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Die Sonne der Wettbewerbsfähigkeit geht in der EU langsam unter. Die Kommission steuert entschlossen mit allerlei Paketen und großen Plänen dagegen. |
Aus dem Berlaymont-Palast gesehen, jenem sagenhaften Gebäude in Brüssel, das über mehr Energieeffizienzzertifikate verfügt als manche Kleinstadt, stehen die Dinge gar nicht so übel. Der Zolldeal mit den USA ist unter Dach und Fach, demnächst, vielleicht schon in vier oder sieben Jahren, werden weitere große Handelsabkommen mit anderen wichtigen Staaten geschlossen werden.
Der Chips Act sichert Europa zugleich eine Zukunft mit eigenen Halbleitern, sobald sich genügend amerikanische und chinesische Firmen gefunden haben, die gegen die Zahlung der halben Baukosten bereit sind, in der EU zu produzieren. Mit dem AI Act hat die Kommission sogar so schnell auf eine neuen Technologie reagiert, dass die schon verboten war, ehe sie richtig eingeführt werden konnte.
Ein Meisterstück des pre-banning
Ein Meisterstück des pre-banning, das sich als hochwirksam erweist: Selbst Apple, eine Firma, die immer wieder trickreich versucht hat, seine Kunden trotz von der Kommission verfügter Schutzrichtlinien mit neuester Technik zu versorgen, hat die Waffen gestreckt und darauf verzichtet, neumodischen Kram wie live übersetzende Kopfhörer in Europa einzuführen.
Niemals zuvor war die EU so mächtig wie heute. Und niemals zuvor hat sie so entschlossen gehandelt, um den imaginären gemeinsamen Wirtschaftsraum zu schützen und die vielen kleinen nationalen Märkte in der EU voneinander abzuschotten. Erst kürzlich hat Ursula von der Leyen das Ergebnis von 50 Jahren Offenmarkt-Politik in ihrer bezeichnenderweise "Lage der Union" genannte großen Rede vor dem EU-Parlament selbst zusammengefasst: Der vermeintliche Binnenmarkt sei gar keiner - in von der Leyens Worten "keineswegs vollendet". Weiterhin bestehende, aber nicht näher erläuterte "interne Hemmnisse" seien "vergleichbar mit einem Zollsatz von 45 Prozent auf Waren, bei Dienstleistungen von 110 Prozent.
Im Handumdrehen aus dem Hut
Ursula von der Leyen, die das Thema in all den Jahren ihrer ersten Amtszeit nicht mit einem Wort erwähnte, wirkte empört und angefasst. Das könne nicht sein, sagte sie. "Es sollte nicht leichter sein, sein Glück in Übersee zu machen, als über europäische Grenzen hinweg." Im Handumdrehen hatte die Chefin der größten Staatengemeinschaft der Menschheitsgeschichte eine "Binnenmarktstrategie" aus dem Hut gezaubert. Jetzt gehe es doch darum Tempo und Prozesse zu beschleunigen, verkündete sie den baffen Abgeordneten, die seit Jahrzehnten mit ruhiger Hand abnicken, was die Kommission und die Staatenlenker an Fortschrittsideen in den Ring werfen.
Auf einmal aber ist Feuer unterm Dach. Das war kurzzeitig schon ausgebrochen, als der frühere EZB-Chef Mario Draghi vor einem Jahr seinen nett geschriebenen und solidarisch verpackten Bericht zum Zustand der Wettbewerbsfähigkeit der EU vorlegte. In einem Wort: Beklagenswert. Draghi, selbst jahrzehntelang integraler Bestandteil eines Systems, das planwirtschaftliche Überregulierung als sicherste Gewähr für die eigene Fortexistenz begriffen hat, schien damals selbst überrascht von den Verheerungen, auf die bei seinen Untersuchungen im Auftrag der Kommission gestoßen war.
"Schwach, sehr schwach"
In Europa sei die Produktivität "schwach, sehr schwach". Über Jahre habe sich "zwischen der EU und den USA eine große Lücke im Bruttoinlandsprodukt aufgetan". Die traurige Folge sei, dass das "verfügbare Pro-Kopf-Einkommen in den USA seit 2000 fast doppelt so schnell gestiegen sei wie in der EU. Das Zurückfallen hätten die europäischen Haushalte "in Form eines entgangenen Lebensstandards gezahlt".
Ein vernichtendes Attest. Doch immerhin gelang es, die Diagnose nicht an die große Glocke zu hängen. Wahlen standen vor der Tür, Wahlen zum Europa-Parlament. Niemand hatte Interesse die Misere schlechtzureden und damit Wasser auf die Mühlen derer zu leiten, die ohnehin im Gebüsch lauern und der einzigen jemals mit dem Friedensnobelpreis gewürdigten Staatenfamilie nur allzu gern Hybris bei der zentralen Planung des Lebens und Wirtschaftens von 27 Staaten und 440 Millionen Menschen vorwerfen. Draghis Bericht war schneller vergeben und vergessen als seine Erstellung gedauert hatte.
