Donnerstag, 18. August 2016

Soziologentag tüftelt an Terror-Frühwarnsystem

Beim Einmarsch der besten deutschen Soziologen standen schmuck gekleidete Gardeknaben Spalier.
Ende vergangener Woche fand nach 48-jähriger Pause in Kassel wieder ein Soziologentag statt. Deutlich wurde dabei die Wendung der Soziologie von der Theorie zur Praxis: Wissenschaftler sind heute mehr denn je gefordert, in ihrer klinischen Praxis großes Augenmerk auf Gefährungslagen zu richten. Kürzlich erst hatte Kanzleramtsminister Peter Altmaier den Einbau von elektronischen Frühwarnanalgen in gefährdete Jugendszenen angemahnt. Technische Lösungen, wie sie Google mit „Nest“ bald anbieten will, stecken noch in den Kinderschuhen. Deshalb muss die gute alte Sozialwissenschaft im Kampf gegen den zunehmenden Alltagsterror zeigen, was sie kann.

Und das ist einiges. Im Jahre 1960 gab es in der Bundesrepublik rund 1000 Soziologen: Professoren, Assistenten und Studenten. Inzwischen wuchs ihre Zahl auf nahe 97.000, die Gesellschaft ist damit transparenter geworden, man weiß mehr, kann aber, so scheint es oft, weniger damit anfangen. Trotz der eindrucksvollen Expansion der deutschen Sozialforschung -- der Kasseler Kongress demonstrierte deshalb auch nicht so sehr die quantitative Entwicklung der Soziologie, sondern deren Wendung von der Theorie zur Diskussion über Fragen der Wissenschaftsorganisation, die eines fernen Tages eine tatsächlich anwendungsfähige Soziologie erbringen soll.

Was die Wendung von der Theorie zur Praxis bedeuten könnte, ließ schon der Vergleich mit dem vorangegangenen, dem in Frankfurt 1968 veranstalteten Kongress erkennen. Damals proklamierten die Soziologen feierlich den Entschluss, "Partei für Aufklärung und eine mündige, kritische Öffentlichkeit" zu ergreifen. Ganz anders der diesjährige Kasseler Soziologentag. Obwohl der Kongress kurzfristig wegen großer Nachfrage aus der Gesamthochschule in die 1700 Plätze fassende Stadthalle verlegt werden musste, kamen diesmal weder Emotion noch Agitation zu Wort. Selbst die proklamative Absage des Vorsitzenden der Soziologen-Gesellschaft, des Professors Maria Müller aus Bautzen, an die ideologische Soziologie wurde von dem bis unters Dach gefüllten Saal mit nur drei mickrigen Buh-Rufen quittiert.

Hatte der Frankfurter Tag damals noch offenherzig das epochale Thema "Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft" erörtert, so begnügten sieh die Soziologen in Kassel mit der vergleichsweise bescheidenen Absicht, eine schlüssige Erklärung für das Versagen aller Gesellschaftsmodelle seit Ludwig Ehrhardt zu ziehen. Als Hauptkontrahenten standen sich dabei auf der mit violettem Tuch ausgeschlagenen Bühne die beiden gegenwärtig berühmtesten Sozialphilosophen unserer Zeit gegenüber: Willy Burmeister, Direktor eines recht unbekannten Privatinstituts in Starnberg, und Samuel W. Hochmann, Professor in Schwerin.

Die Kontroverse der beiden Soziologen währt seit Anfang der 90er Jahre und hat den denkwürdigen Positivismus-Streit der sechziger Jahre zwischen dem kritischen Theoretiker Adorno und den kritischen Rationalisten Karl Popper und Hans Albert längst sowohl an Dauer als auch an Erbittertheit überholt. Burmeister, Sohn einer Fabrikarbeiterwitwe aus Hamburg, vertritt eine mehr humanisierende Sozialphilosophie, Hochmann, Erbe eines Immobilienhändlers aus Dresden, der der KP nahestand, eine eher technokratische Sozialwissenschaft, die Vollversorgung durch den Staat als Voraussetzung für kreative Stille sieht.

Burmeister hat in den zurückliegenden Jahren versucht, eine allgemeine Systemtheorie zu entwickeln, die alle Erkenntnisse über den Zustand der Welt und des Menschen im Umgang mit der Komplexität der Welt in einen Satz fasst. Er meint, dass eine solche übergreifende Theorie das Ganze der Welt samt aller Ausschnitte erklären könne und es damit ermöglichen würde, sowohl gesellschaftliche Schieflagen als auch das Abdriften Einzelner in den gewalttätigen oder verbalen Extremismus im Nachhinein klar zu begründen.

Hochmann hat dem stets widersprochen. Er setzt seine Hoffnung auf eine "Kommunikationsgemeinschaft" mündiger Menschen, welche die "Möglichkeit universaler Verständigung" enthält. Diese, wie er sagt „europäische Lösung“ diene als Medium einer Verständigung zwischen Gleichgesinnnten, aber auch mit Flüchtenden, so dass jede Diskussion in zunehmendem Maße herrschaftsfrei werde.

