Mittwoch, 8. Mai 2024

Wahl-O-Mat: 38 Fragen mit verheerenden Folgen

Beim Wahl-O-Mat können sich Wählerinnen und Wähler bestätigen lassen, das es richtig ist, das Falsche zu wählen.

Er gehört zur deutschen Politik-Folklore, der 2002 von der Bundeszentrale für politische Bildung erfundene "Wahl-O-Mat", eine Art deutsche KI ohne künstliche Intelligenz, die aus Antworten auf nach undurchschaubaren Kriterien zusammengestellten Fragen ein Ergebnis generiert. Das soll dem von der Wirklichkeit umzingelten Wahlbürger die Last der Entscheidung über die richtige Stelle für das Kreuz abnehmen.

Richtig durchgeklickt, weiß man plötzlich, was man glaubt und welche Partei man wählen sollte, damit es Realität wird. Eigene Überlegungen braucht es nicht, auf weitergehende Informationen kann verzichtet werden. Gerade wer seine politische Karriere als Zoon Politikon erst startet, ist für solche Hilfe oft dankbar.

Fragen aus dem Elfenbeinturm

Millionen überlassen die Beratung über ihre Wahlentscheidung inzwischen dem von Experten beschickten Automaten, der "keine Wahlempfehlung, sondern ein Informationsangebot über Wahlen und Politik" (BpB) sein will. 38 Fragen sind es diesmal, beinahe allesamt irgendwo tief aus dem Keller des Brüsseler Elfenbeinturmes gegraben, wo nie das Licht der Alltagswelt hinfällt. 

Von "Die EU solle eigene Steuern erheben dürfen" über "Die EU soll eine eigene Seenotrettung im Mittelmeer aufbauen" bis zu "Die EU soll den Mitgliedstaaten empfehlen, außer „weiblich“ und „männlich“ auch die Eintragung einer anderen Geschlechtsidentität im Pass zu ermöglichen", haben die Knackpunkte mit dem Leben normaler Menschen so viel zu tun wie die Gasheizung im "Berlaymont"-Palast mit erneuerbarer Energie. 

Aber das Gesamtgebilde funktioniert blind. Wer einfach alle Fragen so beantwortet, dass sein künftiges Leben viel teurer wird, seine Freiheiten nach und nach unter einer dicken Schicht von Verboten verschwinden und noch mehr Entscheidungen nicht in den demokratisch gewählten nationalen Volksvertretungen, sondern von den Kommissionsfunktionären in Brüssel und dem nur halbdemokratisch gewählten Parlament in Straßburg gefällt werden, bekommt am Ende der Durststrecke mit traumwandlerischer Sicherheit ein progressives Ergebnis. 

Alles für die EU

Die Grünen, die SPD, die Linke und die Kleinstpartei Volt bieten alles, was das Herz derer begehrt, die nicht genug Regeln, Vorgaben und Gängelung von oben bekommen können. Geht es nach den Parteien, die ganz oben in der Liste auftauchen, wenn ein Wahl-O-Mat-Benutzer nur stumpf genug für mehr Belastung mehr höheren Kosten, mehr Macht für anonyme Verwaltungen, mehr Ausgaben, mehr Schulden und einen - vom deutschen Grundgesetz verbotenen - Rückbau des Nationalstaates auf eine reine Verwaltungsfunktion für die Durchsetzung von EU-Richtlinien klickt, übernimmt die in den Fragen nur "EU" genannte Entität alle Lebensbereiche. 

Wie gefährlich der gutgemeinte Wahl-O-Mat allerdings auch sein kann, zeigt sich, wenn der Finger in die falsche Richtung zuckt. Menschen, die das unbestimmte Gefühl haben, der EU-Kommissionspräsident sollte eigentlich direkt gewählt werden und die Aufnahme neuer EU-Mitglieder könnte von einer Zustimmung der Bevölkerung der bestehenden abhängig sein, rutschen hier schnell auf die falsche Seite. 

Wer der Versuchung nachgibt

Wer dann noch der Versuchung nachgibt, alle Fragen einfach so zu beantworten, dass der EU nicht noch mehr Entscheidungsmacht zuwächst, die Kommissare sich nicht noch teurere Rettungspakete ausdenken und noch mehr Verwaltungen für noch größere Einschränkungen des Alltagslebens der Bürgerinnen und Bürger aufbauen können, ist auf einmal konfrontiert mit seiner dunklen Seite: Zwar versehen mit einem Warnschild - "Sie wird vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall für extremistische Bestrebungen geführt". Aber wen, der so weit gekommen ist, schreckt das wohl noch?

