Mittwoch, 29. Mai 2019

Postenkampf in Brüssel: Kontinent in gute Hände abzugeben

Um einen den korrekten neuen Kommissionspräsidenten zu finden, müssen die 28 EU-Staatenlenker nach neuen Berechnungen 372 Kraftlinien und 612 Bedeutungsebenen beachten.
Oh, Europa! Der Franzose will nun einen Deutschen verhindern, die Deutschen aber können keinen Sozialdemokraten durchwinken, der die Wahl verloren hat. Es geht ums Prinzip, allerdings eines, das erst vor fünf Jahren erfunden worden war, als Rot und Schwarz, die beiden großen Lager, die die EU führen wie ein auf alle Zeit verliehenes Lehen, gleichermaßen der Ansicht waren, ihr jeweiliger Kandidat könne vom Rückenwind der frisch erfunden Position eines "Spitzenkandidaten" bei der EU-Wahl profitieren.

Es war dann nicht so. Nur messerscharfe Hinterzimmer-Pokerspiele konnten den damaligen SPD-Chef Sigmar Gabriel dazu veranlassen, einen Verzicht auf den Spitzenposten in der Kommission zu erklären. Wenn sein Freund Martin Schulz als Abfindung den Job des EU-Parlamentspräsidenten bekomme.

Schlag ein! Nein, diesmal wird es noch weit schlimmer sein. Macron hat eigens eine eigene Fraktion im EU-Parlament gegründet, um den Deutschen Manfred Weber verhindern zu können. Angela Merkel wird dessen Zählkonkurrenten, den armen Wahlverlierer Frans Timmermans deshalb niemals akzeptieren. Doch Margrethe Vestager, die Dänin, mit der eigentlich alle leben könnten, weil sie nie viel falsch macht und schnell versteht, auf welche Ankündigungen man besser nie wieder zurückkommt, war kein "Spitzenkandidat". So dass es schwer werden würde, dem Publikum daheim zu erklären, weshalb dieser eben noch so konstitutionell wichtige Posten nun gar keine Rolle mehr spielen soll.

Zwar haben die Groko-Parteien nicht mehr viel Glaubwürdigkeit zu verlieren, doch um Macrons Wunsch zu erfüllen, den alten Sarkozy-Kämpen und Wasserlobbyisten Michel Barnier wählen zu lassen, müsste der Europa-Erneuerer aus Paris etwas bieten. Den Chefposten der EZB etwa, den der Italiener Mario Draghi im Herbst abgeben muss. Allerdings ist der Deutsche Jens Weidmann, der erste Wahl für die Nahfolge wäre, bei Angela Merkel nicht gut angeschrieben, seit er die Euro-Rettungpolitik der Kanzlerin zu torpedieren versucht hat. Und Macron will eigentlich ja auch nicht einen Deutschen verhindern, sondern sie alle.

Leider steht ein Ausweichkandidat - möglichst aus einem kleinen Land, möglichst mit konservativ-liberal-linkem-grünen Profil - auch nicht zur Verfügung. Die EU, bekannt für europäische Lösungen, die in 14 Tagen, dann aber nie kommen, präsentiert sich wenige Tage nach der "größten länderübergreifenden Wahl der Welt" (EU-Kommission) in gewohnter Form. Weder kann sie sagen, welche andere "länderübergreifende Wahl" ein klein wenig kleiner ist. Die Miss-Südamerika-Wahl? Die Wahl des Mister Wet-T-Shirt in Ozeanien? Noch weiß sie, wie sie diesmal aus ihrem ewigen  Dilemma herausfinden soll, dass Entscheidungsfindungen umso komplexer werden, je mehr Partner mit unterschiedliche Interessen sich auf eine gemeinsame Antwort einigen müssen.

Lautete die eben noch "Europa" (SPD - inzwischen nur noch Fehler 404), müssen plötzlich Faktoren beachtet werden, die wie der Vorsitz des Europäischen Rates - derzeit vom Polen Donald Tusk neutral besetzt - und der Chefposten im - eigentlich bedeutungslosen - EU-Außenministerium - augenblicklich von der Italienerin Federica Mogherini als Chor mit vielen Stimmen geleitet, als Verfügungsmasse gebraucht werden. Wer will was? Wer ist bereit, dafür wo nachzugeben? Mit wem kann man sich verbünden? Gegen wen? Und für wen?

45.000 Kilometer hat Manfred Weber in den vergangenen Wochen wahlkämpfend zurückgelegt und auf dem Weg zum "ersten deutschen Kommissionspräsidenten  seit 50 Jahren" (CDU) 8.500 Kilogramm CO2 produziert. Das kann nicht, das darf nicht vergebens gewesen sein, denn "Leidtragende sind wir alle; vor allem aber arme Menschen weltweit, die nicht die Verursacher sind, und die junge Generation, von der viele noch nicht wählen können, die dafür auf der Straße oder in digitalen Medien laut werden", wie die FAZ errechnet hat. Klimaschutz als Generationenfrage tritt nun zwar offensichtlich zutage, doch die unvermeidliche "Transformation unserer Wirtschafts- und Lebensgewohnheiten" kann erst in Angriff genommen werden, wenn der "Machtpoker zwischen EU-Parlament und den europäischen Regierungen (EU-Rat)" (Kurier), ein "Schachspiel auf vielen Ebenen" (Stefan Lehne, Carnegie Europe), ohne monatelange Blockade beendet und der "Kontinent" EU (Katarina Barley) in gute Hände übergeben wird.


1 Kommentar:

Florida Ralf hat gesagt…

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