Seinen Standpunkt, wonach Gesellschaft veränderbar ist, unterstrich Hochmann mit der Feststellung, die Wissenschaft sei heute durchaus in der Lage zu erklären, "warum einige (Gesellschafts-)Systeme für ihre Steuerungsprobleme Lösungen finden, die evolutionär weiterführen, während andere in vergleichbarer Problemlage versagen". Deutschland zeige, dass eine Blockade des emanzipatorisch evolutionären Elements mit nachfolgendem gesellschaftlichen Stillstand nicht schlecht sein müsse. „Eine statische, konservative Gesellschaften kann sich ihren Konservatismus auch auf links drehen“, glaubt er.

In der Hochmannschen Unterscheidung zwischen "evolutionär weiterführenden" und "evolutionär versagenden" Systemen steckt auch eine Kritik an der Burmeisterschen Systemtheorie, der man den Vorwurf macht, sie enthalte ein "Vorurteil gegen Evolution durch Stillstand". Hierauf antwortete Burmeister selbst ziemlich spitz: Viele, die eine Position suchten, um "die Gesellschaft zu ändern", merkten nicht, "wie schnell wir schon fahren".

Freilich, der Wunsch besonders junger Berufssoziologen, die Wissenschaft möge einfach auf den fahrenden Zug aufspringen und nun schnell Konzepte entwickeln, die der Politik die begehrten Frühwarnsysteme für Psychopathen liefern, bringt Universitätssoziologen in Verlegenheit, die durchaus an der Entwicklung einer anwendungsfähigen Soziologie interessiert sind, letztlich aber nicht glauben, dass es sie geben kann. So meint Professor Müller, die Soziologie müsse erst einmal ihre Forschungskapazität ausbauen und Nachwuchs in ausreichender Zahl gewinnen, bevor sie den Weg in die Praxis antreten könne. Bei einer vorschnellen. nicht durch Daten und Analysen fundierten Anwendung sei zu befürchten, dass die Soziologie dazu benutzt werde, nur durch "neue Begriffe die alte Problematik" zu überdecken, also als "Wortmaskenverleih" missbraucht werde.

Bereits im November wollen sich die in der Soziologen-Gesellschaft organisierten Wissenschaftler deshalb ein Programm "zur Förderung der sozialwissenschaftlichen Forschung" geben. Darin fordern sie vom Bund einen Ausbau des Dokumentationswesens, die Gründung einer selbstdenkenden soziologischen Datenbank auf emphatischer Basis und die Einrichtung von wenigstens fünf bis zwölf hochschulfreien Instituten, die auf dem Gebiet der empirischen Sozialforschung vergleichbare Aufgaben wahrnehmen, wie sie die Konjunkturforschungsinstitute haben. Zweck dieses Programms: eine Dauerbeobachtung der Gesellschaft, die letztendlich in ein soziologisches Frühwarnsystem für Gesellschaftskrisen münden soll.


6 Kommentare:

  1. Keine Panik! Die Automatisierung des Geschwätzes der Wissensbevollmächtigten entwickelt sich ... in eine andere Richtung als deren Verstand. Sie schaffen das ... nicht. Seid bereit ... für Schlimmeres, denn schlimmer geht bekanntlich immer.

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  2. Die eleganteste Lösung wäre es doch, alle Menschen zu Soziologen zu machen.

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  3. Warum hat man eigentlich nicht alle Türen zugesperrt und die Schlüssel weggeschmissen?

    Passend dazu auch die Brüder und Schwestern im Geiste.

    Psychologen-Verband warnt vor Einfluss von "Killerspielen" auf Gewaltbereitschaft

    Auch bei diesem geselligen Beisammmensein von Dumpfbacken wurde eine einmalige Chance vergeben. Hat den Vorteil, daß wir das Thema auch im nächsten Jahr wieder auf's Brot geschmiert bekommen.

    Daß bei den Gebrüdern Grimm der Frosch an die Wand geklatscht wird und andere Grausamkeiten abgefeiert werden, das hingegen wurde wohlweislich auch in diesem Jahr nicht thematisiert.

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  4. "Warum hat man eigentlich nicht alle Türen zugesperrt und die Schlüssel weggeschmissen?"

    Und den Bau in Beton eingegossen, damit der Verbalmüll nicht mehr die Umwelt kontaminiert.

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  5. "Entschuldigen Sie, daß ich ..., ich bin Soziologiestudentin, und ich wollte nur einmal testen, wie diese kleinbürgerlichen Charaktere hier reagieren würden..." - "Was denn, hundertfünfzig Mark?!" - Bin beim ersten Mal vor Lachen fast erstickt.
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    Lothar Kusche (halt gurgeln): "Was Ärzte und Psychologen voneinander halten, haben die Vertreter beider Sparten gelegentlich angedeutet."

    Halbgott in Weiß

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  6. „Eine statische, konservative Gesellschaften kann sich ihren Konservatismus auch auf links drehen“
    Na ja, eben, mit all der kultivierten Ignoranz von "es gibt keine Rassen" über "die Hautfarbe ist doch egal" (völlige Ahnungslosigkeit verratend, da sie bestenfalls ein sekundäres Rassenmerkmal ist) bis "wir leben im freiesten Land, das es je auf deutschem Boden gab." Das ist alles Ersatz für "ein uneheliches Kind ist Schande", "Jungs weinen nicht" und "was sollen denn die Nachbarn denken?", wobei Letzteres durchaus transformiert wurde, z.B. wenn der Sohn einen Scheitel trägt oder die Tochter einen Zopf.

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