Dienstag, 21. September 2010

Tass ist ermächtigt, zu erklären

"In unserem Land ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört", schrieben die Mütter und Väter der friedlichen Revolution in der DDR vor zwei Jahrzehnten in ihrem Aufruf "Aufbruch 89 - Neues Forum" (Original im Bild oben) - und selten behielt ein offener Brief von unten nach oben so nachhaltig Recht. 20 Jahre nach dem Vollzug der deutschen Einheit ist der Patient ein anderer, die Diagnose aber stimmt immer noch. Während eine kleine Schicht aus Parteifunktionären, Berufspolitikern, Medienschaffenden und Talkshowschauspielern gesellschaftliche Debatten simuliert, steht das nun einige Volk stumm und staunend vor den Empfängern. Das also sollen die Sichtachsen sein, durch die sich 82 Millionen Inländern der Blick auf die Realität eröffnet?

Es ist wie in den Tagen, als Tass ermächtigt war zu erklären, welche Wahrheit das Politbüro beschlossen hatte. Die Kanzlerin, in Hamburg geboren und im Osten sozialisiert, erklärt unerwünschte Meinungen Kraft ihres Amtes zu "unnützen", der Bundespräsident, infolge einer mittleren Staatskrise ins Amt gescheitert, nachdem sein Vorgänger aus nie geklärten Gründen das Handtuch geworfen hatte, betont die Unabhängigkeit der Staatsbank und unterminiert sie im nächsten Halbsatz.

Von den Rängen kommt Applaus wie bestellt, nicht stures Nachfragen nach Hintergründen. Tass ist ermächtigt zu erklären, dass alles seine Ordnung hat. Ein Buchautor, wegen Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung mit Berufsverbot bedroht, muss die Regierenden schließlich vor dem Untergang retten, indem er staatsbürgerlich verantwortlich auf sein Recht verzichtet, die Schnellschwätzer vor Gericht bloßzustellen. Und den Staat damit, nur fünf Monate nach seiner letzten, erneut in eine Machtkrise zu stürzen.

Zu lesen ist dazu nichts. Zu hören ist dazu nichts. Die Talkshows diskutieren Stilfragen, das Publikum darf sich in Umfragen äußern. Kommentatoren vergeben Haltungsnoten. Die Regierenden gehen dazu über, in Ermangelung von Handlungsmöglichkeiten in der Gegenwart die Zukunft zu regieren. Den Parlamenten, die nachkommen werden, wird verboten, was sich jedes Parlament bisher als Grundrecht nahm: Das Schuldenmachen. Auch dem Bürger, der vor 20 Jahren euphorisch in die neue Freiheit taumelte, kommt man inzwischen am besten mit Verboten bei, die ihm suggerieren, dass sein Staat sich kümmert. Mit Glücksspiel, Nikotinverbot, dem Verbot nächtlicher Biereinkäufe, der frühkindlichen Zwangserziehung außer Haus, dem nachmittäglichen gemeinsamen Lernen in der Jungpionierfreundschaft, der Neuerfindung des guten alten "Klassenfeindes" als gesellschaftsgefährdendes Nazischwein und der Überwachung des Bürgers durch elektronische Peronalausweise, gläserne Gesundheitskarten und Sammeldatenbanken beim Finanzamt. Das alles gut getarnt durch den öffentlich und hysterische geführten Kampf gegen die Vollerfassung deutscher Hausfassaden.

"Wenn es wenigstens ein politisches Klima gegeben hätte, in dem man offen über die Probleme diskutiert hätte", wird die Systemgegnerin und Kaviarfreundin Sahra Wagenknecht in nicht allzu ferner Zukunft wieder barmen, diesmal mit der Erkenntnis im Hinterkopf, dass nun auch den Leuten im Westen zu lange erzählt worden sei, dass sie alles haben und einfach glücklich sein müssten. "Da fühlten sie sich einfach verarscht, und damit hatten sie ja auch recht."

Während ein Ministerpräsident in Hauslatschen unkommentiert von seinen sonst stets meinungsbereiten Parteigenossen den Import von Katholiken zur Aufrechterhaltung der Art fordert, arbeiten die Regierenden an der Einrichtung eines vormundschaftlichen Staates , wie ihn der längst vergessene DDR-Dissident Rolf Henrich vor mehr als 20 Jahren in seiner siechenden sozialistischen Heimat entdeckt hatte.

Betreutes Leben rund um die Uhr, mit Staatskino im Abendprogramm. Tass ist ermächtigt, zu erklären, dass alles seine gute Ordnung hat, berichten "Spiegel", "Zeit" oder "FAZ" abwechselnd vorab. Die Kanzlerin hat Tacheles gesprochen, die Arbeitsministerin neue Wohltaten vorbereitet, der Verteidigungsminister will auf Fremdenlegion umstellen, der Oppositionsführer droht faulen Ausländern mit Abschiebung, obwohl nirgendwo im deutschen Recht ein Hinweis darauf zu finden ist, dass Integration Voraussetzung für den dauerhaften Aufenthalt in Deutschland ist.

