Freitag, 24. Oktober 2025

Erschrocken erwachen: Morgens halb fünf in Deutschland

Die Transformation einer Taz-Überschrift von der Strafbarkeit in den Umgehungstatbestand: Sie müssen besser aufpassen.  

 "Wenn es morgens um sechs an meiner Tür läutet und ich kann sicher sein, dass es der Milchmann ist, dann weiß ich, dass ich in einer Demokratie lebe." 

Winston Churchill

Wenigstens einem haben sie jetzt die Instrumente gezeigt. "Sie sollten vorsichtiger sein", bekam der Publizist Norbert Bolz eigenen Angaben zufolge von einem Polizeibeamten geraten, der zu dem kleinen Kommando gehörte, das in der Wohnung des Publizisten nach dem Rechten geschaut hatte. Bolz, ein bekannter Name offen geäußerter Kritik, hatte einmal weitsichtig mitgeteilt, wie man heutzutage lerne,  "sich hilflos zu fühlen, wenn man andere beobachtet, die unkontrollierbaren Ereignissen, etwa Naturkatastrophen, ausgesetzt sind".  

Verbotene Kombination 

Jetzt bekam es der studierte Medienwissenschaftler selbst zu spüren: Anderthalb Jahre nachdem er eine verbotene Kombination des D-Wortes und des E-Wortes auf der Plattform X hinterlassen hatte, gab es eine Hausdurchsuchung bei dem 72-Jährigen. Tatverdacht: Die verbotene Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen nach Paragraf 86a des Strafgesetzbuches im Januar 2024. 

Die Mühlen des Rechtsstaates mahlten langsam, aber gründlich. 22 Monate nach der mutmaßlichen Tat, die der Medienprofi zweifellos in voller Kenntnis der eigenen Absicht begangen hatte, beantragte die Staatsanwaltschaft einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss. Und Bolz bekam Hausbesuch.

Ist die Feder ausgeglitten 

Ein klares Zeichen, dass es inzwischen deutlich mehr braucht als die Behauptung, man habe "den Satz in einem eindeutig ironisch-kritischen Kontext verwendet", um sich vor einem Strafverfahren zu schützen. Ist die Feder ausgeglitten, gilt es, schnell zum Korrekturstift zu greifen. Die Taz, auf deren Schlagzeile, dass "Deutschland erwacht" (Taz, oben) sich Bolz seinerzeit schmunzelnd bezog, reagierte damals eilig. Nur wenige Stunden nach der Veröffentlichung wurde aus dem leicht abgewandelten Nazi-Slogan ein bis heute straffrei verwendbares "Deutschland wacht auf".

Die Justiz hat das mit Wohlgefallen bemerkt und die Tageszeitung, die, auch das passt in die Zeitung, zwar so heißt, aber seit einigen Tagen keine mehr ist, mit Strafverfolgungsmaßnahmen verschont. Auch das frühere Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" hatte Glück im Unglück. 

Nachdem ein übereifriger Redakteur dort eine Kolumne über den "Deutschland-Pakt" des später tragisch gescheiterten SPD-Bundeskanzlers Olaf Scholz mit der strafbaren Zeile "Alles für D-Wort" überschrieben hatte, rotierte ein Krisenstab in den höchsten Umdrehungen. Bis aus "Alles für Deutschland" das überaus originelle "Im Deutschland-Tempo" geworden war.

Guter Wille der Fahnder 

Soweit bekannt geworden ist, gab es weder in der Kochstraße noch an der Ericusspitzen zu Beweissicherungsversuchen durch Fahndungsbeamte. Die Staatsanwaltschaften in Berlin und Hamburg zeigten damit ihren guten Willen. Wer Fehler einsieht und abstellt, kommt in den unumschränkten Genuss der Pressefreiheit, wie sie das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Art 5  vorsieht. Dort steht, dass jeder das Recht hat, "seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten", so lange er nicht das D-Wort mit dem E-Wort oder dem A-Wort kombiniert. 

