommen wird: Eine europäische Lösung, die alle Daten über alle Bürger allen europäischen Geheimdiensten zugänglich macht.

Ziel sei es, dass Terroristen und Kriminelle es künftig schwerer haben, unentdeckt zu bleiben. Weil sich die europäischen Außengrenzen wegen ihrer unüberschaubaren Länger weiterhin nicht sichern lassen, werde die Sicherheit der Bürger im Inneren verteidigt. Dimitris Avramopoulus, der als Vater der gerechteren Verteilung von Flüchtlingen in der EU gilt, die später scheiterte, sagte: "Wir müssen die Schrauben anziehen, bis es keinen Raum mehr gibt für Terroristen oder Kriminelle und keine Mittel mehr für sie, Anschläge durchzuführen." Fingerabdrücke im Personalausweis gelten als Königsweg zu einer umfassenden Sicherheit.

Im Zusammenspiel mit den bei vielen Handys inzwischen zum Standard gewordenen Fingerabdruck-Erkennungsapps soll die Einführung digitaler Pflicht-Fingerabdrücke in Ausweisen und der Speicherung in einer zentralen Fingerabdruck-Datenbank erhoffen sich die Behörden auch Fortschritte bei der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung. In Deutschland ist derzeit lediglich das biometrische Gesichtsbild des Ausweisinhabers im Personalausweis gespeichert, das Speichern von zwei Fingerabdrücken auf dem RFID-Chip des Personalausweises erfolgt derzeit noch freiwillig, so dass Kriminelle, Hetzer und Terrorunterstützer immer die Möglichkeit haben, unerkannt zu bleiben.

Zugriff auf die künftig gespeicherten umfassenden biometrischen Daten erhalten weiter ausschließlich alle staatliche Stellen, darunter die Polizei, der Zoll, die Steuerfahndung, die Personalausweisbehörden und die deutschen Geheimdienste Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst und Militärischer Abschirmdienst sowie deren Partnerdienste in den Nato-Ländern. Die dazu notwendigen Lesegeräte bekommen ein sogenanntes hoheitliches Zertifikat, das verdeutlicht, dass die Abfrageprozedur stets im Einklang mit den europäischen Datenschutzrichtlinien steht.

Trump: Der Triumph des Mannes, den sie "irre" nannten

Spiegel-Meisterwerk: Der degenerierte US-Präsident auf dem Titel im Januar 2018.

Sie haben ihn als dumm bezeichnet, als "irre", als degeneiert dargestellt, als alten weißen Mann ohne Überblick und als geldgierigen Sexsüchtigen denunziert. Seit Donald Trump der aufgeklärten Linken, die sich für die politische Mitte und den Mittelpunkt der Welt hält, den gröößten Tort überhaupt angetan hat - eine Wahl zu gewinnen, die ihre Favoritin Hillary Clinton in der Filterblase der medialen Selbstbestätigung längst in der Tasche haben sollte - galten all der Hass, alle Verachtung und alle nur denkbaren Bezichtigung dem neuen Mann im Weißen Haus. Der die Wut seiner Feinde immer noch mehr aufstachelte, indem er ihre hanebüchenen Bestrafungsfantasien mit dem kalten Lächeln eines Politikers überging, der weiß, dass er am längeren Hebel sitzt.


Anfangs führte das zu nur noch mehr Geiferspritzerei. Wie ein großes Orchester kübelten die deutschen Leitmedien gegen den Präsidenten, der nicht der ihre war. Jede Twitternachricht, jedes durchgestochene Gerücht über geheimnisvolle Russlandverbindungen und siebte Mitarbeiter von siebten Mitarbeitern, die irgendwann einmal Pelmeni gegessen hatten, sorgte für bizarre Schlagzeilen. Trump war in seinem ersten Jahr schön öfter aus dem Amt geschrieben als Merkel in vier Amtszeiten.