"Wir weinen ihnen keine Träne nach", wird Kanzler Sigmar Gabriel, einst Pop-Beauftragter der Bebel-Erben, bei der Verabschiedung des letzten Zuges mit Abschiebehäftlingen am Berliner Hauptbahnhof sagen, die Hand stolz zum Winken erhoben. Bärbel Bohley ist tot, Rolf Henrich in Rente und Tass ermächtigt, zu erklären: Alles wird gut. Nur wer entschlossen handelt, verhindert einen neuen Sarrazin, schafft nach jedem Amoklauf immer wieder neues, verschärftes Waffenrecht, das alle künftigen verhindert, schützt Anleger, verhindert Finanzkrisen, Millionenprämien für Banker und schmutzige Speisegaststätten. Nur wer politisches Handeln unermüdlich simuliert, behält die Macht.

8 Kommentare:

Die Anmerkung hat gesagt…

Schon wieder so'n Artikel, bei dem das Schinkenbrot auf die Magenwand drückt.

Wie definiert man eigentlich den aktuellen Zustand, wo die Regierung nicht weiß, was sie regieren soll, weil es nichts zu regieren gibt?

M.E. haben wir es mit den gegenwärtig an der Macht befindlichen Nasen um eine gefährliche Mischung aus Spießbürgern und Machtmenschen zu tun, die sich gegenseitig wunderbar die Karten zuspielen. Die einen sind strohdoof oder tun so und geben den dummen August, die anderen nehmen dann den Ball auf und legen die Karten offen.

Aigner mobilisert gegen Straßenkucken und im Hintergrund wird E-Perso, Elena, Nackichmachscanner usw. durchgewunken, ohne daß jemand was merkt.

Die wirklich wenigen wichtigen Entscheider haben den Laden perfekt im Griff. Wer aufmuckt, fliegt raus. Wer Blödsinn macht, darf bleiben. Vor allem wissen sie genau, was sie wollen, die totale Kontrolle über das Volk.

Und Merkel ermahnt die ganze Welt.

Beängstigend.

ppq hat gesagt…

@die anmerkung: deshalb muss es ja raus. deiner analyse würde ich zustimmen. regiert zu werden von leuten, die nicht mal wissen, was sie wann sagen dürfen, ist neu für mich. dabei hatte ich schon ulbricht, honecker, krenz, modrow, de maiziere, kohl und schröder.

die derzeitige mischung aus unfähigkeit, dummheit, selbstherrlichkeit, verlogenheit und dreistigkeit ist einmalig

Boche hat gesagt…

Das wirkt ja fast so ergreifend, wie damals des Neuen Forums Aufruf. Großartiger Artikel!

ostseestadion hat gesagt…

ist die nich aus hämburch ?
also in hamburg geboren ?

R.A. hat gesagt…

> Die wirklich wenigen wichtigen
> Entscheider haben den Laden
> perfekt im Griff.
Noch nicht einmal das.
Es gibt keine "wenigen wichtigen Entscheider", sondern einen Pulk von Mitentscheidern, die dauernd nur versuchen zu raten, wo der Pulk morgen stehen wird. Damit sie sich rechtzeitig in diese Richtung bewegen können.

Und "perfekt im Griff" haben die auch nichts. Sondern sie wundern sich am Ende wohl noch selber, welches Ergebnis das Gemuddel aus lauter Einzelmeinungen, tagespolitischen Spontanentscheidungen und normaler Inkompetenz gezeitigt hat.

Muriel hat gesagt…

War es denn mal besser?

ppq hat gesagt…

hamburg ist korrigiert. danke für den hinweis, ich weiß nícht, wie ich die in bremen verorten konnte...

weiter unten hat nwr das beste dazu gesagt, was ich dazu gelesen habe: auf die frage, wer das medienorchester dirigiert, erklärt er:

Das Orchester selbst. Der Ablauf ist doch immer der gleiche:

Einer wagt gewagte Thesen, ein Empörungsmedium nimmt das Thema empört auf, alle Skribenten der Einheitspresse empören sich mit. Schert einer aus, würde er ebenso fertig gemacht, zumindest aber als "nicht ernstnehmbar" negiert. Wo soll denn da eine Verschwörung sein? Das ist archaisches Rudelverhalten - wer sich nicht anpaßt, wird werggebissen.

Das ist genau der Menschenschlag, der bis 1945 den Endsieg predigte und in der DDR gegen Fluchtverbrecher hetzte. Und das nicht nur aus Zwang, weil ihnen jemand eine Pistole an die Schläfe hielt.

VolkerStramm hat gesagt…

War es denn mal besser?
Auch auf die Gefahr als rechtsradikaler Neonazi entlarvt zu werden: Ja, es war mal besser.
Zur Zeit von Wilhelm I. und II.
Diese Zeit wird zwar gern karrikiert, parodiert und schlecht gemacht. Aber Typen wie Merkel, Edathy & Co. sind da nicht so weit nach oben gekommen.
Und Gleichschaltung war damals nicht mal als Wort bekannt.
Meine Herren vergessen wir's nicht, auch das konservativste Blatt ist immer noch mehr Blatt als konservativ.
Mal abgesehen davon dass es (die JungeFreiheit vielleicht ausgenommen) in Deutschland kein nennenswertes konservatives Blatt gibt, ist diese Größe heute bei unseren Medienfuzzies vorstellbar?
Es war einmal ...