Samstag, 17. Mai 2014

Fremde Federn: Die Scheinheiligen im Ausland

Der Leser muss schon in die neutrale Schweiz schweifen, um sich einen Eindruck davon zu holen, was eigentlich los ist, worum es geht und wer mit wem weswegen streitet. "Die scheinheilige EU" nennt der Politikwissenschafter Heribert Dieter einen Gastbeitrag für die NZZ, der "den unheilvollen Beitrag der EU zur Eskalation der Situation" in der Ukraine im Unterschied zur Mehrzahl der deutschen Medienbeiträge zum Thema nicht verschweigt. Dieter lehrt in Friedrichshafen am Bodensee, veröffentlicht seine Analyse aber mangels heimischem Interesse im Ausland. Die Lektüre verrät,dass die Sachlage komplizierter ist als die Räuberpistolen vom bösen Putin, durchgeknallten Milizen und fröhlichen Maidan-Rebellen wissen wollen. PPQ dokumentiert Dieters Beitrag erstmals in Deutschland:

Von vielen Beobachtern wird die russische Regierung für ihr Verhalten auf der Krim heftig gescholten. Amerikanische, aber auch europäische Politiker und Journalisten kritisieren das Säbelrasseln Moskaus. Die USA fordern den Ausschluss Russlands aus der G-8 und wollen dem geplanten G-8-Gipfel im russischen Sotschi fernbleiben. Die «Berliner Tageszeitung», Hauspostille des links-alternativen Milieus, kritisierte Russland als «protofaschistischen Unrechtsstaat» und geisselt die «Berliner Kuschel-Diplomatie» gegenüber Moskau. Zbigniew Brzezinski, in den späten 1970er Jahren Sicherheitsberater Präsident Carters, fordert dazu auf, die Nato-Truppen in Alarmbereitschaft zu versetzen. Doch bei all der Empörung bleibt eine Frage offen: Wer hat den Konflikt eigentlich angefacht? Und welche Massnahmen haben dazu geführt, dass es zu einer Zerreissprobe zwischen Kiew und Moskau gekommen ist?

In der öffentlichen Debatte in Westeuropa konnte man den Eindruck gewinnen, als ob interne Zerfallsprozesse in der Ukraine die wichtigste Rolle bei der Zuspitzung der Situation spielten. Wenig diskutiert wird indes über den unheilvollen Beitrag der EU zur Eskalation der Situation. Die Europäische Union hat aber durch ihre Nachbarschaftspolitik die Saat der heutigen Krise gesät. Kiew wurde ein Assoziierungsabkommen angeboten, aber dieser Vorschlag war ein Danaergeschenk. Hauptelement war ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und der Ukraine. Für die EU ist ein solches Verfahren standardisierte Aussenwirtschaftspolitik. Gegenwärtig nimmt die EU an 36 Freihandelszonen teil, und mit der gegenwärtig verhandelten transatlantischen Freihandelszone (TTIP) wird ein weiteres grosses Vorhaben hinzugefügt. Was war problematisch am Vorschlag eines Abkommens mit Kiew?

Russland treibt seit einiger Zeit das Projekt einer Eurasischen Union voran. Für Wladimir Putin und viele seiner Landsleute war der Untergang der UdSSR vor fast einem Vierteljahrhundert kein Glücksfall, sondern markiert das Ende einer Supermacht. Putin hat den Zusammenbruch der Sowjetunion einmal als die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Ein Ziel der Eurasischen Union ist die Wiederherstellung zumindest eines Teils der früheren Bedeutung der Staatengruppe in der internationalen Politik.