Eher schlimmer als besser
Und ein Jahr später, pünktlich zum Beginn einer amtlichen Konferenz zu den seitdem erreichten Fortschritten, sieht es eher schlimmer als besser aus, wie auch die Kommissionschefin zugeben muss. Im Frühherbst 2024 hatte Draghis Klage noch einer Schwäche gegolten, aus der eine Perspektive erwuchs, die sich einzutrüben drohte. Inzwischen ist die EU einen Schritt weiter. Aus den düsteren Prognosen ist fühlbare Wirklichkeit geworden.
Deutschland, der Kassenwart, dessen Zuwendungen das gesamte EU-Konstrukt am Leben halten, steckt das dritte Jahr in der Rezession, Ende nicht abzusehen. Frankreich ist unregierbar geworden, ein Land, das unaufhaltsam in eine Schuldenkrise taumelt. Polen floriert, fordert aber 1,3 Billionen Reparationen vom Pleitenachbarn Deutschland. Ungarn ignoriert Brüssel, Italien kümmert sich um niemanden sonst, die Niederlande sind nach rechts gerückt und Spanien, Irland und eine Handvoll anderer Staaten setzen Baerbock-Prämissen: Ihre Anstrengungen gelten vordringlich um Palästina.
Wenn niemand mehr nichts glaubt
Rettung tut not, nicht nur für die Schicksalsgemeinschaft der EU-Europäer, sondern auch für die 66-jährige Kommissionsvorsitzende, die bereits zum zweiten Mal mit dem Misstrauensantrag einer qualifizierten Anzahl an EU-Abgeordneten konfrontiert sieht. Herumreden nützt wenig, wenn einem ohnehin niemand mehr ein Wort glaubt. Ursula Von der Leyen hat deshalb auf der Bilanzkonferenz zum Draghi-Bericht noch einmal selbst betont, dass die Kommission seit ihrem Amtsantritt die versprochene Dringlichkeit in Aktionen umgesetzt habe.
Man habe "losgelegt", sagte von der Leyen und nannte zuerst ihre neueste bürokratische Erfindung namens "Kompass für Wettbewerbsfähigkeit". Danach folgte der "Deal für eine saubere Industrie" und ein Hinweis auf die "KI-Gigafabriken", wie die EU die klitzekleinen Brüder der in den USA im Bau befindlichen Rechenzentralen der Zukunft nennt. Gebaut werden die noch nirgendwo. Wie sie in Europa mit Unmengen an möglichst günstigem Strom gefüttert werden sollen, muss auch erst noch geklärt werden. Aber mit dem "Aktionsplan für erschwingliche Energie" steht ein Papiertiger bereit, ähnlich wirkungsmächtig wie die "Spar- und Investitionsunion", mit der von der Leyen privates Kapital akquirieren will, damit nicht auch noch die letzten paar EU-Startups mit zukunftsträchtigen Ideen in den USA an die Börse gehen.
Ein Hagel aus Aktionsplänen
Wie immer mangelt wahrlich nicht an "maßgeschneiderten Aktionsplänen" (von der Leyen), an Absichtserklärungen hochfliegenden Visionen und klafterdicken Strategiepapieren. Die nimmermüde EU-Bürokratie hat sie für die Automobilindustrie, Stahl und Chemie ausgespuckt, sie hat die "größte Steigerung der Verteidigungsinvestitionen in unserer Geschichte" (Leyen) schon komplett durchgeplant und einen fantasievoll "Start-up/Scale-up-Fonds" erfunden, der unter anderem die "Quantentechnologie" zum neuen großen Ding in Europa machen soll.
Direkt spruchreif ist im Moment noch nichts. Nirgendwo können erste Ergebnisse besichtigt oder erste Renditen aus künstlicher EU-Intelligenz eingesammelt werden. Denn was die Finanzierung wie die Umsetzung anbelangt, sind noch Hürden zu überwinden: "Sechs Vereinfachungspakete", hat Ursula von der Leyen verkündet, würden gerade "geschnürt". Gemeint sind damit hochamtliche Versuche einer Überbürokratie, die sich selbst in den Abertausenden ihrer Regeln und Vorschriften verfangen hat, ein wenig schneller zu werden.
Umgehung mit dem Omnibus
Der offizielle Name der Methode sagt alles über die Erfolgsaussichten: Von der Leyen nennt den Trick "Omnibus-Gesetze" nach einer in Anhang I der Richtlinie 70/156/EWG definierten Klasse "motorisch angetriebener Landfahrzeuge der Klassen M2 oder M3 mit mehr als acht Sitzplätzen neben dem Fahrersitz", die ihren Namen den im 19. Jahrhundert verbreiteten Pferdeomnibussen verdankt. Um die lähmend lange Dauer des üblichen EU-Gesetzgebungsverfahrens abzukürzen, das so heißt, obwohl die EU keine Gesetze, sondern nur "Rechtsakte" beschließen darf, werden bei einem Omnibus-Gesetz in einen beliebigen Entwurf zu einem beliebigen Thema beliebige Beschlussanträge zu belieben anderen Themen als "Passagiere" hinzugefügt.
