Freitag, 6. Mai 2016

Zitate zur Zeit: Wie Gernot Erler einmal beinahe die Welt rettete

Im Reich des IS: Hinrichtungen  sind üblich.
Ein Warner, ein Wegweiser, ein Sozialdemokrat. Gernot Erler, ein Schlachtenbummler der Weltkrisenpolitik, der vorher weiß, was hinterher passiert. Es hört nur nie jemand zu.

2004, als die SPD noch im Besitz der alleinseligmachenden wahrheit war, sprach Gernot Erler im Bundestag über Risken und Gefahren durch die kriesgtreiberische Politik George W. Bushs. Es war 28. Mai 2004, weit in der Zukunft lagen die meisten deutschen Militräeinsätze im Ausland, die verlegung deutscher Truppen an die russische Grenze, deutsche Aufklärungsleistungen für Drohnenmorde im Nahen Osten, Feuerleithilfe für Bomben gegen die syrische Regierung und die Abriegelung Europas durch türkische Janitscharen.

PPQ dokumentiert Erlers wegweisende Rede mit zwölf Jahren Abstand. Auch Lenin schrieb nicht nur mit Milch, er las auch gern Zeitungen von früher.


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte ist ein Anfang. Wir machen den ernsthaften Versuch, eine eigene parlamentarische Dimension für eine internationale Diskussion über Chancen eines nachhaltigen Stabilisierungskonzeptes für die Großregion des Nahen und Mittleren Ostens zu schaffen. Das ist gleichzeitig ein Versuch, eine umfassende politische Antwort auf die Herausforderungen des globalen Netzwerkterrorismus zu finden.

Der Termin ist gut gewählt, um Vorschläge zu machen und Erwartungen zu formulieren, denn wir stehen vor einer Reihe von Gipfelereignissen, man könnte sogar sagen: vor einem regelrechten Gipfelstakkato. Es fängt an mit den Feierlichkeiten zum D-Day in der Normandie, geht über das G-8-Treffen in Sea Island und den EU-USA-Gipfel in Irland hin zum NATO-Gipfel in Istanbul. Die Erwartungen sind groß, dass diese Treffen Fortschritte bringen in Bezug auf das Thema Greater Middle East.

Auch wir sind entschlossen, eigene Anstöße dazu einzubringen. Das drückt sich in den drei Anträgen aus, die die verschiedenen Fraktionen hier vorgelegt haben. Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen ihnen, aber auch unterschiedliche Akzent- und Prioritätensetzungen.

Jede Beschäftigung mit diesem Thema muss sich heute der Situation im Irak stellen. Die amerikanische Politik dort ist gescheitert. Es ist ihr nicht gelungen, dem Land Sicherheit zu bringen und einen politischen Neuanfang sowie Übergang zur Stabilität zu organisieren. Aber das ist nicht alles. Hinzu kommen drei Besorgnis erregende Punkte:

Erstens. Der Irak ist heute Schauplatz eines offenen blutigen Konflikts - eines zweiten in dieser Region neben dem palästinensisch-israelischen -, durch den die ganze Region destabilisiert wird.

Zweitens. Der Irak ist heute Teil einer direkten Front mit den Kämpfern des global agierenden Terrorismus. An dieser Front werden den Einheiten der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten immer wieder schwere und tragische Verluste zugefügt, die häufig verbunden sind mit Verlusten bei der irakischen Zivilbevölkerung.

Der dritte Punkt ist der schlimmste: Die Entwicklung im Irak hat Osama Bin Laden seinem strategischen Ziel, einen Riss zwischen der westlichen und der arabisch-islamischen Welt zu schaffen und einen Kampf der Kulturen zu organisieren, näher gebracht. Vor allem die Berichte und Bilder von Misshandlungen und Folterungen irakischer Männer und Frauen durch amerikanische Soldaten haben zu dieser äußerst gefährlichen Entwicklung beigetragen.

Nüchtern und mit großer Sorge müssen wir feststellen: Wir sind, ohne uns wehren zu können, Teil dieser Auseinandersetzung, weil die westliche Führungsmacht diesen Krieg mit all seinen Problemen und Fehlern im Namen westlicher Werte führt. Deswegen befinden wir uns als Teil der westlichen Welt in unfreiwilliger Mithaftung.

Das übrigens gibt uns auch das Recht, Fragen an die Verantwortlichen zu stellen und Erwartungen zu äußern, zum Beispiel im Hinblick darauf, ob das Problem der Misshandlungen wirklich auf Verfehlungen von einigen wenigen Soldaten reduziert werden kann oder ob hier doch ein angeordnetes System zur Einschüchterung und Demütigung von Gefangenen angewandt wird, um bessere Befragungsergebnisse zu erzielen, aber auch im Hinblick darauf, ob der Schaden, der dadurch für das Image und das Prestige der westlichen Führungsmacht und damit der ganzen westlichen Welt in immensem Umfang entstanden ist, begrenzt werden kann und wer dabei die fachliche und wer die politische Verantwortung übernimmt.

Wir haben gerade wegen dieser unfreiwilligen Mithaftung das Recht, Antworten auf die Fragen zu bekommen.

Wir begrüßen - das sage ich auch im Namen der SPD-Bundestagsfraktion -, dass sich die amerikanische Politik ändert und jetzt Fehler korrigiert. Wir begrüßen, dass sie die Vereinten Nationen stärker in den Stabilisierungsprozess einbezieht. Wir können nur hoffen, dass die Autorität von Lakhdar Brahimi ausreichen wird, um jetzt eine Übergangsregierung zu schaffen und Personen zu benennen, die in der irakischen Bevölkerung eine Chance auf Vertrauen bekommen.

