Dienstag, 1. September 2020

Im Konformitätsrausch: Der mediale Minskausbruch

Achtelbuschers Institut analysiert seit Jahren das Themensterben in den deutschen Medien.
Woher kommt denn plötzlich dieses Belarus, das in der "Tagesschau" noch vor der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg rangiert? Wer hat die Namensänderung beschlossen und weswegen heißt es dann doch wieder "belarussisch" als habe Belarus irgendetwas mit Russland zu tun? Wer hat Alexej Navalny vergiftet und weshalb vielleicht doch nicht? Ist wirklich schon beschlossen, dass Joe Biden US-Präsident wird und Deutschland dann ein Problem weniger hat? Und was ist, wenn Friedrich Merz seine Niederlage beim CDU-Parteitag nicht akzeptiert?

PPQ-Kolumnistin Svenja Prantl hat Achtelbuscher befragt.
Der Medien- und Konsumforscher Hans Achtelbuscher untersucht seit Jahren, wie sich die Berichterstattung über ausgewählte Randbereiche der Realität auf die Wahrnehmung der Wirklichkeit in deutschen Haushalten mit sozioökonomisch riskanten Profilen auswirkt. Am An-Institut für Angewandte Entropie der Bundeskulturstiftung forscht der renommierte Klaustrophob zu Phänomenen wie dem Themensterben in den deutschen Medien, Sprachregelungsmechanismen und dem Einfluss subkutaner Wünsche auf Wahlprognosen.

Achtelbuscher gilt als eine Art menschliches Fieberthermometer der Corona-Realität in Funk, Fernsehen und Zeitungen, die, wie er sagt, "ausschnittartig wie ein Karl-May-Roman Projektionen eines Lebens darstellt, das ausschließlich zwischen Plenarsaal, Kanzlerrunde und Virologenseminar spielt."

PPQ-Kolumnistin Svenja Prantl hat Achtelbuscher in sicherem Abstand getroffen, um ihn ein halbes Jahr nach Ausrufung der Corona-Pandemie zur aktuellen Lage zu befragen. Was ist heute wichtig? Und warum? Was wurde aus anderen priorisierten Krisen? Und wohin sind sie verschwunden?

PPQ: Lieber Herr Achtelbuscher, unsere Lesenden kennen Sie ja als kritischen Geist, der kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn es nicht sein muss. Sagen Sie uns doch zuerst einmal, wie haben Sie die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg persönlich überstanden? Das wird viele Leserer interessieren.

Achtelbuscher: Vielen Dank für die liebe Nachfrage. Ich kann nicht klagen. Wie Sie sicher wissen, befindet sich unser Ans-Institut ja dank der finanziellen Unterstützung durch Braunkohleausstiegsvorbereitungsmittel inzwischen in einer großzügig geschnittenen früheren Fabrikantenvilla am schönen Geiseltalsee, direkt am Wasser, an frischer Luft, im Grunde würden Sie es wohl Ammerseeatmosphäre nennen, was wir da haben. Ich lebe dort mit meiner kleinen Familie in einem großzügigen Loft, das von Alters her als Dienstwohnung des Institutsleiters gilt. Unsere Forschungen, das wissen Ihre Leser:innen, sind überwiegen analytischer, also virtueller Natur. Wir konnten also auch während der exponentiellen Phase immer Abstand halten und kritisch nachfragen.

PPQ: Dafür sind Sie unseren Leserinnen und Lesern ja nicht zuletzt bekannt. Viele fragen sich aber gerade im Moment, ob ihre eigene Wahrnehmung der schlimmsten Krise, die Sie gerade erwähnt haben, überhaupt richtig sein kann, wenn in der amtlichen "Tagesschau" ganz zu Beginn lange Meldungen über ein Land stehen, das es nach Auffassung vieler vor sechs Wochen nicht einmal gab.

