Donnerstag, 13. Oktober 2016

Die letzten Pfeiler brechen: Winter ohne Zahnlücke

Der Mann mit der Zahnlücke jetzt ohne: Justin Sullivan von New Model Army wartet auf den Winter.
Die Welt ändert sich, steter Wandel zeugt davon. Grenzen gehen auf, große Männer fallen. Banken scheitern, die die Menschen für die Herren der Erde hielten. Bundespräsidenten müssen zurücktreten, Päpste gehen in den Ruhestand, Kämpfer für die Meinungsfreiheit fordern schärfere Gesetze gegen die freie Meinungsäußerung.

Gut, wenn es mittendrin Dinge gibt, die immer gleich bleiben. Das Wetter in Deutschland, das wie zu Zeiten der wendischen Besiedlung noch immer zu warm oder zu kalt ist. Oder die Politik, die nie das tut, was sie soll, sondern immer das, was sie nicht tun können sollte. Und Justin Sullivan, den Sänger und Kopf der englischen Rockband New Model Army, der dem glattgebügelten Zeitgeist seit fast vier Jahrzehnten mit einer klaffenden Lücke inmitten seiner Frontzähne ins Gesicht lacht.



Eine Lücke, die der inzwischen 60-Jährige nicht wie sein Kollege Shane MacGowan aus Zahnarztangst zur Schau stellt, sondern aus ideologischen Gründen: Chancen auf Ruhm in den USA habe seine Band nur, wenn er sich das Gebiss reparieren lasse, hatte ihm seine US-Plattenfirma wissen lassen.

Für Sullivan folgte eine Lebensentscheidung daraus: Nie und niemals werde er sich die Zahnlücke sanieren lassen, beschloss er.

Doch die Welt ändert sich. Und auch die letzten Pfeiler dessen, was über Jahrzehnte unverrückbar schien, kommen ins Rutschen. Neulich noch, als er vor die Kamera trat, um ein Video für das neue, überaus grandiose Album „Winter“ zu drehen, trug Justin Sullivan die Zahnlücke stolz wie ein GI seine Fahne. Trotzig und schwarz wie die Nacht leuchtete sie in die Kamera, ein Ausweis der Unbeugsamkeit. Sullivan, ein Skeptiker und Mahner der angehmen Art, beschwört das "Winter is coming" aus einer populären Fernsehserie als eigene Prognose. "I fear the age of consequence and I wish that it was over / bring me the snowfall, bring me the cold wind, bring me the winter."

Es wird kalt und die alten Gewissheiten schwinden. Selbst die, die unverrückbar scheinen: Als New Model Army jetzt auf Tour zum neuen Album gingen, waren nicht nur die Lieder neu. Justin Sullivan ließ auch einen neuen Zahn in die Welt blitzen.

Ein Schock wie der Mauerfall, der erste grüne Minister, die Entscheidung für den Bail-out-Griechenlands und die Ankündigung der EZB, künftig Null-Zins-Geld verteilen zu wollen. Die Welt ist nicht mehr dieselbe

Nichts ist nun mehr noch, wie es immer war. Und wird es nie mehr werden.

2 Kommentare:

  1. Hat dieser progressive Mut zur Lücke nicht längst die um ihre Pfründe fürchtende Innung der Zahnersatzlobby an die verbohrt umkämpfte Brücken-Font marschieren lassen?

    Diese Schmelzexperten und Wurzelextraktspezialisten kämpfen doch sonst verbissen um jede Kariesfüllung ihrer Facharztkitteltaschen.

    Sobald es bei einer New Model Army um Schotter geht, muss der harte Rock eben auch mal etwas mainstreamig zerbröseln und das ruinöse Loch kunstvoll zubetoniert werden.

    Flexibel werden, um flüssig zu bleiben.

    Vielleicht bald sogar überfüssig, denn das perfekt strahlende Lächeln hatte ja schon Rex Gildo erfunden, bevor der noch vom letzen Hossa-Auftritt geschminkt in den Freitod sprang. Das porzellanweiße Ideal-Standard-Gebiss ist also keine sichere Lebensversicherung, wenn darüber Lücken im Synapsendschungel lauern.

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  2. Vielleicht ist ihm "Ruhm in den USA" immer noch nicht wichtig und er wollte jetzt auf seine fortgeschrittenen Tage ein Stück mehr Lebensqualität erwerben.

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