Samstag, 6. Juli 2019

Endlich verständlich: Der EU-Postenpoker auf einen Blick

Rollierende Machtwalzen, die schlüssig ineinandergreifen, das ist der Mechanismus, der in der EU zu Personalentscheidungen führt.


Was Sie zum neuen Führungsteam der EU wissen müssen, wer mit wem kann und warum nicht und wie aus einem langen und chaotischen Prozess ein echtes Geschenk für Europa geworden ist. Die PPQ-Faktenchecker liefern im Rahmen der vom Verband deutscher Volkshochschulen präsentierten Serie "Endlich verständlich" einen Einblick in die schwierigen Entscheidungsabläufe innerhalb der Wertegemeinschaft.

Wer soll was werden?

Kommissionspräsidentin: Ursula von der Leyen
Gegenkandidat: Keiner

Die deutsche Verteidigungsministerin ist erste Wahl für den Kommissionsvorsitz, weil die siebenfache Mutter als Vertraute der scheidenden Bundeskanzlerin Merkel gilt, in deren sämtlichen Kabinetten sie saß. das Kalkül der Franzosen ist klar, ist Merkel erst weg, wird Ursula von der Leyen Wachs sein in den Wunschkabinetten des Elysee-Palastes. Für von der Leyen geht mit dem EU-Präsidentenamt ein Lebenstraum in Erfüllung, die Niedersächsin geht dort nicht hin, um zu gestalten, sondern um zu genießen, so glauben viele Südeuropäer, denen die Nachstellungen aus Brüssel inzwischen zu weit gehen. Von der Leyen stammt aus altem deutschen Politadel, ihre Familie dient allen deutschen Herrschern treu, sie gilt als gewandt auf dem internationalen Parkett und wird die EU kaum ähnlich blamieren wie ihr von Rückenschmerzen geplagter Vorgänger. Die Affären aus ihrer Zeit als Verteidigungsministerin lässt von der Leyen in Berlin zurück. In ihrem Geburtsort Brüssel kann sie ganz neu anfangen aufzuhören.

Ratspräsident: Charles Michel
Gegenkandidat: Keiner

Belgiens ehemaliger Premierminister ist Kommandeur des Leopoldsordens und stellte sich bereits 2015 bei der Bilderberger-Konferenz vor, die Ursula von der Leyen erst vor ein paar Wochen besuchte, um ihre Honneurs zu machen. Michel gilt als Zählkandidat und Versorgungsfall, denn die Geschäfte daheim führt er seit seinem Rücktritt vor einem halben Jahr nur noch kommissarisch. Michel ist Liberaler und besetzt damit den Platz, der der Parteiengruppe zusteht, die Frankreichs Präsident Emmanuel Macron durch den Beitritt der auf ihn eingeschworenen Bewegung En Marche beansprucht. Ein Franzose konnte es nicht werden, weil schon der Chefposten der EZB an eine Französin geht. Als Ratspräsident ist Michel künftig der Präsident des Europäischen Rates, eine Art Versammlungsleiter bei den Zusammenkünften des Gremiums der Staats- und Regierungschefs der EU, aber auch als Moderator gefragt, weil die Staatenlenker sich in den vergangenen vier Jahren nie bei keinem Thema einig waren.

EU-Aussenbeauftragter: Josep Borrell
Gegenkandidat: Keiner

Der bisherige spanische Außenminister Josep Borrell soll die Interessen der sogenannten Südstaaten der EU in Büssel vertreten. Dazu übernimmt er den Frühstücksdirektorposten des Hohen Vertreter der Europäischen Union für Aussen- und Sicherheitspolitik von der bisherigen EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini, die geopfert werden muss, weil Borrell Sozialdemokrat ist und damit die Rechte der bei der EU-Wahl europaweit unterlegenen Sozialisten auf einen Posten im Führungskartell zusätzlich zu seinem Herkunftsanspruch als Vertreter der Krisenstaaten verkörpern kann. Borell ist ein alter Europäer, ein Kämpe für den Kontinent, der von 2006 bis 2007 auch schon mal als Präsident des Europäischen Parlaments aushalf. Ihm trauen alle Parteilager außerhalb der EU-Gegner zu, dass er die Vielzahl der Positionen und Stimmen der einzelnen Mitgliedstaaten zu globalen Fragen souverän wegmoderiert. Das Amt selbst ist noch relativ neu, es wurde erst durch den 2009 in Kraft getretenen EU-Vertrag von Lissabon als Symbollösung geschaffen, um der EU die Möglichkeit zu geben, so zu tun, als habe sie eine stringente gemeinsame Außenpolitik. Beobachter halten den Namen «Hoher Vertreter» für das Beste am Amt.