Achtelbuscher: Auf den Punkt. Sie sprechen vom sogenannten Belarusdemfrüherenweißrussland, das derzeit in der Tat medial als eine Art alternatives Unterhaltungsangebot zum ewigen Corona-Stoff angeboten wird. Wie einige aufmerksame Mediennutzer bereits selbst bemerkt haben, startete das mit einer demonstrativen Neubenennung des Staates, der irgendwo hinter oder neben Polen liegt, das weiß niemand so genau. Aus dem traditionell ins Deutsche übersetzten Weißrussland wurde signalhaft "Belarus" und gleichzeitig startete das Thema auf eine Weise durch, dass mittlerweile kaum noch ein Zweifel daran besteht, dass sich das Schicksal der gesamten Menschheit wohl in Minsk entscheiden wird. Es ist ja so, dass Belarus tatsächlich mehr Aufmerksamkeit absorbiert als das neuartige Lungenvirus Covid-19!

PPQ: Ist denn das angemessen? Hat nicht die Bundeskanzlerin selbst Corona zur größten Herausforderung der vergangenen  75 Jahre erklärt? Können da Medien einfach so ausscheren und alle Kraft auf einen Staat konzentrieren, der flächenmäßig recht groß ist, aber kaum mehr Einwohner als die indische Stadt Begaluru hat, von der man nie erfährt, wie die Situation dort ist?

Achtelbuscher: Nun, die Tagesschau ist auf 15 Minuten begrenzt, der "Spiegel" hat eben nur noch schmale 130 Seiten minus die 40 Seiten Werbung, auf denen für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren geworben wird. Da heißt es immer auswählen - und wenn aus der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) eine Handreichung wie die kommt, dass Weißrussland jetzt Belarus genannt werden soll, dann wird das schon verstanden und entsprechend priorisiert.

PPQ: Steckt dahinter eine objektive Notwendigkeit oder handelt es sich, wie Verschwörungstheoretiker vielmals anprangern, um den Versuch, von Problemen abzulenken, etwa bei der Neubesetzung der Parteispitze der CDU oder bei der gerechten Verteilung von Impfstoffen?

Achtelbuscher: Das wird man erst reminiszent wirklich sagen können. Im Moment verraten uns die Zahlen nur etwas über den Kampagnencharakter des medialen Minskausbruchs, der aus meiner Sicht sicher auch etwas damit zu tun hat, dass sowohl Medienmacher als auch Medienkonsumenten sich nach sechs Monaten, in denen nahezu ausschließlich Politiker, Virologen und junge Unternehmer, die sich durch die Corona-Krise nicht unterkriegen lassen, die Berichterstattung dominiert haben, arg nach alternativen Themen sehnen. Sie werden vielleicht sagen, gut, da gäbe es genug, wir haben bis heute kaum etwas von Corona-Patienten gelesen, keine einzige Reportage aus einer Fabrik in Myanmardemfrüherenburma gesehen, in der die neuen Volksmasken genäht werden, die inzwischen besser als "Mund-Nasen-Schutz" bekannt sind. Aber das sind eben alles unangenehme Dinge, viel zu praktisch. So eine Farbenrevolution in Belarusdemfrüherenweißrussland hat mehr Entertainmentcharakter, weil da ein greifbarer Bösewicht besetzt werden kann, eine schöne Frau als Rebellin, wackere Volksmassen und so weiter.

PPQ: Viele Medienkonsumenten verblüfft die Einheitlichkeit, mit der Themen immer noch ziemlich schlagartig umgruppiert werden können. Welcher Wirkungsmechanismus steckt denn aus ihrer Sicht dahinter?

Achtelbuscher: Immer noch? Mein liebes Kind, das ist eine Falschwahrnehmung, die ich ihrem ja doch recht jugendlichen Alter zuschreibe. Aus den Aufzeichnungen früherer Jahre, aus den Archiven und unseren eigenen Analysen wissen wird, dass die Einheitlichkeit - wissenschaftlich bezeichnen wir sie als E  - seit Jahrzehnten zunimmt. Wir haben dazu eine Formel entwickelt, nach der medial - bei uns abgekürzt m - eine sogenannte confirmity - abgekürzt c - zum Quadrat ausdrückt, wie hoch der Grad der jeweiligen Übereinstimmung der Einstimmigkeit der Berichterstattung ist. Wir liegen da im Moment bei 77!  Das klingt nicht hoch, ist aber das Zehnfache dessen, was zum Beispiel Ende der 90er Jahre als konform galt.

