Donnerstag, 13. Januar 2011

Abriss-Exkursionen: Geister der Gegenwart

So also sieht das aus, wenn der letzte Chemiearbeiter verzogen, der letzte Soli-Euro verfrühstückt, das letzte Stück Zukunft aufgegeben ist. Ortschaftsräte lösen sich auf, das Hotel der Stadt steht einsam und leer, auch gegen den zunehmenden Fluglärm protestiert niemand mehr. Reppichau und Hohenmölsen, Hüttenrode und Derstedt, Gemeinden mit uralter Besiedlungsgeschichte, bewohnt nur noch vom Wind und vom Wetter.

Garnet, ein abgelegenes Örtchen in Montana, hat schon hinter sich, was den ostdeutschen Dörfern an der Straße der Gewalt nach Ansicht von Experten noch bevorsteht: Entvölkerung, Ausdünnung, Aufgabe. "Sachsen-Anhaltend" plakatiert die regierende Landes-CDU im Landtagswahlkampf warnend, der Wahlspruch des Landes "Wir stehen früher auf" ist von der Wirklichkeit längst zu "Wir sterben früher aus" korrigiert worden.

Vor 112 Jahren noch war Garnet ein ebenso springlebendiges Gemeinwesen wie es heute Wolfen Nord ist. Tausend Menschen gruben Gold aus den Bergen ringsum, es gab Kneipen, Bars, eine Poststation, Supermärkte und Hotels, Volksfeste wurden gefeiert und Wahlen abgehalten.

Dann aber war es nicht die Ankunft des Klimawandels in den abgelegenen Wäldern bei Missoula, der dem blühenden Ort das Rückgrat brach. Vielmehr sanken die Fördermengen bei gleichen Kosten, der Goldpreis deckte den Aufwand nicht mehr. Von tausend Einwohner blieben 1905 noch 150, 1912 kam zum fehlenden Glück noch Pech dazu und ein Feuer zerstörte weite Teile der Innenstadt, die seitdem einem Nachbau des ostdeutschen Dorfes Riezel ähnelt.

Garnet aber kam noch einmal, so wie Fördermilliarden einen Angstblüte auch im seit 1948 ausblutenden Ostdeutschland auslösten. Nach der Weltwirtschaftskrise 1929 war Gold der letzte sichere Hafen für Geldanleger, ein staatlich garantiertes Investment wie vor zwei, drei Jahren deutsche Solaraktien. Heerscharen von Glücksrittern schlugen sich die schmale Pfade durch den Wald bis in das alte Goldgräberdorf, sie schlossen die Minen wieder auf, sie förderten wieder Gold und das auf einmal wieder mit Gewinn.

"Was der Staat kann, kann nur der Staat", staunte später Franz Müntefering, der heute völlig vergessene ehemalige Retter der SPD. Und Recht hat er. In den USA wurde der private Goldbesitz ab 1. Mai 1933 mit der „Executive Order 6102“ verboten, Präsident Franklin D. Roosevelt wies an, alles Gold in privatem Besitz bei staatlichen Annahmestellen anzugeben. Die ehemaligen Besitzer bekamen 20,67 US-Dollar pro Unze dafür.

Am Tag danach war Garnet leer wie die Straßen von Rübeland im Harz es heute sind. Und diesmal blieb es dabei. Was an Häusern noch steht, sieht aus wie eben verlassen, die Kaffeedosen stehen noch auf dem Tisch, die Schneeschuhe rosten vor sich hin. Die Nationalparkverwaltung nimmt Eintritt für einen Blick in die ostdeutsche Zukunft.


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