Und die "feste Informationsgröße im Vorfeld von Wahlen" (BpB) ist schuld daran, wenn sich Rechtspopulisten, Rechtsextreme, Rechtsradikale und Rechtsextremisten vom Wahl-O-Mat auch noch bestätigt fühlen. Eine verheerende Folge mangelnden Anscheins innerbetrieblicher Demokratie, wie der kommunistische Dichter Volker Braun in seinem Frühwerk beklagt hat. 

Eine Plattform für das Böse

Der Mechanismus, der vom Bösen abschrecken soll, verführt dazu, das Böse wollen zu können. Die Ursache ist offenkundig: Statt sich wie so viele deutsche Parlamente, Talk Shows und Redaktionen mutig zu entscheiden, den Feinden der demokratischen Ordnung keine Plattform zu bieten, können Wählerinnen und Wähler beim Wahl-O-Mat ihre eigenen und zu einem Gutteil kruden Ansichten mit den Positionen der einzelnen Parteien abgleichen.

Und sich so bestätigen lassen, das es richtig ist, das Falsche zu wählen.

8. Mai: Wie Deutschland schließlich doch noch den Krieg gewann

 Sieger sehen anders aus.

Unmittelbar vor dem Tag der Erinnerung an die letzte blutige Nase, die sich Moskau in Deutschland holte, hat der Bundeskanzler selbst dem Kreml noch einmal deutlich gemacht, dass "Nuklearwaffen in diesem Krieg nicht eingesetzt werden dürfen". Der Vertrag über das Verbot von Kernwaffen (TPNW) verhindert es, wer dagegen verstößt, dem drohen ernste Konsequenzen vom atomaren Gegenschlag bis hin zu harten und wirksamen Sanktionen, die von den überlebenden Nationen verhängt würden.

Auf der richtigen Seite

Kleinlaut lenkte Russland ein. Längst hat der Staat, der vor 79 Jahren meinte, eine "Siegermacht" zu sein, einsehen müssen, dass er auf der falschen Seite der Geschichte steht. Am 8. Mai, im Westen Deutschlands über viele Jahre hinweg als Tag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht betrauert und schließlich zum 40. Jahrestag vom damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker erstmals als "Tag der Befreiung" gelobt, wird das deutlich wie nie zuvor.

Deutschland, der Staat, der den ideologischen Rivalen im Osten hatte auslöschen wollen und nach einem millionenfachen Morden und Sterben selbst ausgelöscht worden war, hat den Krieg schließlich doch noch gewonnen. Russland aber ist wieder dort, wo sich die ewigen Verlierer sammeln: Ein Land ohne Werte, ohne Würde, mit fürchterlichen Idealen. Geführt von einer korrupten Clique aus Männern, die nur daran gelegen ist, zu zerstören, zu vernichten und ihre Macht über ausgebombte, verheerte und verlassene Landschaften auszudehnen.

Der große Glücksfall

Dass es die Armee Wenck damals nicht bis nach Berlin geschafft hat, stellt sich im Nachhinein als Glücksfall heraus. Deutschland hat gebüßt, es hat bereut, es hat die "Gnade der späten Geburt" (Helmut Kohl) lange ausgeschlagen und stattdessen die Last seiner Schuld mit Engelsgeduld getragen. Kein anderes Land war jemals so gut im Besserwerden. Weit und breit ist niemand, der eine vernichtende Niederlage so gut weggesteckt hat, dass er heute aussieht wie eine der Siegermächte. Während eine der Siegermächte dasteht, als hätte sie verloren und müsste sich nun mit Cyberangriffen des Militärgeheimdienstes "auf E-Mail-Konten der SPD-Parteizentrale" (Deutschlandfunk) ihrer letzten Unterstützer in Deutschland entledigen.

Gefeiert werden muss die Befreiung nun nicht mehr, weil der Befreier sich als unwürdig erwiesen hat. Russland wird den dort traditionell auf den 9. Mai datierten "Tag des Sieges" "mit viel Pomp" (NZZ) begehen, als einen "Feiertag, der im Kontext des Ukraine-Krieges zusätzlich martialisch aufgeladen ist" (NZZ). Deutschland hingegen wird den nächsten Schritt auf historischen Hühnerleiter erklimmen: Vom Verlierer zum dankbaren Befreiten weiter zum moralischen Sieger.