Aus dem Amt geschrieben


Zuletzt ließ das Donnerwetter der Hetzer, Hasser und Zweifler dannn allerdings spürbar nach. Es schien, als seien die Trump-Jäger müde geworden, als mangele es ihnen an Munition und neuen Superlativen der Gehässigkeit. Binnen von nur zwölf Monaten waren schließlich alle weltweit verfügbaren Kübel voller Gülle über dem greisen Blondmann ausgeschüttet worden. Was aber lässt sich noch über jemanden sagen, den man als bestechlichen irren Wahnsinnigen in den Listen führt?

Die nächste Phase der Amtszeit des beeindruckend unbeeindruckt gebliebenen 73-Jährigen scheint nun anzubrechen. Hatten ihn "Spiegel", "Zeit", "FR", "ZS" und Co. bis hierhin als Klimakiller, Kriegstreiber und Putinkuschler besetzt, nützt es nun offenbar nichts mehr: Die Wirklichkeit kommt störend ins Bild und erfordert es, auch der über Monate auf Trump-Hass konditionierten Leserschaft Mitteilung davon zu machen, dass die konfrontative Strategie Trumps offenbar erfolgreicher ist als vorab unterstellt. Auf einmal kommt Donald Trump fast sympathisch rüber. Auf einmal wirft sich Emmanuel Macron in Washington in den Staub, um eine "neue Freundschaft" mit dem Feind aller friedliebenden Völker zu feiern.

Verschwundene Geiferspritzen


Fort die fleißigen Geiferspritzen, verstummt ohne Abschiedsgruß. Denn nach Jahren und Jahrzehnten festgebackener Konflikte tut sich auf einmal etwas. Trump, dem schlagzeilenträchtig unterstellt worden war, er werde gleich den Atomkrieg mit Nordkorea auslösen, ist auf einmal der Mann, der die Nordkoreaner an den Verhandlungstisch bringt. Und derselbe Trump, lächerlich gemacht wegen seiner Mauerbaupläne, die dem deutschen Ideal widersprechen, die eigenen Mauern von anderen bauen zu lassen, verändert nun sogar ohne Mauer den Migrantenstrom aus Mexiko in dei USA.

Es muss zum Verzweifeln sein, dem vom langen Abhang des abschmelzenden Auflage zuschauen zu müssen, ohne einen neuen Strom an von Fäkalbegriffen ausspucken zu dürfen. Kein Heuchler mehr, kein unberechenbar, kein irre, schädlich,  Loser,  Lügner, Colatrinker und Fernsehgucker, kein großes Unglück für die Welt und keine Bedrohung für den Weltfrieden. Nur noch ein "unberechenbarer Partner". Und Nachhutgefechte, die klingen wie eine Kapitulationserklärung.


Dienstag, 24. April 2018

Spiegel Daily: Verdummung versagt als Geschäftskonzept

Ein "smarte Abendzeitung", gepäppelt mit den Resten des in besseren Zeiten Angesparten und verbreitete über ein Medium, für das sichtlich jedes Verständnis fehlte. Das war "Spiegel Daily", eine Art Deutschland-Kurier aus dem Spiegel-Hochhaus, ideologisch, unpraktisch und nach sagenhaften vier Jahren Vorbereitungszeit mit großen Erwartungen gestartet. Nun wird sie schon wieder eingestellt - ein Sieg des gesunden Menschenverstandes.

Hier, das war schnell klar, wurde nicht nach Wahrheit gesucht, sondern nach Bestätigung von Vorurteilen. Hier wurde alter Wein in alte Schläuche gefüllt, es zeigte sich die Spiegel-DNA eines durchdesignten Puppenstubenjournalismus: Alle Rollen waren übersichtlich besetzt, die Welt eine Seifenoper mit Gut und Böse. Wie Dantes "Göttlicher Komödie" erzählte "Spiegel Daily" von einer Gegenwart, in der wir immer grundgut und die aus purer Gemeinheit abgrundtief verdorben sind. Wer genau "die" sind, wechselte zwischen USA, Russland, Türkei, je nachdem, was gerade gebraucht wurde. "Wir" aber das waren immer die Leute beim Spiegel, ihre Freunde im Bundestag und die Regierung, selbstverständlich.

