Mittwoch, 27. Februar 2013

Nachruf: Abschied von Zettel


"Es ist gegen jede Vernunft, sich Sorgen um sein Lebensende zu machen. Es war ja nicht besonders schlimm, daß man vor seiner Geburt nicht lebte. Jeder hat das ganz gut ertragen. Es ist so wenig schlimm, nach seinem Tod nicht zu leben. That's life; dieser Kalauer hätte Kafka oder Arno Schmidt gefallen", hat er vor Jahren einmal geschrieben in seinem Blog, das "vernünftigen Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt" gewidmet war. Zettel nannte sich "Zettel" natürlich in Anspielung auf "Zettels Traum", das Monumentalwerk des Dichters Arno Schmidt, das kaum jemand gelesen hat.

Anders war das bei Zettels Raum, einem Blog, das der damals 63-jährige Hochschullehrer im Ruhestand im WM-Juni 2006 mit einem Text über Tugend startete. Ein Manifest wider die Vergänglichkeit in Tagen, in denen auf den Straßen ein dröhnend nachgestelltes Fantum von Industrie- und Staatesgnaden tobte. Zettel machte nicht mit, machte nie mit, er pflegte seine eigenen Vorlieben und er pflegte seine eigenen Ansichten. Die waren zeitlosen Werten verpflichtet - Freiheit, Eigenverantwortung, Nachdenken, Prüfen, nicht Drauflosprügeln. Schon der Untertitel des Blogs, das er selbst lieber ein "Forum" nannte, bediente keinen Zeitgeist heutiger, flattriger Art. Zettel hatte ihn dem altfränkischen Namen des Hauptwerkes des Christian Wolff (1719) entliehen.

Um Aufklärung ging es ihm in "Zettels Raum". Gegen das schnelle Urteil setzte er ausgewogene Betrachtungen, gegen das vorschnelle Wissen das ausgiebige Abwägen. Zettel, ein erklärter Liberaler, wollte sich nicht damit abfinden, das eigene Denken an den Staat abzutreten. Als "skeptischer Konservativer und zugleich Liberaler, der die Hoffnung auf eine vernünftige Gesellschaft nicht aufgegeben hat" wehrte er sich mit den Waffen des Intellekts gegen die grassierende Verblödung durch Medien, die ihre Aufgabe zunehmend verweigern: Ein "Deutschland im Öko-Würgegriff" sah er schon, als Glühbirnen noch erlaubt und Bio-Eier über jeden Zweifel erhaben waren, dem Alltagseinerlei des Leitmedienchorgesangs antwortete er sonor, leise, aber mit umso größerer Wirkung bei denen, die ihn lasen.

Zettels Satz "Wann hat eine Religion, wann hat eine Ideologie vollständig gesiegt? Wenn selbst Kritiker sich in ihrem Rahmen bewegen", hat seit den Anfängen nur immer noch an Wahrheit gewonnen. Ohne Effekthascherei, wie sie anderswo betrieben wird, stritt der stilvolle Schreiber und belesene Intellektuelle dennoch beinahe täglich mit Texten zu Themen aller Art für "die Freiheit des Wortes und die Liberalität unserer Gesellschaft" (Zettel). Eine Stimme der Ohnmacht, von den Umständen ungebrochen.

Auch wegen dieses seinen Anliegens fühlten wir uns verbunden, obwohl wir uns nicht kannten. Für Zettel war Lotto so interessant wie Klima, Olympia so wichtig wie Fukushima, Sarrazin so diskussionswürdig wie Gabriel. "Alles interessant für mich; und hoffentlich auch für den Leser", sagte er.

Wir hätten uns die Hand geben können. Wenn wir uns jemals getroffen hätten. Wir litten dieselben Schmerzen, Schmerzen der Dummheit, der Gedankenträgheit, Schmerzen beim Anblick des allgemeinen Kulturabbaus, der dumpfen Widerkäuerei, die in den Medien Recherche, Fakten und eigene Meinung abgelöst haben. Schmerzen auch, missverstanden zu werden: Einmal wurde Zettel von einer Gartenzeitung bestohlen. Einen Wimpernschlag später bedienten deren Bedienstete sich bei uns. Wir schrieben uns Mails. Wir verstanden uns. Auch der Editor, den der Internetkonzern Google den Nutzern seines Blogspot-Dienstes zur Verfügung stellt, ließ uns ja gemeinsam leiden: Immer weiter verbessert wird der seit unseren Anfangsjahren 2006 und 2007. Und immer schlechter, da waren wir uns einig, zu benutzen ist er auch.