Man kann dieses Vorhaben kritisieren und vor einer Restauration der UdSSR warnen. Aber gerade die EU-Länder wissen, dass die staatliche Zusammenarbeit für zur Stärkung der Bedeutung der Gruppe in der internationalen Politik ein verbreitetes Konzept ist. Befürworter der europäischen Integration betonen, die Mitgliedsstaaten der EU hätten international nur gemeinsam Gewicht. Mit der Eurasischen Union verfolgt Putin einen ähnlichen Ansatz. Der erste Schritt auf diesem Weg ist die Zollunion mit Russland, Weissrussland und Kasachstan. Die Ukraine war eingeladen worden, sich zu beteiligen. Der eingeschlagene Pfad gleicht dem Integrationspfad der EU. Auch die EU begann den Integrationsprozess mit der Schaffung einer Zollunion, die 1968 vollendet wurde.

Häufig glauben Beobachter, eine Freihandelszone stelle gegenüber einer Zollunion eine weiter reichende Form der handelspolitischen Zusammenarbeit dar. Das Gegenteil trifft zu: Eine Zollunion bedeutet, dass die teilnehmenden Staaten eine gemeinsame Handelspolitik betreiben. Ein Land kann also nur einer Zollunion, aber beliebig vielen Freihandelszonen beitreten. Das erste Beispiel hierfür war der von Preussen geführte Deutsche Zollverein, der 1834 geschaffen wurde und 1871 zur Gründung des Deutschen Reiches führte. Auch das europäische Integrationsprojekt folgte diesem Modell. Die an einer Zollunion teilnehmenden Staaten verzichten auf eine eigenständige Handelspolitik, und damit üben sie einen beachtlichen Souveränitätsverzicht aus. Seit 1968 gibt es demnach keine eigenständige deutsche oder französische Handelspolitik mehr, sondern allein Brüssel entscheidet – nach Konsultationen mit den Mitgliedsstaaten – über die Handelspolitik der EU.

Nicht anders wäre es im Fall der Ukraine gewesen. Wäre das Land der russisch-kasachisch-weissrussischen Zollunion beigetreten, hätte es keine Freihandelsabkommen mehr – etwa mit der EU – abschliessen können. Möglich gewesen wäre allenfalls ein Abkommen zwischen der EU und der Zollunion unter Einschluss Russlands. Eine kluge Russlandstrategie der EU hätte die Schaffung einer Freihandelszone zwischen der Eurasischen Union und der EU anstreben können.

Vor diesem Hintergrund ist es unzutreffend, dass der Präsident des Europäischen Rates, van Rompuy, und der Präsident der Europäischen Kommission, Barroso, ihre Hände in Unschuld waschen. In einer Erklärung vom 25. November 2013 behaupteten die beiden europäischen Spitzenpolitiker, die EU würde die Ukraine nicht zu einer Entscheidung zwingen. Die Ukraine könne frei über die Form der Anbindung an die EU entscheiden. Eine scheinheilige Position – die Ukraine musste wählen zwischen einer Freihandelszone mit Brüssel und einer Zollunion mit Moskau.

Alt Kanzler Gerhard Schröder bezeichnet die Brüsseler Offerte als «Anfangsfehler» der Krise. Der Brüsseler Vorschlag habe Kiew gezwungen, zwischen West und Ost zu wählen – zwischen einem Abkommen mit Brüssel oder der Teilnahme an der Eurasischen Union. Die EU, im Jahr 2012 für sechs Jahrzehnte Aussöhnungspolitik mit dem Friedensnobelpreis geehrt, hat in Osteuropa entweder extrem naiv und ohne weitblickende Strategie oder bewusst den Konflikt schürend agiert. Bei der Suche nach Reaktionen auf die russische Politik sollte der verhängnisvolle Beitrag Brüssels zur Eskalation der Lage bedacht werden.

1 Kommentar:

  1. Zuviel der Ehre, das ist nur die NZZ. Die restlichen Medien tröten auch nur das Horn vom bösen Putin und guten Maidan. Zwar nicht so laut und nicht an prominenter Stelle, aber der kalte Krieg wirkt auch hier nach: Der Russe ist böse und der Ami gut. Man läßt sich eben doch lieber von dem Hund beißen, den man kennt...

    Grüße aus CH in die alte Heimat!

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