Mit Verspätung verloren

Der Zweite Weltkrieg verändert sich im Nachhinein. Die Anstrengungen der Westmächte werden immer wichtiger, dem Russen ist nun genug gedankt worden, er ist auf Bewährung. Die Alliierten haben den Zweiten Weltkrieg in der Normandie gewonnen, verloren hat ihn Russland, wenn auch mit ein paar Jahrzehnten Verspätung. Erstmals ist in diesem Jahr beim Gedenken auch die Sowjet-Fahne verboten, die 1945 auf Wunsch von Stalins Propagandisten auf dem Reichstag gehisst worden war, weil der Diktator in Moskau seinen Kollegen in Berlin letztlich für einen Mann hielt, der von den Entscheidungen eines Parlaments abhängig war. 

Zumindest zum heute auch offiziell als "Tag der Befreiung" von der Last der Geschichte geführten Gedenken darf die Flagge der Sowjetunion - "goldgelber Hammer, Sichel und Stern auf rotem Grund", erklärt die Taz Nachgeborenen ohne Geschichtsunterricht -  "im Umfeld" der Berliner Mahnmale nicht gezeigt werden. Mit dieser Maßnahme hatte die Berliner Polizei schon im vergangenen Jahr gerichtsfest verhindert, dass es am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park zu einem Aufmarsch von Ewiggestrigen in vollem Wichs mit Fahnenschmuck kommt. 

Verhasste Fahne

Die Sowjetflagge, im Osten verhasst, bis sie auf billigen T-Shirts auftauchte, mit denen sich Westdeutsche schockieren ließen, ist keine Palästinenserfahne, bei der Differenzierung angebracht ist. Nicht jeder, der die Fahne eines nicht existierenden Landes zeigt, unterstützt die Angriffe nicht demokratisch legitimierter Regime auf demokratisch verfasste Nachbarstaaten. Das gilt nur, wenn die Fahne rot ist und die Demonstranten vorgeben, den 79. Jahrestag des Siegs über den Faschismus zu feiern.

Dienstag, 7. Mai 2024

Ein Herz für Hetze: Pressefreiheit für den Feindsender

Eben noch "Schützenhelfer für die Hamas", nun Fackel der Pressefreiheit.

Kaum hatte das Parlament der einzigen Demokratie im Nahen Osten seine Entscheidung getroffen, kam guter Rat aus Berlin. Ganz klare Worte fand das Auswärtige Amt für die israelische Entscheidung, den von Katar finanzierten Sender Al Jazeera zu verbieten. "Eine freie und vielfältige Presselandschaft ist wichtiger Grundpfeiler jeder liberalen Demokratie", gab es erst einmal Grundsätzliches kund. Und dann den wichtigen Hinweis: "Gerade in Krisenzeiten gilt es, die Pressefreiheit besonders zu schützen."  

Vorsichtshalber vor dem Einmarsch

Die Entscheidung der israelischen Behörden, "Al Jazeera in Israel zu schließen", sei "das falsche Signal", wussten sie in Berlin, wo dem von Russland finanzierten Sender RT bereits zwei Wochen vor dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine die Lizenz entzogen worden war. Später schaltete sich Ursula von der Leyen samt EU ein und sämtliche russischen Sender per Sanktionsliste ab. 

Anfang März ließ die EU-Kommission den "wichtigen Grundpfeiler" der "liberalen Demokratie" fallen. Die Verbreitung russischer Staatsmedien wie RT und Sputnik sei ab sofort verboten, hieß es aus Brüssel. Wegen des von Russland geführten Informationskrieges dürften RT, aber auch andere russische Sender wie Sputnik ihre Sendungen nicht mehr in der EU verbreiten - nicht über Satellit, aber auch nicht über ihre Internetseiten, per direktem Stream, bei Youtube oder über soziale Netzwerke.

Stilles Außenamt

Das Auswärtige Amt war nicht zu hören. Das hat sich seine Sorgen um die Pressefreiheit für den Versuch Israels aufgehoben, den von Katars Blutprinzen finanzierten Kanal abzuschalten, die ihre schützende Hand über die Führung der Hamas halten. Auf einmal sind die Freunde der Pressefreiheit, die auch die Freiheit der eigenen Feinde einschließt, überall.

Nicht nur das deutsche Außenministerium, sondern auch die Uno ist empört und "moniert Beschneidungen der Pressefreiheit" (Der Spiegel, Mehrzahl). Die Taz darf nicht fehlen und die "Tagesschau" ist ebenso zur Stelle wie das ZDF, das die Entscheidung auf Netanjahus "Vorwürfe" zurückführt, der arabische TV-Sender würde Zuschauer "aufzuhetzen".

