Donnerstag, 28. Mai 2020

Desinfektionsmittel geext: Wie eine Wahrheit entsteht

Eine Geschichte wird Wahrheit, indem jeder etwas hinzufügt.

Wer mit der Wahrheit lügen will, und wer will das nicht!, muss einige grundsätzliche Regeln beachten, um glaubwürdig zu sein. Vor allem kommt es bei der Weiterentwicklung einer vorliegenden Grundwahrheit darauf an, den Fake-News-Anteil so allmählich und behutsam zu erhöhen, dass in der Endstufe der Verbreitung  kein Zweifel mehr daran möglich ist, dass es sich um eine umfassende Darstellung eines wirklichen Geschehens handelt auch wenn das in Wirklichkeit ganz anders aussah. Bekannt ist die Methode aus der Israel-Berichterstattung, bei der deutsche Medien traditionell darauf verzichten, Geschehnisse in ihrer Abfolge zu erzählen. Dadurch gelingt es in der Regel, beim Leser das Gefühl zu erzeugen, er wisse, was passiert sei, obwohl er nach dem Lesen eigentlich noch weniger weiß als vorher.

Die Belegschaft des Kölner Restaurants "Bagatelle" hatte jetzt die seltene Gelegenheit,einer wirklich wahren Meldung bei ihrer Entstehung in Echtzeit zuzuschauen. In der vergangenen Woche hatten drei Gäste der Gastwirtschaft in der Kölner Südstadt spaßeshalber ein Schlückchen von einem Desinfektionsmittel genippt, das wegen Corona vom Restaurantbesitzer "in sehr kleinen Fläschchen" (Bagatelle) auf den Tischen platziert worden war. Es passierte nichts, kein Notarzteinsatz, keine zerstörte Magen-Darm-Flora. "Diese Kleinstmengen stellen für erwachsene Menschen kein gesundheitliches Risiko dar", versichert die "Bagatelle", die die launige Story im sozialen Netzwerk Facebook unter der Überschrift  "Liebe Väter, bitte sauft nicht unser Desinfektionszeug" 
als Unterhaltungsangebot präsentierte.

Keine Dreiviertelstunde später Um 8.42 Uhr fragte die Kölner Boulevardzeitung "Express" nach näheren Einzelheiten. "Die zwei Fragen beantworteten wir gerne", berichtet der Restaurantbetreiber. Kurze Zeit später erschient ein Artikel im Express, mit korrektem Inhalt: "Drei Leute haben von dem Zeug getrunken, nichts passiert, fertig."

Es dauert nicht lange, und  der Fernsehsender RTL greift die Nachricht auf. Aus dem einen Restaurant sind nun zwei Bars geworden, in denen mindestens drei Gäste Desinfektionsmittel getrunken haben. Die Regionalzeitung Stadtanzeiger steigt nun auch ein. Die "Bagatelle" ist nun eine Kneipe, aus der Beschreibung des „etwas fahrlässigen“ Nippens ist ein „fahrlässig“ in der Überschrift geworden, die drei Desinfektionsgenießer haben sich in "mehrere Gäste" verwandelt, die die Fläschchen auf Ex getrunken haben.

Doch die Quelle dieser neuen erweiterten Wahrheit ist nun schon die aller Richtigkeit aller Zeiten: die deutsche Presse Agentur DPA, auch "Wahrheitsfabrik" genannt und Hersteller legendärer right news wie "Viele Ehec-Tote werden nie mehr gesund". Was DPA meldet, stimmt immer, auch wenn es falsch ist. Bei RTL eskaliert die renovierte News nun  mit dem Titel „Oh je, Väter halten Desinfektionsmittel für Schnaps“.

Ein Kracher, dem kein regionales oder überregionales Medium mehr widerstehen kann: Zeitungen und Nachrichtenmagazine berichten je nach Fanatsievorrat von  mehreren Gästen, aus denen schnell viele werden. Im "Mindener Tagblatt" wird Sorge um die Opfer geäußert, deren Zustand "unklar" sei. Die ersten Zeitungen befragen und zitieren Experten und Ärzte, die brühwarm berichten. was alles Schlimmes hätte passieren könnte.

Auch bei den Empfängern draußen im Land wird Sorge laut. Müsste man die Restaurantbetreiber nicht verklagen? Sollte man? Und zeigt der Vorfall nicht exemplarisch, wie dumm Männer wirklich sind? Dann sterben sie eben! Nicht schade drum.