Dass ein täglicher Newsletter, der seine ersten 100 Ausgaben mit geifernden Berichten über "Trumps Klimawahnsinn", "Das Trump-Prinzip" und "Europa gegen Trump" füllt, sich vermutlich nicht so lange am Markt halten wird die der US-Präsident in dem Amt, aus den ihn um andere Einfälle arg verlegenen die Spiegel-Daily-Leute schon in der dritten Woche siebenmal herausgeschrieben hatten, war abzusehen. Zwar hatte die Redaktion versprochen, ihren Lesern immer zum Feierabend zu berichten, "was heute wichtig ist".

Doch nach einem ersten Aufmerksamkeitssturm im Internet legte sich nach der überschaubaren Begeisterung bald auch die Kritik. Nicht einmal mehr der Schwund an Werbebemühungen des immer noch mächtigen Spiegel-Mutterschiffs für sein neues Baby machte Schlagzeilen. Irgendwie war "Spiegel Daily" zu sehr Spiegelbild der grassierenden Journalismuskrise, in der der Verlust an Lesern mit einem Verlust an Relevanz korrespondiert, gegen den ein Zuwachs an Propaganda, Hetze, Hass und Seo-Optimierung helfen soll, der allerdings zu nur immer weiterem Verlust an Relevanz und Lesern führt.

Kein ganzes Jahr hat der "Spiegel" die neue Form der dumpfen Tagesbeschimpfung durchgehalten. Am Vorabend langer Tage knallte Hamburger Propagandapeitsche und brachte die frohe Botschaft in ein paar tausend Haushalte, von denen nicht einmal klar war, ob sie die neue Folge der Seifenoper vom fiesen, miesen Trump, dem Hoffnungsträger Macron, dem kriegslüsternen Putin, den armen Syrerern, den dummen Amis, dem bedrohten Klima, den verseuchten Meeren und Deutschlands Aufgabe, das alles durch Angela Merkel geradezurücken, noch ernsthaft zu folgen vermochten. Dann zog der "Spiegel" die Notbremse und beendete das Experiment, eine Kinderzeitung für Erwachsene machen zu wollen.

Schuld am Scheitern seien technische Probleme damit, dass "Daily als digitale Zeitung ein höchst problematisches Konzept" gewesen sei, das es schwierig gemacht habe, Abos zu gewinnen. Ach? Mit Inhalten dagegen hat die Pleite nichts zu tun. Wörtlich heißt es in der Einstellungsverfügung dazu: „Eine Konstruktion, die nach dem gesammelten Leserfeedback des ersten Jahres so unlogisch ist wie der Umstand, dass wir zu ein- und demselben Thema öfters künstlich zwei Geschichten schreiben: einen elaborierten Text für unsere Haupt-Nachrichtenseite und einen mindestens so elaborierten für Daily.“

Die Vokabel "öfters" sagt alles, was man über die Rettung des Journalismus vor seinen Rettern wissen muss.


Alle gegen alle: Wie der Russe die Welt bedroht

Wie aggressiv Russland aufrüstet, zeigt diese Grafik, die die 230 Milliarden europäischen Rüstungsausgaben von Nato-Ländern noch gar nicht enthält.

Er bricht das Völkerrecht auf der Krim wie der Nato-Partner Türkei es auf Zypern schon seit Jahrzehnten tut. Erhat seine Rüstungsausgaben inzwischen auf ein Drittel der Ausgaben der EU und auf mehr als Zehntel der Aufwendungen der USA hochgefahren. Er steht wie Deutschland in mehreren Ländern out of area im Kriegseinsatz. Und hat nun endlich die Quittung bekommen: Noch ohne Einmarsch von Bodentruppen haben eine Strafexpidition einer Koalition der Willigen aus USA, Frankreich und Großbritannien die feindliche Allianz aus Russen und Assad-Syrern mit einem nächtlichen Raketenhagel daran erinnert, dass hier nicht jeder machen kann, was er will.