Auch im "Spiegel"-Hochhaus musste das erst gelernt werden: Obwohl das Urteil gegen den hessischen AfD-Politiker Björn Höcke wegen der Verwendung der NS-Parole mittlerweile bereits anderthalb Jahre rechtskräftig ist, verbreitet sie das Magazin noch immer furchtlos. Höcke war nicht Lehre genug. Auch der weltweit vielbeachtete Auftritt dreier Spezialstaatsanwälte aus der Abteilung für Meinungsfreiheitsschutz bei der Zentralstelle zur Bekämpfung von Hasskriminalität im Internet Niedersachsen (ZHIN). 

In der CBS-Reportage "Posting hateful speech online could lead to police raiding your home in this European country" hatten die Meinungshüter angekündigt, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung seine Grenzen findet, wo sie zum Schluss kommen, dass ein Satz oder ein halber schweren Schaden an der Gesellschaft anrichten wird.

Deutschland erwacht

Norbert Bolz konnte das im Januar 2024 noch nicht wissen, weil der für einen US-Sender produzierte Film erst im Februar 2024 ausgestrahlt wurde. Als der schon häufiger als "neoliberal" aufgefallene  "philosophischer Zeitdiagnostiker der Gegenwart" (Rüdiger Safranski) seine Replik auf die frech mit historischen Assoziationen spielende Taz-Überschrift: "Deutschland erwacht!" schrieb und sie als perfekte Übersetzung des Begriffes "woke" bezeichnete, hätte er als geübter Leser der gesellschaftlichen Tektonik allerdings ahnen müssen, dass die Zeiten vorüber sind, in denen in Deutschland etwas "erwachen" durfte und Staatsanwälte darin nicht einmal eine kleine Volksverhetzung entdeckten.
 
Sittengemälde statt Stadtbild. Die Taz steuerte rechtskonform genau einen Buchstaben vorbei an der strafbaren Nazi-Parole. Bolz zitierte sie inklusive des im 1920 von Antisemiten Dietrich Eckart geschriebenen "Sturmliedes" vorgesehenen Ausrufezeichens. Das muss es gewesen sein, was das  "Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen" aus Sicht der Berliner Staatsanwälte scharfschaltete. 

Verbalisiertes Kennzeichen 

Das verbalisierte "Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation" wird dadurch strafbarer als der - seit den Sylt-Gesängen ist das bekannt - straffrei verwendbare Slogan "Ausländer raus". Es steht bei der Gewichtung des Gefahrenpotenzials direkt hinter den immer wieder gern Wortkombinationen verwendeten "Blut und E-Wort", "ein Volk, ein Reich, ein F-Wort" und dem "Jedem das S-Wort", das zuletzt von Katharina Dröge, der Grünen-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, popularisiert wurde. 
 
Bolz' Post bei X übertrifft sogar das Hakenkreuz, das der 49-jährige Sozialdemokrat Daniel Born aus Angst vor dem Erstarken alter und neuer Nazis bei einer Abstimmung über das "trinationale Parlament der Oberrheinregion" im  Landtag Baden-Württemberg auf seinen Stimmzettel kritzelte. 
 
Gegen Born wurde nicht ermittelt. Es lagen einfach "keine Anhaltspunkte für ein verfolgbares strafbares Verhalten vor", denn das Hakenkreuz ist strafbar, aber "durch den Einwurf des Stimmzettels in die Urne" wurde es nach Ansicht der Strafverfolger "nicht verbreitet oder öffentlich verwendet". Dass Daniel Born dem "Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation" mit seiner Malerei bundesweit Aufmerksamkeit verschaffte, spielte keine Rolle.  

Nicht nur was, sondern wer 

Strafbarkeit ist eben nie nur eine Frage des Was, sondern immer auch die nach dem Wer. Als ein Journalist der "Süddeutschen Zeitung" das Adenauer-Haus mit "Sieg Heil, liebe CDU" grüßte, ließ das Blatt wissen, es "distanziere" sich "mit deutlichen Worten" (Berliner Zeitung) von dem früheren Taz- und "Spiegel"-Mitarbeiter. Der beim Münchner Blatt weiterhin - jetzt offenbar aus einer gewissen Distanz heraus - "zuständig für Themen rund um die Arbeitswelt und Bildungspolitik" ist. Noch vor der Entschuldigung des Heilspredigers bei Friedrich Merz hatte die Staatsanwaltschaft entschieden, das verfassungsfeindliche Kennzeichen durchgehen zu lassen. Es war ja gut gemeint. Auch eine später eingehende Strafanzeige änderte an dieser Beurteilung nichts.
 