Parlamentspräsident David-Maria Sassoli
Gegenkandidat: u.a. Ska Keller

Der italienische Sozialist David-Maria Sassoli ist bereits als Vorsitzer des Europaparlaments gewählt, aus dieser Entscheidung, die gegen die deutsche Kandidatin Ska Keller (Die Grünen) fiel, ergibt sich auch, dass alle weiteren Personalvorschläge im Block so durchgewinkt werden müssen, um einen Bürgerkrieg in Brüssel zu vermeiden. Der neuer Präsident des Europäischen Parlaments, ein Quasi-Nachfolger des Deutschen Martin Schulz (SPD), hat fünf Jahre Vizepräsidentschaft in den Knochen, er löst seinen Landsmann Antonio Tajani ab, der das Amt seinerzeit völlig unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit von Schulz übernommen hatte. Wie immer gibt es auch im Fall Sassoli eine Nebenabsprache der Parteiblöcke: Der Sozialdemokrat wurde nur für die nächsten zweieinhalb Jahre gewählt, danach bekommt die politische Konkurrenz von der EVP den Posten und der als Spitzenkandidat in die EU-Wahl gegangene CDU-Mann Manfred Weber wird zum Trost für geleistete Arbeit - Weber fuhr im Wahlkampf 45.000 Kilometer und produzierte dabei 8,5 Tonnen CO2 - für die Restlaufzeit Parlamentspräsident.

EZB-Chefin Christine Lagarde
Gegenkandidat: Keiner

Für die daheim bereits verurteilte IWF-Chefin, die sich einst der Griechenland-Rettung ohne Sicherheiten verweigerte, ließ Angela Merkel Bundesbanker Jens Weidmann fallen, der Mario Draghis Politik des Helikoptergeldes korrigieren sollte. Lagarde ist für die Vergemeinschaftung von Schulden in der EU, um das unter seinen Defizit-Lasten taumelnde Frankreich zu stabilisieren, deutsche Sparer sind die auerskorene Melkkuh, deren Milch der frommen Denkungsart ("Nullzins stört mich nicht, ich habe ja sowieso kein Geld") die Gemeinschaft stabilisieren soll.

Wie geht es jetzt weiter?

Die Würfel sind gefallen. Wo jetzt noch Widerstand geleistet wird, muss mit Fördermitteln, neuen Posten und Versprechungen nachgearbeitet werden. Da das neugewählte Europaparlament aber mit einer Ablehnung alle Absprachen torpedieren würden, so dass Europa zwangsläufig in eine Verfassungskrise rutschte, werden die Parlamentarier die von den Staats- und Regierungschefs vorgegebenen Personen wählen. ARD und ZDF wie auch alle anderen Leitmedien stehen bereits Gewehr bei Fuß, das Ergebnis zu beklatschen.

Wer hat gewonnen?

Als traurige Figuren bleiben neben den beiden Spitzenkandidaten Manfred Weber und Frans Timmermans auch die hochgehandelte Verstager, die Außenbeauftragte Federica Mogherini und der deutsche Bundesbanker Jens Weidmann auf dem Schlachtfeld zurück. Deutschland ist es gerademal gelungen, eine Person im neuen Führungsblock unterzubringen, Macron hingegen hat mit Lagarde, Borell und Michel gleich drei Vertreter französischer Interessen platziert. Demontiert wurde auch das Europaparlament, das sich vor der Wahl als wichtige Volksvertretung gefühlt hatte, sich jetzt aber zurückgestutzt sieht auf eine Handhebebude mit der Gestaltungsmacht der DDR-Volkskammer. Nicht verloren haben die Vertreter der osteuropäischen Staaten, denen es allerdings auch nicht gelungen ist, selbst Personal in die EU-Spitzengremien zu entsenden. das wird für den Rest der Gemeinschaft noch teuer.

Unsere Analyse.

Beim Wähler und bei der Wählerin mag die EU nach dieser schiefgelaufenen Personalkür in Brüssel verloren haben, echte EU-Connoisseure aber schätzen gerade die spannenden Pokerpartien in den demokratischen Hinterzimmern der Gemeinschaft, das Schimpfen von den billigen Plätzen, die Arroganz der Macht und die zum Teil wirklich verrückten Ergebnisse des schamlosen Geschachers um nationalen Einfluss. Einmal mehr muss derzeit im Hinterzimmer gekungelt werden, es gilt, aufzurechnen, zu geben und zu nehmen, zu schachern und zu pokern, bis die fragile europäische Demokratie wieder für fünf fantastische Jahre zum Beispiel für die ganze Welt wird. Die Situation aber ist vor dem erneuten Endspiel um die Führersitze im Europa-Zug noch unübersichtlicher als beim letzten Mal. Stand vor fünf Jahren nur die Frage zu lösen, was die SPD dafür bekommt, wenn sie einen EU-Kommissionspräsidenten aus den Reihen  der sogenannten Europäischen Volkspartei akzeptiert, dreht das Postenkarusell diesmal frei.