PPQ: Wie genau ist diese Zahl zu verstehen?

Achtelbuscher: Sie ist ein wissenschaftlicher Wert, der die Äquivalenz von medialer Masse und gleichartigem, sich selbst bestätigendem - auf Englisch confirm - Ergebnis bezeichnet, die nach der Formel  E = mc² berechnet wird. Das ist also nichts für den Endverbraucher, der profitiert nur von  hohen Werten in diesem Bereich, weil sie es ihm ersparen, lange nachzudenken, welches Medium er konsumieren möchte, um bestimmte Informationen zu erlangen. Über 50 E bedeuten in der Regel, dass die Wahrscheinlichkeit über 1 liegt, dass es vollkommen gleichgültig ist, weil überall dasselbe steht.

PPQ: Das sind ja eigentlich gute Nachrichten gerade in Zeiten, in denen im Internet so viel gepöbelt, gehetzt und gezweifelt wird wie nie.

Achtelbuscher: Ja, das kann man so sagen. Zumal dieser Konformitätsdruck ja keineswegs von oben verordnet wird, wie das in totalitären Regimen Sitte und Brauch ist. Nein, der Gleichklang stellt sich von selbst, also nach marktwirtschaftlichen Regeln her, ganz automatisch, und straft damit viele frühere Versuche Lügen, Medien an die Kandare zu nehmen und sie zu etwas zwingen zu wollen. Das ist,  so wissen wir Medienforscher heute, nicht notwendig. 

PPQ: Unser heutiges politisches System ist also viel besser in der Lage, ein natürliches Einverständnis der Medienarbeiter und damit letztlich auch der Bürgerinnen und Mitbürger mit dem notwendigen und klugen Handeln der Verantwortungsträger herzustellen?

Achtelbuscher: So ist das. Die Funktionsweise ist ebenso einfach wie in ihrer natürlichen Eleganz schön. Wir wissen, dass unerwartete Ereignisse das Belohnungszentrum im Gehirn aktivieren - daher speichert es solche Eindrücke besser ab und drängt danach, sie zu wiederholen. wer also einmal für die CDU gestimmt hat, die dann bei einer Wahl gewinnen konnte, der tut das wieder, weil er erwartet, wieder bei den Gewinnern zu landen. Diese Hypothese konnten Neurowissenschaftler des Bundesblogampelamtes (BBAA) im mecklenburgischen Warin jetzt in einer Patientenstudie bei 2.134 Internetnutzern bekräftigen: Wenn die Probanden gezwungen wurden, sich Bilder einzuprägen, die nicht zu einem bestimmten Konzept passten, war das Belohnungszentrum im Gehirn aktiver als bei den herkömmlichen Bildern.

PPQ: Ereignisse werden also dann besonders gut abgespeichert, wenn das Gedächtniszentrum starke Signale aus dem Belohnungszentrum erhält?

Achtelbuscher: Das ist das Prinzip, mit dem wir in der Werbung, aber auch in der politischen Propaganda arbeiten. Das ist nicht nur bei tatsächlich belohnungsrelevanten, sondern auch bei
unerwarteten Ereignissen offensichtlich der Fall. Die Aktivität von zweier Gehirnregionen - dem Nucleus accumbens und dem Hippocampus - müssen von außen so stimuliert werden, dass sie sich an das Unvorhergesehene hinterher besser erinnern. Ich sage nur "das König der Biere" oder "wir schaffen das" - das bleibt hängen, weil es eben ein bisschen schräg ist.

PPQ: Ein Tag wie alle anderen, ohne medialen Minskausbruch, ohne Zuspitzung der Corona-Krise und ohne ARD-Brennpunkt dagegen verschwindet schnell aus dem Gedächtnis?