Juden, die sich wehren! Gegen Hetze! Gegen Angriffe aus dem Internet, in denen Angaben des "Gesundheitsministeriums" der Hamas als Munition genutzt werden, nach denen vor einem halben Jahr schon alle Bewohner des Gaza-Streifens hätten "verhungert und verdurstet" (DPA) sein müssen. Aufregung herrscht selbst dort, wo Al Jazeera gerade noch mannhaft "Schützenhilfe für die Hamas" (Tagesschau) nachgewiesen worden war.

Verteidigung der EU

Was bei der Verteidigung der EU gegen russische Propagandaangriffe ein nachvollziehbarer Schritt war, weil die Kanäle des Kreml "massive Propaganda und Desinformation" über den "ungeheuerlichen Angriff auf ein freies und unabhängiges Land" verbreitet hätten, wie es Ursula von der Leyen nannte, sorgt nun für besorgte Reaktionen. Eigentlich sei Al Jazeera ja nur "unliebsam", heißt es im "Spiegel", der sich vor zwei Jahren keine Zeile zum Schicksal der Pressefreiheit im eigenen Land abgerungen hatte, als erstmals von Brüssel aus kurzer Prozess mit ausländischen Medien gemacht wurde.

Erfolgreich Flagge gezeigt: Rückkehr aus dem Roten Meer

Auch die Heimfahrt nach Wilhelmshaven verlief überaus erfolgreich.

Es war die ganz große Weltbühne und ein donnernder Auftritt, wie ihn sich die Bundeswehr nicht hätte schöner wünschen können. Zwar war die nach der ägyptischen Cobra benannte EU-Mission "Aspides" schon kurz nach dem ersten Angriff der Islamisten im Jemen auf die internationale Handelsschifffahrt unverrückbarer politischer Wille. Doch wie beim Aufbau der Europäischen Armee kam es zu Verzögerungen, Kritiker und Zweifler meldeten sich zu Wort, so dass es drei Monate brauchte, ehe das EU-Parlament die Hände hob. Und fünf, ehe die stolze deutsche Fregatte "Hessen" Richtung Rotes Meer dampfen konnte.

Zum Glück vorbeigeschossen

Dann aber war sie da, unerschrocken mitten in Reichweite der von deutschen Medien gern romantisierend "Huthi-Rebellen" (FR) genannten islamistischen Terrorgruppe aus schiitischen Fundamentalisten. Und gleich gelang es ihr, in die Gefechte um die friedliche Seefahrt einzugreifen: Die "Hessen" griff anfliegende Drohnen an, traf aber zum Glück nicht, was sie anvisiert hatte, denn wie sich später herausstellen sollte, war es eine Drohne Verbündeter gewesen.  

Doch schon einen Monat später war das Flaggschiff Deutschlands in der Meerenge Bab al-Mandab vor der jemenitischen Küste wieder an der richtigen Stelle und weitaus erfolgreicher. Diesmal gelang einem Bordhubschrauber der "Hessen" ein Blattschuss auf eine "Überwasserdrohne" (Tagesspiegel), einmal wurde "ein anfliegender Flugkörper zerstört".

Beunruhigende Nachrichten über einen angeblich drohenden Munitionsmangel bewahrheiteten sich nicht. Ein in "Dschibuti implementiertes Unterstützungselement der Bundeswehr" (Bundeswehr) organisierte, dass Nachschub durch zivile Firmen mit einer Polizei-Eskorte zum Liegeplatz der "Hessen" gebracht wurde. Hier warteten dann  "schon ein großer Kran, zwei Gabelstapler und das für den Munitionsumschlag eingeteilte Personal der Besatzung, um die Munition an Bord zu bringen". Die Koordination des Umladeprozesses erfolgte offiziellen Angaben zufolge "durch das Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Zusammenarbeit mit dem Marinekommando, dem Logistikkommando und anderen Stellen".

Heimfahrt mit vollen Depots

Anfang April waren die Depots an Bord wieder voll und die Einsatzbereitschaft so weit wieder hergestellt, dass die "Hessen" sich endlich zur Heimfahrt aufmachen konnte. Über 23.000 Kilometer stampfte das 20 Jahre alte Schiff der Sachsen-Klasse zurück nach Wilhelmshaven, wo sie an einem sonnigen Sonntagmorgen Anfang Mai wohlbehalten ankam, ohne ihre Waffen unterwegs noch einmal einsetzen zu müssen. 