Wir begrüßen, dass Präsident Bush endlich Distanz zu einer Figur wie Ahmed Tschalabi und seinem INC, auf dessen Konto viele gefährliche Fehleinschätzungen gehen, herstellt. Wir begrüßen, dass jetzt die Beratung einer neuen Sicherheitsratsresolution möglich ist, die das Besatzungsregime beenden und die politische Verantwortung in die Hände einer neuen, souveränen Interimsregierung legen soll.

Wir sind davon überzeugt, dass eine durchgreifende Verbesserung der Sicherheitslage vor Ort aber nur dann erreicht werden kann, wenn es tatsächlich einen klaren Schnitt zum Bisherigen gibt und wenn die irakische Souveränität nicht eine fiktive, sondern eine tatsächliche sein wird.

Der bisherige Resolutionsentwurf bleibt dabei in entscheidenden Fragen unklar: Wie soll sich das Verhältnis der neuen Interimsregierung zu der künftig Multinational Force genannten Sicherheitsgruppierung gestalten? Wie sollen Verantwortung und Befehlsgewalt zwischen den irakischen Sicherheitskräften einerseits und der Multinational Force andererseits abgegrenzt und organisiert werden? Ohne eine klare Antwort auf diese Fragen sind die Erfolgsaussichten des Neuanfangs gering. Oder gibt es hier wirklich jemanden, der glaubt, dass die bloße Umbenennung von Okkupationskräften in Multinational Force mit denselben 138 000 amerikanischen Soldaten, denselben Koalitionstruppen, denselben Kommandostrukturen, vielleicht lediglich verbunden mit einer Konsultationspflicht bezüglich der neuen Interimsregierung, ausreicht, um die Gewalttätigkeiten, die täglich gegen die bewaffneten Kräfte stattfinden, tatsächlich zu beenden?

Es ist noch Zeit zur Nachbesserung; wir müssen sie nutzen.

Der Mut, durchgreifend etwas zu verändern, muss noch wachsen. Dabei könnte die nüchterne Erkenntnis hilfreich sein, dass sich die Koalitionstruppen - nach eigenen Angaben - zu 90 Prozent mit Eigensicherung beschäftigen müssen und dass es für die Iraker bisher eigentlich vor allem dann gefährlich wurde, wenn sie in die Nähe solcher Einheiten geraten sind, denn da finden die Anschläge statt. Widersinnigerweise ist man umso sicherer, je weiter man von den Sicherungsgruppen entfernt ist.

Zu der Sourveränitätsübertragung auf eine eigene irakische Regierung mit Autorität gibt es keine Alternative. Aber die Übergabe der Verantwortung in irakische Hände darf keine Mogelpackung sein; sie muss überzeugen.

Von den nächsten Wochen hängt viel ab. Eine neue politische Partnerschaft des Westens mit der Großregion des Nahen und Mittleren Ostens braucht Fortschritte im Irak und braucht auch Fortschritte bei der Beilegung des anderen blutigen Konflikts, nämlich des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern. Deswegen muss jede Strategie für einen Greater Middle East mit Bemühungen um eine Lösung für diesen beiden Konflikte beginnen.

Aber mangelnder Fortschritt bei der Lösung dieser beiden Konflikte darf keine Aktivitäten verhindern und darf nicht zum Vorwand genommen werden, nicht über die Stabilität der Großregion des Nahen und Mittleren Ostens nachzudenken. Wir müssen aus der Sackgasse herauskommen: Die einen sagen, erst müsse eine Demokratisierung stattfinden, bevor man überhaupt zu einer Konfliktlösung kommen könne, und die anderen sagen, bevor es nicht zu einer Konfliktlösung komme, mache es gar keinen Sinn, über ein Gesamtkonzept für diese Großregion zu reden. Diese Sackgasse ist entstanden; wir müssen aus ihr herausfinden.

Dabei muss uns auch klar sein, dass eine ideologische Form eines Demokratisierungskonzepts nicht weiterführt. Man muss doch zugeben, dass es sich gerade bei dem israelisch-palästinensischen Konflikt um einen Konflikt zwischen zwei Staaten handelt, die im Vergleich zu anderen Staaten demokratisch legitimierte Regierungen haben. Das ist ganz gewiss der Fall bei Israel und auch die palästinensische Autonomiebehörde ist im Vergleich zu anderen arabischen Staaten demokratisch legitimiert. Das ist ein Hinweis darauf, dass man nicht automatisch davon ausgehen kann, dass es zwischen demokratischen Ländern keine blutigen Konflikte gibt und deswegen die Demokratie - die man notfalls von außen mit Gewalt einführt - das Allheilmittel ist. Wenn man diese Automatik zugrunde legt, muss man scheitern. Das ist nicht die Lösung.

Das ist der Hintergrund für unsere Bemühungen. Wir müssen gemeinsam an Konzepten für einen gesamtstrategischen Ansatz für diese Region arbeiten. Wir müssen uns über die entsprechenden Instrumente unterhalten. Diese Debatte ist nur ein Anfang. Die Fraktionen des Deutschen Bundestages sollten sich vornehmen, diese Debatte intensiv weiterzuführen und auf diese Weise den für die Weltpolitik wichtigen diplomatischen Prozess aus parlamentarischer Sicht zu begleiten.


1 Kommentar:

  1. Ist das ein Bild von den digedags ?
    Mein Opa aus Leipzig hatte mir als Wessikind einige Mosaiken geschickt.

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