Freitag, 22. August 2008

Ein Überfluß an Überdruss

Es regt sich nichts, es bewegt sich nichts, die Gesellschaft ist eingefroren zwischen den ewig gleichen Fronten aus Sozialjammer und Steuerklage. Die Atmosphäre in Deutschland am Anfang des dritten Jahrtausends erinnert beklemmend an die letzten Jahre der DDR.

Hier und heute ist auch kein Land, dem man das ewige Leben zutraut; kein Land, von dem man auch nur raten möchte, wie es in 30, 45 oder 70 Jahren aussieht. Eine Ökodiktatur? Eine halbsozialistische EU-Provinz? Ein vom großen Geld regiertes Viertes Reich unter der Ägide folternder Amerikaner? Eher wahrscheinlich, dass alles nicht, wie Gerhard Schulze, der Empirische Sozialforschung an der Universität Bamberg lehrt, in einem bemerkenswert realistischen Essay in der "Welt" schreibt. Vermutlich nämlich wird Deutschland nur sein wie heute. Ludwig Erhards Verheißung vom Wohlstand für alle ist wahr geworden, aber alle sind des Wohlstands längst zu überdrüssig, um ihn auch nur noch wahrzunehmen. Statt Entwicklung und Fortschritt heißt der neue Geist Konservierung: Die Deutschen sind ein Volk von Besitzstandswahrern geworden, die mit der Marktwirtschaft hadern und sich angesichts unendlicher Möglichkeiten nur noch... ja, ausdauernd langweilen.

Wohlstand für alle! Als Ludwig Erhard diese Idee in die Welt setzte, hatten die Deutschen noch viele Wünsche offen. Mit leuchtenden Augen standen sie vor den Auslagen der Nachkriegskaufhäuser und träumten vor sich hin. Hätte ich doch nur dies! Könnte ich doch nur jenes! Kaum zu glauben, was in den Jahren darauf für die breite Masse in Erfüllung ging: Auto, Eigenheim, Waschmaschine, Kühlschrank, Fernseher, Mobiltelefon. Bezahlter Urlaub, ein vielfältiges Kulturangebot, eine freie Medienlandschaft, ein weithin gepflegter öffentlicher Raum, eine funktionierende Infrastruktur rundeten die Sache nach und nach ab. Während planwirtschaftlich-totalitäre Systeme immer nur erreichten, dass alle gleich arm waren, der öffentliche Raum überall gleich verkam, die Medien gleichgeschaltet und alle gleich drangsaliert wurden, erfüllte sich in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland auf breiter Basis das Motto Ludwig Erhards: Wohlstand für alle.

Trotzdem steht die Marktwirtschaft wie selten zuvor in der Kritik. Der Ruf nach mehr Staat und weniger Markt ist deutlich hörbar. Immer mehr Menschen zweifeln daran, dass die Marktwirtschaft für sie etwas Gutes bedeutet. Sie sehen frustriert, wie viel Netto vom Brutto ihnen monatlich bleibt, jede noch so magere Lohnerhöhung wird von der Steuerprogression aufgefressen. Obwohl es der Staat ist, der die Erwerbstätigen ausnimmt, und nicht der Unternehmer, lasten viele die Ungerechtigkeit der Marktwirtschaft an statt der Steuerpolitik, durch die jeder halbwegs Tüchtige zur starken Schulter erklärt und zur Kasse gebeten wird.

Die Menschen fürchten sich davor, ihren Job zu verlieren und in ALG II abzurutschen, denn das ist so ziemlich das Entwürdigendste, was einem Arbeitnehmer und Leistungsträger heute passieren kann. Auch hier liegt die Ursache im staatlichen Eingriff, in einer schlecht gemachten Reform. Doch selbst die verhasste Zusammenlegung von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern hält kaum jemand davon ab, den Markt für alle Übel verantwortlich zu machen. Trotz der chronischen Unfähigkeit von Staatsapparaten, die Menschen mit allem zu versorgen, was sie zum Leben brauchen, erscheint die DDR heute vielen als Sozialparadies und Kuschelzoo, in dem keiner Angst haben musste, ins Abseits zu geraten. Zehn Prozent der Deutschen wollen bei der nächsten Bundestagswahl die Linkspartei wählen. Doch gerade diese Partei, die offen für Verstaatlichung, Planwirtschaft und eine möglichst hohe Staatsquote steht, würde uns noch mehr Geld aus der Tasche ziehen. Mehr Netto vom Brutto würde unter den Linken erst recht nicht im Geldbeutel bleiben, vor allem bei denen nicht, die aufgrund eigener Anstrengung auch nur ein klein wenig bessergestellt sind als andere.

Wer oder was ist schuld an der Wohlfühlkrise, die Deutschland ergriffen hat? Wie kann es sein, dass politische Vorstellungen sich angesichts einer Gruppe schlecht verdienender Wachleute, Friseure oder Hilfsarbeiter zunehmend darauf richten, die Marktwirtschaft abzuschaffen und durch ein staatlich gelenktes System zu ersetzen, in dem subventionierte Arbeitsplätze, noch mehr Transferleistungen und Schulden machen ganz oben auf der Agenda stehen?