Trump und seine Verbündeten wollten damit künftige Chemieangriffe wie zuletzt im englischen Salisbury und im syrischen Douma verhindern, analysiert das Magazin Der Spiegel, das sei der Bundeswehr-Enthüllungsstory "Bedingt gefechtsbereit" als Fachblatt für Globalstrategie gilt. Als hätten die Syrer in sieben Jahren Bürgerkrieg, terrorisiert von einem zynischen Machthaber, bedrängt von rebellischen Islamisten und angegriffen vom vielkritisierten Autokraten Erdogan nicht genug gelitten, hagelten nun auch noch demokratische Bomben auf ein militärisches Forschungszentrum in der Nähe von Damaskus, ein Lager für Chemiewaffen, die es nach offiziellen Erklärungen der USA seit Jahren nicht mehr gibt, und der zuvor schon zu einem Drittel zerstörten Stadt Homs.

Unternehmen Unterwanderung


Eine symbolische Geste ratloser Weltmächte, denen der Überblick über zulässige Koalitionen zusehends verloren geht. Putin, so heißt es in den amerikanischen und deutschen Leitmedien, habe Trump ins Amt getrollt. Kaum dort, fährt der "Irre" nun auf Konfrontationskurs zu Moskau - das Unternehmen Unterwanderung, das in deutschen Redaktionsstuben wie ein Popanz herumgetragen wird, müsste als kompletter Fehlschlag gelten, hätte es denn je existiert.

Gleichzeitig fahren deutsche Panzer, besetzt mit türkischen Nato-Soldaten, Angriffe gegen Einheiten irakischer Kurden, deren politische Organisationen in Europa als terroristisch verboten sind, die aber trotzdem mit Waffenhilfe der USA und der EU gegen islamistische Milizen kämpfen, die wiederum in einem Zweifrontenkrieg zugleich gegen Assad fechten, der wiederum von den Russen und den Iranern unterstützt wird.

Die Wahrscheinlichkeit, den Überblick zu verlieren, ist größer als die, den Krieg zu gewinnen, von dem schon gar keiner mehr weiß, wer ihn warum gegen wen angefangen hat. Der IS, ursprünglich ein wichtiger Mitspieler, ist nahezu verschwunden. An seine Stelle ist das alte Kräftemessen zwischen auf der "asiatischen Wippe" getreten, wie es der US-Weltstratege Zbigniew Brzezinski nannte.
Angela Merkel, die nicht befragt und nicht beteiligt wurde, hat den für Syrer und Russen kaum noch überraschenden Schlag auf längst geräumte Ziele inzwischen als "notwendig" begrüßt. 


Stillhalten und Zuschauen


Deutschland ist bis hin in seine Großredaktionen stolz, dass es hat stillhalten und zuschauen dürfen. Ein Gefühl, notwendig vor allem für die innere Aufrüstung der westlichen Gesellschaften. Nicht mitmachen heißt nicht, nicht dabeisein wollen. Mit 300 Milliarden Dollar im vergangenen Jahr geben die europäischen Nato-Länder mehr als viermal so viel Geld für Rüstung und Verteidigung aus wie das neuerdings verfeindete Rußland, das nach einem perfiden Plan des skrupellosen Wladimir Putin bereits im zweiten Jahr hintereinander weniger Geld für Rüstung ausgibt als im Jahr zuvor. Die Nato insgesamt gibt damit nun etwa achtmal mehr Geld für Waffen, Soldaten und Interventionen aus als der Feind im Osten.

