Donnerstag, 3. Januar 2019

New York Times: Deutschland ist kaputt


Im Juni noch machte sie Donald Trump klar, wie man eine Welt regiert und rettet. Im Dezember dann stürzte sie auf dem CDU-Parteitag in Hamburg, bekam aber fast zehn Minuten Abschiedsapplaus. Doch nun scheint die Phase zu beginnen, in der Angela merkels feinde im In- und Ausland die Messer wetzen und darangehen, die Verdienste der ersten Hamburgerin im höchsten Regierungsamt zu zerreden. Ein Oliver Nachtwey, Autor von "Deutschlands verborgener Krise: sozialer Verfall im Herzen Europas", schaffte es mit einem Aufsatz namens "Es ist egal, wer Merkel ersetzt. Deutschland ist kaputt" in die renommierte New York Time.

In einer Serie mit "informierten Meinungen zu den wichtigsten Fragen von heute" stellt der Autor die historischen Erfolge der Ära Merkel weitgehend in Abrede. PPQ dokumentiert die Schrift auf deutsch. Beobachter gehen inzwischen davon aus, dass der Autor im Exil verbleiben wird.


Nachfolge liegt in der Luft. Nach 18 Jahren tritt Angela Merkel als Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Union, Deutschlands Regierungspartei seit 2005, zurück. Aber wer auch immer Frau Merkel folgt - für viele De-facto-Führerin Europas - wird eine zerbrechliche Partei erben und, falls Frau Merkel nicht will oder nicht in der Lage ist, bis 2021 an ihrer Kanzlerschaft festzuhalten, ein zersplittertes Land.

Die Stabilität und Monotonie der deutschen Politik unter Frau Merkel scheinen nun zu Ende zu gehen. Merkels bevorstehender Ruhestand markiert eine sich vertiefende Krise des deutschen politischen Systems, die nicht nur die Zukunft des Landes, sondern auch der Europäischen Union bedroht.

Erklärungen für diese Umstellung beginnen und enden oft bei Frau Merkel. Ihr Umgang mit der sogenannten Flüchtlingskrise und ihr unbehaglicher, distanzierter Stil entfremdeten große Teile der Wählerschaft. Die allmähliche Schwächung der Parteien der politischen Mitte hat wiederum die Polarisierung und die Zersplitterung der Wähler gefördert.

Aber Frau Merkel ist trotz ihrer Macht und ihres Einflusses nur eine Politikerin. Die neue politische Krise in Deutschland geht viel tiefer. Sie stammt aus einem Wirtschaftssystem, das zu stagnierenden Löhnen und unsicheren Arbeitsplätzen geführt hat. Die Erosion der Nachkriegsordnung in Deutschland - ein starker Sozialstaat, Vollzeitbeschäftigung und die Möglichkeit, aufzusteigen - hat eine Bevölkerung geschaffen, die sich für Botschaften und Bewegungen öffnet, die zuvor an den Rand verbannt waren.

Dabei schien Deutschland politisch wie wirtschaftlich eine Erfolgsgeschichte zu sein. Das Bruttoinlandsprodukt ist seit fast einem Jahrzehnt beständig gewachsen. Die Arbeitslosigkeit ist auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung im Jahr 1989. Deutschland hat durch die Anhäufung von Handelsüberschüssen mehrere Vorteile: einen fortschrittlichen Fertigungssektor; die Fähigkeit, Primärprodukte und -dienstleistungen von anderen Mitgliedern der Europäischen Union zu beziehen; und durch den Euro effektiv eine abgewertete Währung, so dass Exporte einfacher sind.

Das System hat jedoch einen Preis. Um ihren Wettbewerbsvorteil auf dem Weltmarkt zu erhalten, haben die deutschen Unternehmen die Löhne niedrig gehalten. Zwar blieben die Gehälter der qualifizierten Arbeitskräfte im exportorientierten verarbeitenden Gewerbe stabil oder stiegen sogar an, weniger qualifizierte Arbeitskräfte und Niedriglöhner aber litten darunter. Möglich wurde dies durch die Dezentralisierung der Tarifverhandlungen in den 1990er Jahren, die die Macht der Gewerkschaften stark schwächten.

Der andere, alarmierendere Grund, der der politischen Krise des Landes zugrunde liegt - der mit der Wirtschaft verbunden ist, sich aber von ihr unterscheidet - ist die Erosion des deutschen Sozialmodells in den letzten Jahrzehnten. Obwohl es nie so sozial inklusiv war wie die skandinavischen Länder, verfügte Nachkriegsdeutschland über einen umfassenden Wohlfahrtsstaat und robuste Gewerkschaften, die sicherstellten, dass Bürger aus den unteren Schichten einen angemessenen Lebensstandard und ein bisschen Wohlstand durch Vollzeitbeschäftigung erreichen konnten.