Alles ist möglich, nichts ist undenkbar, die vor der EU-Wahl wie eine Monstranz vorgezeigte "europäische Demokratie" hat vorerst Pause, das vermeintlich so bedeutsame EU-Parlament darf behutsam schweigen. Denn nun verhandeln doch wieder die Staats- und Regierungschef über eine Verteilung der Brüsseler Spitzenposten, bei der es jedem einzelnen Mitgliedsstaat darum geht, sich möglich viel direkten Einfluss auf die EU-Politik zu sichern.



Die schönen Zeiten, als der damalige SPD-Chef Sigmar Gabriel der europäischen Rechten im Namen der europäischen Linken einfach anbieten konnte, deren Kandidaten zum EU-Chef zu machen, wenn sein Kandidat Martin Schulz zum Dank Präsident des Europaparlaments werden dürfe, sind vorüber. Mittlerweile hat die SPD keinen Mann mehr Rennen, auch keine Frau, und einen Parteivorsitzenden hat sie auch nicht mehr.

Diesmal ist die Gefechtslage ungewisser denn je: Allen Wahlversprechungen zufolge müsste der deutsche christsoziale "Spitzenkandidat" Manfred Weber Nachfolger des scheidenden EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker werden. Doch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron möchte dort keinen Deutschen, so wenig wie Bundeskanzlerin Angela Merkel dort einen Franzosen möchte. Die Nordstaaten sähen auf dem parallel zu besetzenden Posten des EZB-Chefs zudem gern einen strengen Sparfuchs aus ihren Reihen. Während die Schuldenmächte des Südens jemanden wie den derzeitigen Helikoptergeldbomber Mario Draghi bevorzugen würde.

Seit einem Monat gibt es deshalb immer wieder Gipfelerklärungen mit Versprechen, dass es demnächst beim EU-Gipfel „Entscheidungen über Nominierungen“ geben werde. Nur Entscheidungen über Nominierungen oder gar die Besetzung von Führungsstellen gibt es nicht.

Es gibt auch nach vier Wochen und unzähligen Pokerrunden hinter den Kulissen keine Mehrheiten für irgendwen. Manfred Weber wird es nicht, dafür aber kann es der Sozialdemokrat Frans Timmermans auch nicht werden. Die liberale Margrethe Vestager, außerhalb der Konkurrenz gestartet und demokratisch durch die Wähler der EU noch weniger legitimiert als ihre beiden Konkurrenten, findet allerdings auch keine ausreichende Zustimmung im Kreis der 28 Regierungschefs. Und fände sie sie, wäre da immer noch das EU-Parlament, das sich, um den Schein zu wahren, auf den traurigen Wahlsieger Weber festgelegt hat, diesen aber nicht gegen die Regierungschefs durchsetzen kann.
 
Die EU entpuppt sich wieder einmal als Trutzburg von Intransparenz und Illegitimität. So laut der Ruf vor jeder Wahl ertönt,  dass nun Zeit sei, den bürokratischen Machtmechanismus durchzudemokratisieren, so schnell ist das Vorhaben vergessen, geht es nach dem Urnengang daran, die Machtbalance zwischen den EU-Staaten, den Parteien, den Interessengruppen und Kulturen neu auszubalancieren. Der Chefposten bei der EU-Kommission kann nur deutsch werden, wenn Emmanuel Macron Zugriff auf den Präsidentensessel der Europäischen Zentralbank bekommt. Das aber werden die anderen 26 Mitgliedstaaten nur mitmachen, wenn die beiden Führungsnationen ausreichend vielen von ihnen ausreichend lukrative Nebenposten anbieten.

Ein Postenschacher, der alle Beteiligten als Erz-Nationalisten zeigt, die in einem europäischen Mäntelchen herumspazieren, im Moment der Entscheidung aber einzig und allein das Ziel verfolgen, die eigenen Farben auf die besten Plätze zu schieben: Unvorstellbar für Macron, dass ein Deutscher gut für Europa sein könnte, denn gut für Europa kann aus seiner Sicht nur sein, was gut für Frankreich ist. Nicht akzeptierbar für Angela Merkel, daheim erklären zu müssen, dass der "Spitzenkandidat", für den man geworben hat, nur als Verhandlungsmasse taugte, um den im Kanzleramt ungeliebten Jens Weidmann wenigstens als Trostpreis an die Spitze der EZB zu bekommen.

Am Ende wird dennoch eine Lösung gefunden worden sein, in höchster Not und letzter Sekunde, anders als in anderen Fällen. Doch es wird eine Lösung sein, die die EU einmal mehr als Königreich der Hinterzimmer zeigt, in dem Wählerinnen und Wähler allenfalls ein Vorschlagsrecht über den Ausgang von Wahlen haben.


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