Ein Zahlenverhältnis, das sich selbst kommentiert. Und wer es nicht versteht, dem erklärt es Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg: "Russland wird immer unberechenbarer und immer aggressiver"



Montag, 23. April 2018

Sicher wie nie: Nur der Osten verdirbt die Bilanz


Je weiter westlich, desto schlimmer wird es: Was eine ganze Reihe von Durchsuchungsaktionen der Polizei in den vergangenen Tagen schon andeutete, bestätigen neue und insgesamt überaus beruhigende Zahlen zur Kriminalität in Deutschland. Während Rechtspopulisten einerseits fixiert auf eine angebliche Zunahme von Messergewalt versuchen, die Bürgerinnen und Bürger aufzuputschen, zeigen die amtlichen Statistiken eine klare Tendenz: Seit einem Vierteljahrhundert sank die Zahl der Straftaten so deutlich, dass aus dem Stand beinahe der Stand von 1992 erreicht werden konnte, als dunkeldeutsche Straftaten noch nicht mitgezählt worden waren.

Welchen positiven Einfluss ein Herausrechnen des ostdeutschen Verbrechens auch heute hätte, machen die bekanntgewordenen Zahlen der noch halbwegs dicht besiedelten ostdeutschen Großstädte deutlich. Die liegen in der Hitparade der beliebtesten Verbrechensschauplätze zwar hinter Frankfurt/Main, Hannover und Berlin. Aber in der Gesamtschau der aktuellen Kriminalitätsstatistik wird deutlich: Auf den Plätzen bis 20 finden sich mit Dresden, Leipzig, Halle, Magdeburg, Erfurt und Chemnitz sechs der sieben ostdeutschen Bevölkerungszentren mit über 200.000 Einwohnern.

Insgesamt gibt es in Deutschland derzeit mehr als 40 solcher Städte, 32 in der ehemaligen alten Bundesrepublik, sieben im früheren Anschlussgebiet. Und den Sonderfall Berlin. Doch während sich im Westen nur jede zweieinhalbte Großstadt einen Platz unter den Top-20 der Kriminalität erobern kann, gelingt es dem Osten, stolze drei Viertel seiner Metropolen in den Verbrechenscharts zu platzieren.

Auch die Einzelzahlen können sich sehen lassen. Dresden liegt mit starken 14.330 Verbrechen pro 100.000 Einwohner auf dem vierten Platz, Leipzig mit 13.900 auf dem fünften und Halle mit rund 12.770 auf dem sechsten. Magdeburg folgt mit rund 11.400 Verbrechen auf Platz 14 der Tabelle, Erfurt und Chemnitz mit rund 10.730 und 10.330 Verbrechen auf den Plätzen 17 und 18. Überschlagsrechnungen besagen, dass jeder Ostdeutsche binnen im Zeitraum von nur sieben bis zehn Jahren eine sichere Chance hat, Opfer einer Stratat  zu werden. In München und Augsburg müssen Bürgerinnen und Bürger doppelt so lange warten.

Deutlich wird auch, dass Dunkeldeutschland eine gleichmäßigere Kriminalitätsverteilung aufweist. Während im alten, besseren Deutschland Städte wie München und das weite, flache Land in Schleswig, der Eifel oder Hessen als leuchtende Beispiele für ein nahezu kriminalitätsfreies Leben stehen, behaupten die weitgehend entvölkerten Bundesländer Sachsen und Sachsen-Anhalt die beiden Spitzenplätze der Verbrechenscharts noch vor dem bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen: Kaum noch jemand lebt hier, doch die verbliebene Restbevölkerung ist offenbar hochgradig kriminell: Mit 323.136 Straftaten begehen vier Millionen Sachsen 23 Prozent der Straftaten, auf die 18 Millionen Nordrhein-Westfalen kommen, obwohl Sachsen nur 22 Prozent der Einwohner Deutschlands stellt.