In Westdeutschland, wo sichere Arbeitsplätze die Norm waren, bildete die Vollzeitbeschäftigung die Grundlage für die soziale Integration. Die klassische Metapher, um dieses Arrangement zu beschreiben, wurde in den 1980er Jahren von dem Soziologen Ulrich Beck geprägt: der „Aufzugseffekt“. Dies implizierte, dass trotz sozialer Ungleichheit immer noch alle in demselben sozialen „Aufzug“ standen. Die Kluft zwischen Reich und Arm würde sich nicht vergrößern, so das Versprechen.


Dreißig Jahre später ist diese Gesellschaft verschwunden. Die durchschnittlichen Realeinkommen sanken seit fast 20 Jahren ab 1993. Deutschland wurde nicht nur ungleicher, sondern der Lebensstandard der unteren Schichten stagnierte oder sank sogar. Die niedrigsten 40 Prozent der Haushalte sind seit rund 25 Jahren mit jährlichen Nettoeinkommensverlusten konfrontiert, während die Arbeitsplätze, die langfristige Stabilität versprechen, schwächer wurden.

Die Anzahl prekärer Jobs wie temporärer Positionen ist explodiert. Während der Blütezeit der Nachkriegszeit boten fast 90 Prozent der Arbeitsplätze eine dauerhafte Beschäftigung mit Schutz an. Bis 2014 war der Wert auf 68,3 Prozent gefallen. Mit anderen Worten, fast ein Drittel aller Arbeitnehmer hat unsichere oder kurzfristige Arbeitsplätze. Es entstand ein Niedriglohnsektor, in dem Millionen von Arbeitnehmern beschäftigt waren, die sich Grundbedürfnisse kaum leisten können und oft zwei Arbeitsplätze benötigen, um auskommen zu können.

Die deutsche Mittelschicht schrumpft und fungiert nicht mehr als zusammenhängender Block. Obwohl die obere Mittelschicht immer noch ein hohes Sicherheitsniveau genießt, besteht für die untere Mitte ein sehr reales Risiko einer Abwärtsmobilität. Das relativ neue Phänomen einer sich zusammenziehenden und intern gespaltenen Mittelschicht hat Ängste ausgelöst.

Anstelle eines einzigen Aufzugs gleicht Deutschland heute einer Rolltreppenbank in einem Kaufhaus: Eine Rolltreppe hat bereits einige wohlhabende Kunden in die obere Etage gebracht, während für die darunterliegenden die Fahrtrichtung umgekehrt wird. Die tägliche Erfahrung vieler ist durch das ständige Auffahren einer Rolltreppe nach unten gekennzeichnet. Selbst wenn Menschen hart arbeiten und sich an die Regeln halten, machen sie oft wenig Fortschritte.

Diese Ängste vor dem sozialen Niedergang beschleunigen auch die Fremdenfeindlichkeit. Es besteht kein Zweifel, dass eine Mehrheit der Deutschen die neuen Einwanderer mit etwas mehr als zwei Millionen Einwohnern begrüßte, die 2015 kamen. Aber bedeutende Teile des unteren mittleren und der Arbeiterklasse missbilligten dies. Wenn der Aufstieg nicht mehr möglich erscheint und kollektiver sozialer Protest fast nicht existiert oder unwirksam ist, neigen die Menschen dazu, sich zu ärgern. Dies hat zu einer zunehmenden Unzufriedenheit mit den alten großen Parteien, den Christdemokraten und den Sozialdemokraten geführt.

8 Kommentare:

Die Anmerkung hat gesagt…

https://www.nytimes.com/2018/12/07/opinion/merkel-germany-christian-democrats.html

Opinion
It Doesn’t Matter Who Replaces Merkel. Germany Is Broken.
The erosion of the country’s postwar order has created a populace open to messages and movements previously banished to the fringes.

By Oliver Nachtwey
Mr. Nachtwey is the author of “Germany’s Hidden Crisis: Social Decline in the Heart of Europe.”

publizist hat gesagt…

in Einem muß ich allerdings dem Autor Nachtwey widersprechen: es ist ausgeschlossen, daß 2015
die 2 Mio. Eindringlinge - in der Minderheit syrische Kriegsflüchtlinge - von "einer über=
wiegenden Mehrheit der Deutschen willkommen geheißen wurden"!
Das halte ich für ausgeschlossen, nicht nur ärmere, minderbemittelte Deutsche haben diese
Invasion verurteilt, auch andere, besser verdienende, wenn eine Hälfte für diese Einwan=
derung in unser Sozialsystem gutgeheißen wurde, dann sicherlich nur deshalb, weil diese
Gruppe durch Politik und Massenmedien massiv getäuscht worden ist, die finanziellen und
sozial-menschlichen Folgen verschwiegen wurden!
Irgendwo habe ich den Namen des Autors Oliver Nachtwey schon gehört oder gelesen, woher stammt
dieser Mensch? Gehört er einer politischen Partei an? Ist er Jounralist? Wer weiß eine Antwort darauf?

7upMan hat gesagt…

@PPQ: Es wäre ganz gut, wenn Du den Link zu dem NYT-Artikel in Deinen eigentlichen Artikel setzen würdest. Ich habe zuerst gedacht, es wäre wieder eine Deiner üblichen Glossen...