Gleiches gleich zu behandeln, ohne Ansehen von Person, Funktion und politischer Überzeugung, das ist die Grundlage eines Rechtsstaates. Auf der Unvoreingenommenheit von Staatsanwälten und Richtern gründet das Vertrauen in die Justiz. Staatsanwälte, obwohl wegen ihrer strikten Weisungsgebundenheit vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) unter Verdacht gestellt, nicht unabhängig agieren zu können, müssen immer auch Entlastendes ermitteln. Deutsche Richter dürfen nicht nach Nase, aus Rücksicht auf die Volksseele oder mit Blick auf das zu erwartende Medienecho urteilen. 

Das hätte Bolz wissen müssen 

Doch Spott, Spaß und Hohn, sie sind kein taugliches Versteck mehr für Menschen, die glauben, das könne man doch wohl noch sagen. In ihrer Funktion als Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und im Schulterschluss mit ihrer SPD-Genossin Nancy Faser, damals Innenministerin, hatte Lisa Paus dem hinter Ironie, Witzen und Satire versteckten Hass direkt nach Bolz' Tat den Kampf angesagt. Ein  enges Netzwerk aus Trusted Flaggern, Meldestellen und Sonderermittlern bei Polizei und Geheimdiensten hält seitdem die Augen auf, um Verstößen gegen die Meinungsfreiheit auf die Spur zu kommen.
 
Das Vorgehen gegen Norbert Bolz ist ein Alarmzeichen für alle, die bisher immer noch glaubten, "das ist bei uns nicht möglich" (Sinclair Lewis). Der frühere Professor an der Technischen Universität Berlin ist Publizist, Kolumnist bei "Welt", gefragter Interviewpartner und Buchautor. Kein 64-jähriger Rentner aus Bamberg und kein Youtuber aus Nürnberg, der "einer Partei nahestehende Personen als absolute Lachnummern und Figuren" (LG Nürnberg) bezeichnete und dafür 4.800 Euro zahlen musste.
 
Wenn es Bolz treffen kann, dann kann es jeden erwischen. Wenn es wegen einer zwei Worte umfassenden unübersehbar satirischen Formulierung passieren kann, dann wegen jeder anderen auch, nicht heute, aber morgen. 

Mit allen Waffen 

Auch bei der Taz trauen sie dem Frieden nicht, der der Redaktion trotz "Deutschland erwacht" und der Änderungen in "Deutschland wacht auf" beschieden war. Der Text, der dazu aufforderte , "Neonazis zu diskriminieren", ihnen politische Grundrechte zu entziehen und nicht an einer "legalistischen Haltung" zu kleben, sondern "Grundrechte Einzelner einzuschränken", weil das "Grundgesetz kein Selbstzweck" sei, existiert immer noch. Er heißt jetzt aber, Vorsicht ist die Mutter der Pressefreigheit, "Raus aus der Ohnmacht". Ein liebevoll renovierter Taz-Klassiker aus dem Jahr 2009, mit dem niemand nichts falschmachen kann, ohne ins Gefängnis zu gehen.
 
Die Tageszeitung ohne Zeitung ist übrigens neben der FAZ die eine überregionale Adresse, die über die Affäre in Sachen Pressefreiheit berichtet, die für Spiegel, SZ, ARD, ZDF und FR kein Thema ist. Stolz verweist die  frpühere Alternative für Deutschlan d darauf, wie mutig sie noch 1998 gewesen sei: Damals hebe man auch schon  "D-Land erwache!" getitelt.
 
Wie Norbert Bolz mit Ausrufezeichen.

2 Kommentare:

  1. Wie man vernahm, bekam das Subjekt den Ratschlag 'aufzupassen, was es postet'. Der Ratschlag kam damit an, und zwar bei allen.

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  2. Das ist doch eine schöne Aufgabe für eine KI. Sie kann doch solche Verbrecher in Nullkommanix aufspüren.
    Und dann ein richig fieses Virus auf den schuldigen Rechner schicken. Da ist noch viel Luft nach oben.

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