Die Feinde der Marktwirtschaft spielen das sogenannte Gemeinwohl gerne gegen das Individualprinzip aus. Hier die atomisierten Individuen, hilflos der Kälte des Neoliberalismus ausgesetzt, wurzellos, hedonistisch, konsumorientiert. Dort der regulierende, vorsorgende Staat, der die Menschen erzieht, nährt und kleidet. Die Klagen über die Bindungslosigkeit des modernen Menschen, über den Werteverfall und den irregeleiteten Konsumismus - sie alle gehören zum rhetorischen Arsenal derjenigen, die nach dem starken Staat rufen. Kontrolle! Regulierung! Einheitlichkeit! Reduktion! Unter dem Deckmantel der Kulturkritik wird am Fundament der Moderne gekratzt, denn mehr Staat ist nur zum Preis von weniger Freiheit zu haben.

Moderne und Marktwirtschaft haben uns einen nie da gewesenen kollektiven Wohlstand beschert, aber wenn selbst die Anwärterin auf das höchste Staatsamt, Gesine Schwan, gegen den Konsum zu Felde zieht und demonstrativ verkündet, immer nur gebrauchte Kleider zu kaufen, beginnt man schon am gesunden Menschenverstand zu zweifeln. Wenn das nun alle machen würden! Der erste Markt, aus dem ihre Kleider stammen, würde zusammenbrechen, und schon bald gäbe es ihn mangels Nachfrage nicht mehr. Wenig später würden die Leute nur noch in Lumpen herumlaufen, denn auch den Secondhandläden ginge der Nachschub aus. Etliche bisher sichere Arbeitsplätze wären verloren und mit ihnen all die vielen Möglichkeiten, sich so oder so mit Kleidung einzudecken. Die Verachtung von Konsum und Marktwirtschaft auf höchster politischer Ebene kann nicht besser zum Ausdruck bringen, was die Stimmung in den alten Industriestaaten heute kennzeichnet: wohltemperierter Überdruss, Sinnkrise und bloß nicht darüber reden, wie gut wir es haben.

Den Deutschen geht es materiell gesehen besser denn je. Die obere Hälfte der Einkommensbezieher trägt rund 95 Prozent der Steuerlast. Zwei Drittel der Erwerbsfähigen leben von eigener Arbeit - Minijobs und Teilzeitbeschäftigung nicht eingerechnet. Die meisten Arbeitnehmer verfügen über einen festen, sozialversicherten Arbeitsplatz. Lediglich zu Beginn des Berufslebens und an dessen Ende findet eine gewisse Deregulierung statt, wie eine neuere Studie zur Flexibilisierung des Erwerbsverlaufs aus der Forschungswerkstatt meines Bamberger Kollegen Hans-Peter Blossfeld ergeben hat.

All dies scheint in der Wahrnehmung nicht zu zählen. Trotz aller Potenziale und trotz des gehobenen Lebensstandards fühlen sich immer mehr Menschen vom sozialen Abstieg bedroht. Folglich wollen sie das Erreichte in Sicherheit wissen. Den allzu schlichten Wachstumsgedanken haben sie hinter sich gelassen, immaterielle Werte gewinnen an Bedeutung: weniger arbeiten, mehr Zeit mit der Familie verbringen, ein Musikinstrument lernen, eine Reise machen, einen Yoga-Kurs belegen. Den erreichten Wohlstand halten, ohne alles nur dafür zu investieren: Das ist aus der Gesellschaft der still vor sich hin schuftenden Häuslebauer geworden, wenn man einer aktuellen Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach folgt.

Nimmt man das ernst, steht die Marktwirtschaft vor einer Identitätskrise. Aus Sicht des herrschenden ökonomischen Paradigmas stellt die Erhaltung des Status quo keinen besonderen Wert dar, im Gegenteil. Die industrielle Produktion beruht darauf, dass das jeweils Erreichte möglichst bald veraltet und durch etwas Neues ersetzt wird. Genau dies jedoch sehen viele nicht mehr ein, und es ist auch gar nicht möglich. In Sicht kommt das Paradigma der Bestandswirtschaft.

Die Erhaltung und Pflege des Erreichten ist heute in kaum einem politischen Programm zu finden. Die einen schreiben sich den Fortschritt auf die Fahnen, die anderen den Rückschritt und predigen Ausstieg, Rückbau, Selbstkasteiung. Wohlstand für alle? Für die Feinde der Marktwirtschaft ist das Motto Ludwig Erhards so akzeptabel wie eine Hure im Vatikan. Die Frage aber, ob ich in Zukunft meine Wohnung noch ausreichend heizen kann, einen gepflegten öffentlichen Raum vorfinde, ein eigenes Auto fahre und nachts eine Glühbirne statt eine Sparfunzel einschalten darf, berührt die Sorgen und Bedürfnisse vieler Bürger. Nur von einer Ökonomie, die schon unter Beweis gestellt hat, dass sie trotz staatlicher Eingriffe prächtig gedeihen kann, dürfen sie eine Anpassung an neue Zeiten, dürfen sie eine Ankunft im 21. Jahrhundert erwarten.

2 Kommentare:

  1. Heute ist Armut das Erstrebenswerte. Nicht umsonst zieht es Reiche und Hässliche gleichermassen in Länder, die noch nicht mal das Niveau Deutschlands vor dem 30jährigen Krieg erreicht haben, um dort zu seufzen, was sind die Menschen hier doch glücklich, mit ihrer Schale Reis am Tag und der abgenutzten Plastikplane von der Müllhalde. So etwas wollen wir auch. Und dann fahren sie zurück nach Deutschland und setzen es um. Alle gleich arm zu machen.

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  2. und zwar alles mit dem segen des dalai lama.

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