Andrea Nahles: Die Abwicklerin

Wenn Martin Schulz im vergangenen Jahr die letzte Patrone der deutschen Sozialdemokratie im Kampf ums Kanzleramt war, dann ist seine Nachfolgerin Andrea Nahles was? Der letzte Flitzebogenpfeil? Das letzte Wurfmesser? Ein Kieselstein, der in die politische Arena kullert? Die SPD selbst zweifelt an ihrer neuen Frontfrau, die es trotz handverlesener Delegiertenbesetzung auf dem Sonderwahlparteitag in Wiesbaden nur auf zwei Drittel der Stimmen brachte.

Nur? Was die Leitmedien, der wankenden und schwankenden Sozialdemokratie üblicherweise durchaus wohlgewogen, nun ein "mäßiges Ergebnis" nennt, wie es die "Zeit" tut, die die 47-Jährige vor Wochen noch nach einer drei Jahre alten PPQ-Geschichte zur "Trümmerfrau" der deutschen Sozialdemokratie ernannt hatte, ist ein beachtliches Ergebnis. Immerhin hat Nahles in ihrer Partei damit fast viermal mehr Rückhalt als diese Partei in der Bevölkerung genießt. Und während dieser Partei ein umso härterer Aufschlag in der Wirklichkeit droht, je länger die Parteispitze, die Nahles binnen eines halben Jahres mit ihren Getreuen besetzt hat, die Wahrnehmung dieser Wirklichkeit ignoriert, kann Nahles nun darangehen, in der Parteibürokratie durchzuregieren.

Als Gegenregierung zu den eigenen Ministern will die Fraktionsvorsitzende die Fraktion aufbauen, einerseits zwar an den Fleischtöpfen des Staates, andererseits aber ganz in der Oppossition gegen Merkel, die Nahles eines Tages zu beerben gedenkt. Mit welchem Wahlergebnis der Hoffnungslauf zu diesem Ziel startet, dürfte der Literaturwissenschaftlerin, die schon vor zehn Jahren mit der Erfindung des Nahlismus und der "gerechten Gesellschaft" zu den theoretischen Vordenkern aufgeschlossen hatte, ziemlich egal gewesen sein.

"Mäßiges Ergebnis"? "Maues Ergebnis?" "Zweitschlechtestes Ergebnis aller Zeiten"? "Neustart mit Sand im Getriebe"? Hauptsache, der nächste Schritt, der nach dem überraschend gescheiterten Putsch gegen die Basis schon beinahe gescheitert schien, ist gegangen und die Widerständler in der Partei sind besiegt. Die Machos "haben Sendepause" (SZ). Und die SPD ist zwar "in der Sackgasse", aber am Lenkrad sitzt jemand, dem weder um die SPD noch gar um Land und Gesellschaft geht. Sondern um sich selbst.

Wie ihr Vorgänger Martin Schulz, der im Zwiespalt zwischen dem, was müsste, und dem, was er gern hätte wollen mögen, wie ein Gummiball von Thema zu Thema sprang und hoffte, irgendetwas - Europa, Gerechtigkeit, Menschen, Arbeit - werde schon irgendwann verfangen, versucht es Nahles mit Substantiven, Überschriften und Versprechungen. "Solidarität" hat sie gerufen, ja, "gebrüllt" (Berliner Zeitung), "digital" hat sie gesagt und dass sie die großen Internetkonzerne "zähmen" wolle. Sie hat die Fäuste geballt, eine "Debatte" versprochen und die SPD zum "starken Arm der Bürger" erklärt. Zwischen "Erneuerung", "Friedenspolitik", die natürlich irgendwie mit allen "gemeinsam" sein muss, Kritik am "Kapitalismus" und irgendwas mit "sozialem Engagement" knallen es die üblichen Worthülsen, allesamt Platzpatronen.

Wo Merkel "wir schaffen das" sagt, verspricht Angela Nahles "wir packen das". Originell wie ein "Spiegel"-Titelbild mit Trump, Merkel und Macron. Andrea Nahles, die für die SPD so viel Erneuerung verkörpert wie Egon Krenz das 1989 für die SED tat, führt sich als Abwicklerin der ältesten deutschen Partei stilecht ein.