Mittwoch, 22. April 2020

Bundesworthülsenfabrik: Verbal-Schweißen gegen das Virus

Ein Verbot, auf Anraten der Bundesworthülsenfabrik als Erlaubnis verkleidet, erscheint denen, die es befolgen müssen, als gütig gewährte Gnade.
Es sind Wochen allerhöchster Betriebsamkeit in der Bundesworthülsenfabrik (BWHF), die einst auf Beschluss der weitsichtigen Regierung Kohl direkt im Berliner Regierungsviertel unterhalb der Kanzlerwaschmaschine in den märkischen Restsand gegossen wurde. Die Großcomputer rasseln, die Reimprogramme rattern, die Wortschweißgeräte glühen. Hier, wo schon politische Kampfbegriffe wie "Rettungspaket", "Konjunkturspritze", "Abwrackprämie", "Schuldenbremse" und "Rettungsschirm" entstanden, haben die mittlerweile 1.200 Vollzeitbeschäftigten in nur acht Wochen mehr Als-Ob-Worte herstellen können als der seinerzeit noch von SED-Politbüromitglied Kurt Hager geleitete VEB Geschwätz im gesamten letzten Fünfjahrplanzeitraum der DDR.

Mit Alltagsmasken in den Corona-Ferien

 
Von "Corona-Ferien" über "Alltagsmasken", "Kontaktsperre", "Ausgangsbeschränkungen" bis hin zu den in globalem Englisch-Design angelegten "Lockdown" und "Shutup" versorgten die Wortwerker Politik und Behörden mit einem schier nicht abreißenden Strom an Euphemismen. Noch nie, sagt BWHF-Chef Rainald Schawidow, sei der Bedarf an verbalen Imponierbegriffen und fachmännisch angefertigtem Verschleierungsdeutsch so groß gewesen wie in den Tagen der Corona-Krise - übrigens auch ein Begriff, den die BWH-Mitarbeiter nach früheren Versuchen mit "China-Seuche", "Corona-Pandemie" und "Wuhan-Virus" zur allgemeinen Nutzung in den Medien vorschlugen.

Seit Jahrzehnten schon gelten solche Vorschläge, zumeist in Form von sogenannten Sprachregelungen öffentlich ausgereicht durch Bundesminister oder die Kanzlerin selbst, als mediale Gesetze. Von Klassikern wie "Energiewende", "Schuldenbremse", "Wachstumspakt" und "Stromautobahn" bis zur erst kürzlich medial eingeführten "Respektrente" führt  kein Weg an der Verwendung verschleiernder Worthülsen aus der BWHF-Stanze vorbei.

Ritterschlag für Ex-Sozialisten


"Für uns ist das natürlich ein Ritterschlag", sagt Schawidow, der junger Hülsendreher im damaligen VEB Geschwätz noch für Erich Honecker tätig war und als Mitglied einer FDJ-Brigade bei der "Messe der Meister von Morgen" (MMM) unter anderem den sehr erfolgreichen Satz vom "Sozialismus in den Farben der DDR" erfand.

Markenzeichen der Wortschöpfungen aus der BWHF sei ihr Vermögen, dem "kleinen Mann auf der Straße komplizierte Sachverhalte in seiner eigenen Sprache" zu erzählen, so dass der den Eindruck gewinne, bestimmte Dinge nun doch verstanden zu haben.  "Dabei kommt es aber eben gerade nicht darauf an, dass das Erzählte wirklich verstanden wird, sondern allein darauf, dass der Empfänger glaubt, er habe es verstanden."


Corona sei eine Zeit großer Herausforderungen gewesen, gesteht Schawidow freimütig zu. Nach den Bauplänen, die in der BWHF verwendet werden, sind erste Wahl zur Herstellung neuer Deckausdrücke bestimmte tabuisierte Sachverhalte Bestandteile aus Technik und Gartenbau. "Weniger gern verwenden wir Fachworte aus der Wissenschaft", erklärt Rainald Schawidow. Diese gelten den Euphemismusexperten und Verbalschweißern als zu kompliziert.

Sonderabteilung C prägt Corona-Worthülsen


"Es schreckt ab, Worte zu hören, die man nicht subkutan versteht." Auch bei der Abarbeitung des Corona-Themas - in der BWHF gebündelt in der eigens neugegründeten Sonderabteilung C - blieb diese Prämisse weitgehend bestehen: "Testzentren", "Fieberambulanz", "Hamsterer" und "soziale Distanz" zeigten, dass das traditionelle Herstellungsverfahren für neue Worthülsen nach wie vor ausgezeichnete Ergebnisse erbringe. "Eine Ausnahme haben wir bei "Lockdown" und "Shutdown" gemacht", sagt Schawidow. Ziel dieses Experiment sei es gewesen, wie seinerzeit bei "Bad Bank " durch demonstrativ durchglobalisierte Termini zu betonen, dass es bei Corona um die Auseinandersetzung mit einem weltweiten Problem gehe. "Unsere Arbeit diente auch in diesem Fall dem Schutz der legitimen Interessen der Bundesregierung", betont Schawidow. Das Ziel sei klar: "Wenn Publikum, Medien und Politik zusammenhalten, verstummt alle Kritik und es kann zum Nutzen aller durchregiert werden."


Überwogen habe aber auch in der Corona-Krise das Standardrepertoire der Hülsenproduktion, die immer darauf ziele, der politischen Klasse die Möglichkeit zu geben, der Gesamtgesellschaft den eigenen Sprachgebrauch zu unterwerfen. "Sprache als wesentliche Munition im politischen Macht- und Überlebenskampf kann natürlich nicht dem Belieben einer Entstehung im Prozess der Krisenbewältigung überlassen bleiben", analysiert Rainald Schawidow die führende Rolle der Bedeutung der BWHF bei der Durchsetzung der coronabedingten Beschlüsse der Bundes- und Landesregierungen.

Brandneue Kriegsbegriffe


Brandneue Krisenbegriffe wie "Alltagsmasken", "Alltagshelden", "Reproduktionszahl" und "Corona-Beschränkungen" dienten dazu, Tabuzonen vor bestimmten Denkrichtungen zu errichten, um unerwünschte Effekte wie offenen Protest oder unterschwellig grassierende Kritik zu vermeiden. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BWHF hätten in den zurückliegenden Wochen Großes geleistet, nie auf die Uhr geschaut und je nach politischen Bedarfen teilweise binnen Stunden passgenau Begriffe geliefert, die die jeweilige Tageswahrheit vermittelbar und popularisierbar gemacht hatten. "Mit einigem Stolz darf ich heute sagen, dass meine Leute auch diese neuerliche Bewährungsprobe bestanden haben", zieht Rainald Schawidow ein Zwischenfazit im Corona-Kampf an der unsichtbaren Sprachfront.

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