Freitag, 14. Januar 2022

Sturm auf den Reichstag: Was aus den Randalierern geworden ist

Sie tanzte eine Medienwoche lang, und das ist lange her.


400 Mann auf der Reichstagstreppe, Frauen darunter, Heranwachsende und Kinder, Partypeople und Influenzer mit gezückter Kamera. Der "Sturm auf den Reichstag", der im Sommer vor zwei Jahren kurzzeitig drohte, die Republik auseinanderzureißen, markierte eine Zeitenwende für Deutschland. Plötzlich war die Gefahr real, dass Staatsfeinde das Heft des Handelns in die Hand nehmen könnten. Plötzlich ergaben die seit Jahren vorangetriebenen Notfallplanungen zum Bau eines Burggrabens rund um das Parlament Sinn.  

Schneller denn je

Schneller denn je schrieben deutsche Journalisten sagenhafte 333.000 Artikel, Analysen und Kommentare zum Sturmlauf der rechtsradikalen Aktivisten, Corona-Leugner und Querdenker, die im Schutz der Grundrechte, bewaffnet mit Fahnen, Flaggen und Smartphones und angeführt von einer  süddeutschen Heilpraktikerin bis auf die Außentreppen des Reichstages vorgedrungen waren. Nur dem Heldenmut einer Handvoll wackerer Polizeibeamten hatte die Republik zu verdanken, dass der Reichstag nicht wie am 30. April 1945 gestürmt und dass die Herzkammer der Demokratie nicht wie das Capitol in Washington am 6. Januar 2021 geschändet wurde. 

Was aber wurde danach aus dem größten Nazi-Angriff seit den Neunziger? Wie strafte der Rechtsstaat seine Feinde ab? Wie vergalt er die Attacke auf das "Herz unserer Demokratie", wie sich der Bundestag selbst nennt? Wie ehrte er die, die in der Stunde der höchsten Not für ihn einstanden? Und wie wurde die versuchte Eroberung des Hohen Hauses analysiert, aufgearbeitet und "Schande" (Seehofer) "ausgemerzt" (Müntefering)?

Treppen zum Tatverdacht

Im ersten Anlauf jedenfalls kannte er keine Gnade.  Damals im Sommer 2020 führte die Berliner Polizei 272 Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit dem Aufruf einer süddeutschen Heilpraktikerin, "die Treppen zum Reichstag hochzusteigen". Beinahe zwei Drittel der etwa 400 Demonstranten, die die Polizei-Absperrung durchbrochen hatten, mussten mit einem Strafverfahren und einer Anklage rechnen, sobald die Ermittler "Tausende Stunden Videomaterial" (RND) fertig ausgewertet haben würden. 

Wenige Wochen nach der Tat schon stieg die Zahl der Identifizierten. Bereits im Januar nach den Ereignissen richteten sich 34 Ermittlungsverfahren gegen 40 namentlich bekannte verdächtige "Rechtsextremisten und Verschwörungs­theoretiker" (RND). Zudem wurden etwaige Netzwerke aufgeklärt, in denen sich Beteiligte zum Landfriedensbruch verabredet hatten. Auch wegen Delikten wie gefährliche Körperverletzung, Sachbeschädigung, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und dem Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen wurde mit Hochdruck ermittelt.

Aus der Eifel zum Rechtsbruch

Was aber machen die "Heil-Praktikerin Tamara K. aus der Eifel, die von der Bühne zum Rechtsbruch aufrief" (Tagesspiegel), die Reichs-, USA- und Regenbogenflaggenschwenker und die Träger von Papptafeln mit der Aufschrift "Wir sind ein Volk" heute? Wie viele der Täter*innen wurden angeklagt, verurteilt und wie sitzen überhaupt im Gefängnis? Immerhin hatten die Behörden anfangs sogar von "fast 500 Straftaten und Ordnungswidrigkeiten" berichtet und 59 Polizisten waren verletzt worden, obgleich eigentlich nur drei die gesamte Verteidigung gegen den "aufwieglerischen Landfriedensbruchs" geschultern hatten. 