Achtelbuscher: Exakt. Stellen Sie sich vor, Sie stehen morgens auf und alles passiert wie immer, Sie kaufen sich einen Kaffee, fahren zur Arbeit und setzen sich an den Computer - dann ist es unwahrscheinlich, dass Sie sich später noch an viele Details erinnern. So kann politische Kommunikation nicht funktionieren, zumal ja derzeit nahezu alle Parteien dieselben Botschaften an den Mann, die Frau und alle anderen Geschlechter bringen wollen. Geschieht allerdings etwas
Unerwartetes - egal, ob positiv oder negativ - sieht das gleich ganz anders aus: Wenn Sie sich Kaffee über die Hose schütten oder einen Kaffee geschenkt bekommen, dann ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass Sie sich später noch daran erinnern.

PPQ: Unerwartet kamen zuletzt die Billionen, wo viele Menschen nur mit Milliarden gerechnet hatten. Aber ist es das denn wert?

Achtelbuscher: Es geht immer um den Augenblickseffekt, das schon länger bekannt. Bisher war aber unklar, welche Kosten das wirklich rechtfertigt, denn niemand wusste das Gehirn auf Zahlen reagiert, die es gar nicht mehr begreifen kann. Es gab aber die Hypothese, das Summen, die unvorstellbar hoch sind, auch ein unvorstellbar hohes Sicherheitsgefühl erzeugen können. Und das hat sich als richtig herausgestellt. das heißt im Gegenzug, dass jeder finanzieller Aufwand gerechtfertigt ist, zumal ja feststeht, dass keiner der heute lebenden Menschen die Kosten wird tragen müssen.

PPQ: Mir scheint das aber ungerecht gegenüber nachfolgenden Generationen, oder?

Achtelbuscher: Das scheint Ihnen nur so, rein reflexhaft. Aber bedenken Sie, dass jede nachfolgende Generation es ebenso halten kann. Niemand muss irgendwann irgendwo seine Rechnung bezahlen, wenn alle für immer am Kneipentisch sitzen bleiben - so erkläre ich es meinen Studenten immer. Im Gehirn ist das bekannt: Dort überprüft der Hippocampus, ob das eingetroffene Ereignis mit der Erwartungshaltung übereinstimmt und gibt diese Information an den Nucleus accumbens weiter. Daraufhin wird der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet, und zwar umso mehr, je stärker das Ereignis von der Erwartungshaltung abweicht. Je mehr Dopamin ausgeschüttet wird, umso wahrscheinlicher ist es, dass der Hippocampus das Ereignis ins Langzeitgedächtnis überschreibt - das Wissen darum, dass es möglich ist, Geld in unendlicher Größenordnung zu erzeugen, wird also nicht mehr verschwinden, das bleibt als Entdeckung unserer Generation - ein Geschenk an nachfolgende, dessen Wert im Grunde unschätzbar kostbar ist. Die sollten uns dafür sehr dankbar sein - und ich schätze, sie werden es eines Tages auch werden.

4 Kommentare:

  1. Florida RalfSeptember 01, 2020

    ich lese ppq ja wegen der interviews.

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  2. ich wegen der Décolletés

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  3. " es ist die achtsame und emphatische Sprache mit der uns der Lyriker Dr. Sepp-La Douche in die Welt der hochbegabten KinderInnen entführt ; ohne den Leser zu verärgern stellt Dr. Sepp die Gesellschaftspyramide vom Kopf auf die Füße - IHR da und ich hier ; der Leser fühlt sich mitgenommen in eine Welt aus Bildung und diskreter Verschwendung , ein Lesegenuss für Jung und Alt" ( Sloterdijk in der FAS über den Tatsachenroman "wir Wutbürger - eine Reise durch das Berlin der 20er Jahre , 499 S. persia Dünndruck mit einem Vorwort von Alfred E. Neumann )

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  4. Hase, Du bleibst hier...September 05, 2020

    Einsteinswitweskinder werden dich verklagen. Unerhört, dieser Achtelbuscher.

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