Es ist wie mit dem Staat. Gibt es die Verwalter, dann wird auch verwaltet. Je mehr Staat, desto mehr Verwaltung. Je mehr Verwaltung, desto weniger Freiheit. Das Ende lässt sich denken.

Zettel, der einen seiner ersten Texte einem Nachruf auf den Schriftsteller Robert Gernhardt gewidmet hatte, wird es nun nicht mehr erleben. Zettel ist gestern gestorben.

Ihm das letzte Wort: "Man kann fürchterlich leiden und gar nicht sterben. Man kann sterben, ohne irgendwie zu leiden."

(Das Bild oben zeigt Zettel's Cottage, Abbildung aus Zettels Bloggerprofil.)

Le Penseur verneigt sich
Cora Stephan hat ihrem Nachruf in der "Welt" aus irgendeinem Grund einen zweiten, unverständlichen Text angehängt 

16 Kommentare:

  1. Bei allen Texten, die ich heute, um in der Trauer Gemeinsame zu finden, gesucht habe, gefällt mir dieser besonders.

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  2. Ich fass es nicht. So viele Idioten dürfen ihr Unwesen treiben, und einer wie Zettel muss abtreten.

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  3. Orwell HuxleyFebruar 27, 2013

    Gut geschrieben, PPQ. Mich hats es auch geschockt es gestern zu lesen, gab es doch keine Anzeichen einer Krankheit. Aber dennoch, so muss er das Ende des großen Dramas nicht mehr erleben, der gute Zettel.

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  4. Ein Liberaler war Zettel ganz sicher nicht, aber lesenswert war er auf jeden Fall.

    Liberale erkennt man daran, dass es bei ihnen keine thematischen Tabus gibt, und derer gab es viele bei ihm, bei weitem nicht nur Migration und NSU...

    Fehlen wird Zettel mir trotzdem.
    Er ruhe in Frieden.

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  5. thematische tabus gibt es immer, bei jedem

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  6. Danke für diesen Text.
    FAB.

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  7. De mortuis nil nisi bene.

    Bemerkenswert waren sein Engagement und sein Fleiß. In Zeiten eines gleichgeschalteten Qualitätsjournalismus war sein Blog ein Muß.

    Ich hoffe, daß ihm die Möglichkeit, praktisch bis zum letzten Tag an seinem Blog arbeiten zu können, Befriedigung und Erfüllung geben konnte.

    Beileid an die Angehörigen.

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  8. Ich brauchte noch nie engere Angehörige derart verabschieden - jetzt habe ich eine Ahnung, was Verlust bedeutet. Und wenn es "nur" die Bloggemeinde betrifft.

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  9. Danke für diesen guten Nachruf!

    Herr

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  10. Lieber PPQ,ein sehr einfühlsamer Nachruf. Hab Dank dafür.
    Für mich Veranlassung öfter mal hier "vorbei zu kommen".

    LG Paul

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  11. Ja, das ist das Angenehme hier. Dass das Primat von Takt, Maß und Menschlichkeit noch existiert. Dass alle ironische Schärfe, aller Sarkasmus nur den Dingen und Personen gegenüber praktiziert werden, die ihrerseits jedwedes Taktgefühl und Maß verloren haben. Dass also Zynismus und geharnischte Diktion nicht um ihrer selbst Willen zelebriert werden.

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  12. Schade,ich habe ihn gerne gelesen,ohne den Menschen dahinter zu kennen.

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  13. "Dass das Primat von Takt, Maß und Menschlichkeit noch existiert. Dass alle ironische Schärfe, aller Sarkasmus nur den Dingen und Personen gegenüber praktiziert werden, die ihrerseits jedwedes Taktgefühl und Maß verloren haben. Dass also Zynismus und geharnischte Diktion nicht um ihrer selbst Willen zelebriert werden."

    Danke.

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  14. Herzlichen Dank für diesen respektvollen und einfühlsamen Nachruf!
    Besonders für diesen Satz:
    "Wir litten dieselben Schmerzen, Schmerzen der Dummheit, der Gedankenträgheit, Schmerzen beim Anblick des allgemeinen Kulturabbaus, der dumpfen Widerkäuerei, die in den Medien Recherche, Fakten und eigene Meinung abgelöst haben."
    Herzlich, Barbara

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  15. Apropos Respekt:
    Hier sieht man nur zu deutlich, dass Respekt etwas ist, was man sich verdient, was einem von Anderen eben aufgrund seiner Verdienste entgegengebracht wird. Respekt ist keine Zwangsattitüde, die eingefordert kann. (Wie vor einiger Zeit irgend so ein Mi-Hi-Gru dahertönte, der von den Indigenen "mehr Respekt" forderte)

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