Die Bürokratie trickst sich so selbst aus, das reguläre Gesetzgebungsverfahren bleibt auf der Strecke, aber statt sich über die Umgehung der verbindlich vereinbarten Regeln zu empören, geht Ursula von der Leyen stolz damit spazieren. Allerdings: So altehrwürdig der Name, so verzweifelt der Versuch, mit dem leckgeschlagenen REUderboot der 27 missmutigen Paddler zu neuen Ufern aufzubrechen. In einer Art Offenbarungseid hat Ursula von der Leyen bei der Schilderung der "realen Auswirkung" der bisherigen Anstrengungen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Zuflucht zu Sätzen wie diesen nehmen müssen: "Bei der Wettbewerbsfähigkeit geht es um Arbeitsplätze. Es geht um gute Löhne für Menschen und gute Gewinne für Unternehmen. Es geht um unsere Lebensweise."
Bereiche, die dieses Rennen ausmacht
Wer hätte das gedacht. Aber es war ja längst nicht der einzige Punkt, an dem sie Klartext redete. Beim Aufholen des Innovationsrückstands gegenüber den USA und China forme "KI den globalen Wettbewerb neu". Über die globale Führungsrolle sei noch nicht entschieden. "Und Europa ist nicht nur ein Herausforderer, sondern in vielen Bereichen führend, die dieses Rennen ausmacht."
Als Beispiele nannte sie die beiden Supercomputer Jupiter in Deutschland und HPC6 in Italien, die "unter den globalen Top 10" stünden. "Unsere Strategien und Investitionen in diesem Bereich beginnen, sich auszuzahlen." Auch bei KI-Anwendungen sei Europa vorn mit dabei, behauptete sie und nannte die schwedische Firma Lovable, die derzeit ein Tausendsechhundertstel von Google wert ist. Noch ist damit abwer nicht alles in Butter.
Entlang der Vorgaben des gemeinsamen "Plans für Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit" müsse Europa von importierten fossilen Brennstoffen unabhängig werden. Die Lösung liege in heimischer Energie, erneuerbaren Energien mit Kernenergie für die Grundlast. "Allein im letzten Jahr haben wir beeindruckende Fortschritte erzielt", sagte sie. Zunächst sei das "Windpaket auf den Weg gebracht" worden, durch das die Genehmigungszeiten um zwei Drittel verkürzt wurden. Seitdem erreichten die Investitionen in die europäische Windenergie ein Allzeithoch – "sie lagen bei über 40 Milliarden Euro. Investoren entscheiden sich also für Europa."
Gekommen, um Geld zu ernten
Mit teurer Energie ist hier Geld zu ernten, auch weil Strom "in einigen Mitgliedstaaten dreimal so viel wie in anderen". Ursula von der Leyen will jetzt dafür sorgen, dass "Energie ungehemmter dorthin fließen kann, wo sie benötigt wird". Die öffentliche Hand werde jetzt auch noch Geld in die notwendigen Verbindungsleitungen stecken. Die Kommissionspräsidentin nannte Projektbeispiele, etwa den "Celtic Interconnector", der irischen Windstrom bald ab 2028 aufs Festland transportieren wird, sobald die Baukosten von 1,6 Milliarden Euro komplett am sensiblen Meeresboden vergraben. Darüber hinaus wird es auch ein "Netzpaket" und eine neue Initiative für Energieautobahnen geben. "Von den Pyrenäen bis zur Transbalkan-Pipeline. Vom Øresund bis zur Straße von Sizilien."
Fließt der Saft, wird Europa auch bei Batterien "das Industrie-Kraftzentrum sein, das dieser steigenden Nachfrage nach sauberer Technologie gerecht wird". Derzeit seien "die Zahlen in diesem Bereich nicht so vielversprechend sind wie in anderen Sektoren", die sie nicht nannte. "Aber wir können das Blatt immer noch wenden." Man müsse jetzt nur "unsere öffentlichen und privaten Investitionen massiv aufstocken, Leitmärkte für kreislauforientierte und saubere Produkte schaffen und für faire Wettbewerbsbedingungen sorgen." Die Kommission arbeite bereits "auch an einem Batterie-Booster-Paket".
Omnibusgesetze sind auch in den USA sehr beliebt, weil man dort Projekten von alten Kumpels und in den Wahlkreisen daheim ein paar Millionen zuschieben kann, ohne dass es in den 1000 Seiten plus X groß auffällt.
AntwortenLöschenGeld schießt keineTore - Otto Rehagel
AntwortenLöschenSchier göttlich - Das Windpaket auf den Weg gebracht. Wie einer immer sagt: Ich kann ni' mehr ...
AntwortenLöschenMeine Lieblingsphrase bleibt aber - könnte anschlussfähig an rechtes Gedankengut sein ...