Nun, es ist schwierig. Trotz des in der deutschen Geschichte einmaligen Vorfalls, einer Staatsaffäre ohne Beispiel, und trotz der mittlerweile seit 16 Monaten andauernden titanischen Anstrengungen des Rechtsstaates ist von Anklageerhebungen, Prozessen oder gar Urteilen bisher nichts bekannt geworden. Zwar ist in der Tat eine Tamara K. in Aachen angeklagt worden. Doch bei ihr handelt es sich nicht um die Aufwieglerin von Berlin, sondern eine des versuchten Mordes beschuldigte 24-jährige Einzelhandelskauffrau. Die andere Tamara K. ist von der Bild-Fläche (Foto oben) verschwunden. Und auch alle anderen Medienhäuser sind nach einer Spätaufwallung vor einem Jahr nie wieder auf das Thema zurückgekommen.

Stumm verweigerte Schlagzeilen

Still ruht der See, trotzig schweigt der Rechtsstaat, stumm verweigern die Leitmedien Nachfragen dazu, was aus den 272 oder gar fast 500 Ermittlungsverfahren und aus den 40 namentlich bekannten Tatverdächtigen wurde. Nicht nur sind ausweislich aller Schlagzeilen auch nach fast anderthalb Jahren nicht alle Täter verurteilt, nein, auch die Prozesse laufen nicht schleppend. Sondern überhaupt nicht. Nicht ein einziger Staatsfeind vom Reichstagssturm konnte bisher angeklagt werden, niemand kam auch nur mit einer Bewährungsstrafe davon, wie das in Fällen von besonders schweren Landfriedensbruchs zuweilen vorkommt. 

Abgeordnete ohne Aufklärung Und nicht nur das. Auch die betroffenen Bundestagsabgeordneten warten noch immer auf Aufklärung aller Hintergründe. Bis heute haben die Behörden in Berlin, aber auch die Ermittler in den Herkunftsbundesländern der identifizierten mutmaßlichen Rädelsführer und Mittäter in keinem einzigen Fall Erkenntnisse über die Organisationsstruktur des Angriffs vorgelegt. Gab es wie üblich in der Leugner-, Hetzer- und Hasserszene Vernetzungen? Absprachen? Verbindungen ach Thüringen oder Sachsen? Zum NSU oder gar, manche gezeigte Fahne legte es nahe, ins feindliche Ausland? 

Immer noch auf freiem Fuß

Die Ergebnislosigkeit der anfangs noch großangekündigten und vielbeschworenen Ermittlungen ist grotesk. Ungeachtet aller Videostudien, beweiskräftigen Chatgruppeneinträge und Bekennerinterviews ist selbst Tamara K., eine Klimasommerwoche lang Staatsfeindin Nummer 1, offenbar immer noch auf freiem Fuß. Zwar ist die Homepage der Praxis seit längerer Zeit "in Kürze wieder zurück". Davon abgesehen aber straft sie bislang nur der Bewertungsvolkssturm im Netz mit Warnhinweisen wie "Diese Frau ist absolut unfähig, Leute für Dumm verkaufen."

Dafür, dass Großberlin an jenem 29. August vor dem Fall stand und die Wunde in der Hauptstadt für diejenigen, die sich erinnern, immer noch klafft, ist das denkbar wenig. Der wehrhafte Staat, er scheint "in der Stunde der Bewährung vor seinen Feinden zurückzuweichen", wie das ZDF in einem Gedenkartikel zum "gewaltsamen Sturm auf das US-Kapitol" analysierte.

4 Kommentare:

  1. >> die Herzkammer der Demokratie

    wird in jeder Plenarsitzung dutzendfach geschändet. Da bedarf es keiner Treppenläufer.

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  2. Meiner Meinung nach war es von Anfang an eine Inszenierung des Staates worauf die Medien gewartet haben um die friedlichen Demonstrationen zu rufmorden.
    Die Frage stellt sich bei einigen Aufwieglern wie in den USA bei der Capitolstürmung an das FBI .....
    Sind sie V Mann des Verfassungsschutzes .......Darauf kann ich keine Antworten geben 🤔

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  3. Man hätte am ersten Jahrestag Stolpersteine oder Stelen mit den Namen der Opfer hinsetzen können.

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  4. INSIDER sagt:

    Möchte man Äkschen auf solchen Veranstaltungen, dann immer in der Nähe der Qualitätspresse aufhalten!

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