Nach nur acht Stunden zieht die kölsche Lokalmeldung internationale Kreise, als die Krone, Österreichs auflagenstärkste Tageszeitung, ihre Leser über das ungeheuerliche und grauenhafte Geschehen in Kenntnis setzt. In der "Bagatelle" geht eine erste Anfrage einer britischen Nachrichtenagentur ein.


Die renommierte "Süddeutsche Zeitung" fragt nicht. Sie schreibt so. Mit „Desinfektionsmittel geext -  Vatertags-Feiergruppen haben in einer Kölner Bar Fläschchen verwechselt“ verwandelt die Manufaktur für wirklich wahren Journalismus das Kölner Nicht-Geschehen in eine Sonderlage, die auch tief drunten in Bayern ihre Leser zu finden verspricht.

Erst später, aufgeschreckt durch das Erschrecken in Köln, wird daraus "Flaschen verwechselt - Drei Männer haben in einer Kölner Bar Fläschchen versehentlich einen kleinen Schluck  Desinfektionsmittel getrunken". Ein Satz, der inhaltlich bemüht zurückrudert, ohne Sinn zu ergeben. Dass sich nirgendwo ein Hinweis auf die ursprüngliche Überschrift (oben) und die nachfolgende Korrektur findet, versteht sich von selbst. es ist immer alles wahr, so oder so.

6 Kommentare:

  1. Wir hatte ja erst vor kurzem die Diskussion wie Wahrheit entsteht. Es ist schön dies einmal am lebenden Objekt live mitverfolgen zu können. Wie im Kleinen so funktioniert das auch im Großen. Leider kann man beim Großen die ursprünglichen Fakten oft nicht mehr in Erfahrung bringen. Man weiß daher nur das bei jeder endgültigen Wahrheit sicher mindestens etwas Lüge dabei ist. Man weiß aber nicht welcher Teil der Wahrheit verlogen ist.

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  2. Hallo Heribert a.D. hier. Wir haben da wirklich eine verzwickte Evolution einer Boulevardschrottnachricht zu einem Fakenews, was ich verurteile. Normalerweise läuft das natürlich anders, da lügen wir gleich von Beginn an dass es kracht. Ganz oder garnicht, liebe Kollegen da draußen!

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  3. Der "Spiegel" hat hier in der Vergangenheit Meisterwerkle geschaffen, wie sie Goebbels` Propagandaschmieden nicht brillanter hätten produzieren können. "Gaza-Krieg: Israel erwidert trotz neuer Waffenruhe Beschuss aus Gaza", klagte die Redaktion in einem unvergessenen Klassiker. -------------

    Ich bitte händeringend um eine kurze Bestätigung dessen, dass der Speiübel das wahr und wahrhaftig rausgehauen hat. So richtig glauben mag ich's nicht.

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  4. 13.08.2014
    Israel erwidert trotz neuer Waffenruhe Beschuss aus Gaza
    https://www.spiegel.de/politik/ausland/waffenruhe-zwischen-israel-und-hamas-verlaengert-a-986015.html

    gez. Unterarchivwart (unleserlich)

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  5. Tusen tack, @ Unterarchivwart. Ich werde es meinem West-Schwager demnächst unter die Nase reiben müssen. Mit der Betonung auf müssen. Knahtsch es geben wird, sagt Meister Yoda. Er bezieht jenes Rinnsteinblättchen für umme, weil er vor der Rente was mit Medien gemacht hat.
    Wat mutt, dat mutt.

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  6. Yeah, meine Lieblinge, die überbezahlten Gossenschmieranten. Ärzte machen Patienten süchtig.*
    War doch vor wenigen Sonnen eine Schtorry, daß eine Omma im nördlichen Südamerika im KKH erschienen wäre, um das neugeborene Enkelkind, welches ihr zu häßlich dünkte, umzutauschen. Anfrage an Sender Jeriwan - Im Prinzip ja: Aber sie hatte nur nachgefragt, ob das Balg möglicherweise vielleicht eventuell hätte umgetauscht sein können, und ist mit dem entsprechenden Negativbescheid halt in Frieden wieder abgezogen.

    Halbgott in Weiß

    *Dem Schmierantenpack ist die Situation fremd(abgesehen davon, daß sie Million und Mlliarden nicht auseinander können), daß einem plötzlich Typen - bei Erstkonsultation - welche Albert Schweitzer eigenhändig und mit Schaum vorm Mund ausgepeitscht hätte - gegenüberstehen, und die zehnfache Menge an suchterzeugenden Mitteln heischen, auf öffentliche Kosten, die ich gerade noch auf Privatrezept verordnen könnte, ohne mir juristisch das Knie dick zu machen.

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