Sauer hat gesagt…

Der Ami will uns angst machen! Das ich nicht lache: Deutschland ist kaputt! Etwas Blöderes habe ich lange nicht gelesen. Von wegen, wir sind den Amis meilenweit voraus und kreieren schon jetzt die Gesellschaft von morgen. In einem Trump-Land kann man natürlich nicht wissen, was für die Menschen gut ist, in einem solchen Land klammert man sich noch an die Ideen von vorgestern. Die mit Trump eingezogene Unfreiheit im Denken blockiert jede Reflexion über eine Zeit, in der weder Industrie noch soziale Sicherheitssysteme noch gebraucht werden. Hans Achtelbuscher hat dankenswerteweise untersucht, was eine Deindustrialisierung für uns bedeuten würde. Und siehe da, ihre Folgen wären in jeder Hinsicht vorteilhaft. Unser Lebensstandard würde sich um kein Jota verschlechtern. Dabei berücksichtigt Achtelbuscher noch nicht einmal den psychischen Nutzen eines kompletten Rückbaus der Industrie: Der Mensch wird nicht mehr gezwungen, 200 Tage eines Jahres in öden Fabrikhallen oder Büros zu verbringen. 1600 Stunden, die Anfahrtszeit zur Arbeitsstelle nicht eingerechnet, opfert er jährlich dem Moloch Industrie, eine Strafe schrecklicher als Allah sie nicht schrecklicher hätte ausdenken können. Und was hat der Mensch davon? Ein zerrüttetes Nervensystem und nichts als Ärger mit dem Lebenspartner, der auf die paar Kröten, die er als scheinbare Entschädigung für seinen Aufenthalt im Gefängnis namens Industrie gönnerhaft in die Hand gedrückt bekommt, spuckt Das ist doch kein menschenwürdiges Leben!

Auf Sozialsysteme können wir genauso leicht verzichten wie auf Fabriken und Büros. Wer die Konzepte von rot und grün für eine bedingungslose, von jedem Zwang zur Aufnahme einer Lohnarbeit befreite Grundsicherung kennt, weiß das Malochen und Geldverdienen anachronistisch sind und nicht in die heutige Zeit passen. Das einzige, was der Bürger noch tun muß, ist einmalig seine Kontonummer der Auszahlungsstelle mitzuteilen und schon rollt der Rubel aufs Konto. Nur einmal muß er diesen beschwerlichen bürokratischen Gang gehen, dann ist er für alle Zeit dieser Last enthoben. Daraus ergibt sich gleichzeitig ein drastischer Abbau der staatlichen Bürokratie, die Registrierung der Kontonummer und die anschließenden Geldanweisungen kann durchaus ein Roboter übernehmen.

Wie gut durchdacht diese Idee der Grundsicherung ist, kann man am Entfall eines ernsthaften Willens zur Suche einer Arbeitsstelle als Bedingung für den Erhalt des Sicherungsgeldes erkennen. In dieser Idee ist der Tod der Industrie schon mitgedacht, denn ohne Industrie gibt es auch keine Arbeitsstellen, die ein Antragssteller antreten könnte. Ein umfassend geniales Konzept.

Mit der Auslöschung der Industrie und der Einführung der Grundsicherung treten wir ein in eine win-win Situation: Es profitiert der Mensch und die Umwelt!

ppq hat gesagt…

hervorragende analyse, das übernehme ich

Carl Gustaf hat gesagt…

"anschließenden Geldanweisungen kann durchaus ein Roboter übernehmen"

Ich denke, dass die Geldanweisung nicht durch Roboter, sondern durch die Afrikaner übernommen wird. Das machen die heute schon tausendfach, mit den Überweisung nach daheim. Derartige Transfers sind bereits eine Art Grundeinkommen für die daheim gebliebene Familie.
Aus diesem Grund würde das ständige Gerede von den Fachkräften vor morgen, die dringend gebraucht werden, auch endlich einen Sinn ergeben.

Carl Gustaf hat gesagt…

"Irgendwo habe ich den Namen des Autors Oliver Nachtwey schon gehört oder gelesen, woher stammt
dieser Mensch? Gehört er einer politischen Partei an? Ist er Jounralist? Wer weiß eine Antwort darauf?"

Nachtwey ist zwar eine Art Neomarxist, ansonsten politisch angepasst aber unverdächtig.
Ansonsten typisches Soziologengewäsch, garniert mit ein bisschen Frankfurter Schule, aber ohne jeglichen intellektuellen Tiefgang.

publizist hat gesagt…

Danke, Carl Gustav, für diese Information.


Das ist ja ganz lustige Seite, habe ich eben so nebenbei bemerkt, die Ironie und Vergesäßung
quillt ja nur so aus etlichen Beiträgen, herrlich!
Da muß ich auch meinen (Dijon)Senf dazugeben: ich kenne eine liebe Anette, die ist auch sehr
politisch-kritisch, muß ich der jetzt die Kette hier zurückgeben oder schreibe ich ihr, sie soll sie sich hier abholen? Ja, ich schreibe ihr: Nette Anette, hol Dir deine Kette bei
PolitPlatschQuatsch ab!