Ein rundum gelungener Einsatz, kurz und knapp, aber nach nur drei Monaten Vorbereitungszeit sind mehr als sechs Wochen im Einsatzgebiet eben nicht drin. Trotz Zeitenwende auch bei der Bundesmarine reichen die Kräfte derzeit auch noch nicht für einen regelrechten Wachwechsel im bedrohten Seegebiet: Das Schwesterschiff "Hamburg" wird bei Manövereinsätzen benötigt, die "Sachsen" hat gerade erst wieder ihre Senkrechtstartanlage repariert bekommen. Die "Thüringen", die beinahe schon bestellt gewesen war, wurde nie gebaut, weil kein Bedarf bestand.

Erfolgreicher Abzug

Nach dem Abzug der "Hessen" aus dem Golf von Aden ist die EU-Mission "Aspides" nun mit einem Mangel an Seemacht konfrontiert. Der griechische Kommandeur der Mission, Konteradmiral Vasileios Gryparis, habe nun nur noch drei Fregatten zur Verfügung, berichtet der "Spiegel". Für ein Seegebiet, das mit mehr als 410.000 Quadratkilometern größer ist als die Bundesrepublik, erscheint das recht wenig. Doch ungeachtet der Bitten des Kommandeurs und dessen Hinweis, dass sich durch seine derzeitige Truppe höchstens vier Handelsschiffe pro Tag durch die Meerenge eskortieren ließen, kann ihm auch Deutschland nicht helfen.

Frühestens im August wäre die "Hamburg" reisebereit. So lange müssen sich die von deutschen Medien gern auch bewundernd "Huthi-Milizen" (Augsburger Allgemeine) genannten islamistischen Seepiraten aus Sanaa gedulden. Aber wenn die Verstärkung dann kommt, wenn sie kommt, dann kommt sie aber gleich richtig. Wenn schon, denn schon. Deutschland hat mittlerweile vorgeschlagen, dass die "EU-Kriegsschiffe" (DTS) im Roten Meer in Zukunft "auch zur Eindämmung des Waffenschmuggels für die Huthi-Rebellen im Jemen eingesetzt werden sollen".

Montag, 6. Mai 2024

Social-Media-Trick: Die Saht geht auf


Der eine regiert die Sachsen, vier Millionen jeder Erziehungsbemühung widerstrebende Querköpfe. Der andere hat es in seinem Amt mit einem Landstrich zu tun, den mehr Menschen besiedeln als Erich Honecker am Ende seines einzigartigen Aufstieges vom Dachdeckerlehrling zum Staatschef unter der Fuchtel halten musste. Über fast 18 Millionen Menschen gebietet Hendrik Wüst, ein Christdemokrat, der sich durchaus mehr zutraut und das immer wieder auch wissen lässt.  

Zwei der Besten

Fast so groß wie sein Parteivorsitzender Friedrich Merz ist der 48-Jährige. Und kaum weniger ehrgeizig. Der Westfale hat Ambitionen, er würde gern fortsetzen, was Angela Merkel angefangen hat, weiß aber nicht, ob der rechte Augenblick, die CDU weiter nach links zu rücken, schon gekommen ist. Nicht zuletzt stünde Michael Kretschmer dem entgegen, der arme Ostkollege, dem im Herbst die Blätter aus der Krone zu fallen drohen, geschieht nicht noch irgendeine Art von Wunder, die es ihm erspart, mit den Wagenknechten oder den Grünen koalieren zu müssen.

Unbestreitbar bleibt, dass Wüst und Kretschmer bedeutend sind, nicht nur für die Union. Zwei zwar Männer, aber Politiker, die klare Positionen vertreten, auch wenn sie für den Mann und die Frau auf der Straße schwer zu erkennen sind. Wüst hat Jura studiert und dann eine Zeit lang als Lobbyist gearbeitet, Kretschmer lernte Büroinformationselektroniker und studierte anschließend Wirtschaftsingenieurswesen. 

Von beruflichen Stationen eines herkömmlichen Erwerbslebens wird nicht berichtet, doch ehemaliger stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgruppe Bildung und Forschung der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag weiß der gebürtige Görlitzer natürlich, dass eine breite thematische Aufstellung und ein scharfes Profil Wählerinnen und Wähler eher zusagen als eine zur Schau getragene Selbstähnlichkeit.

Positionen für das eigene Profil

Um Führen zu können, wie es Kretschmer und Wüst tun, braucht es Überblick, Selbstbewusstsein und ein Gefühl dafür, wo es sich gerade anbietet, bei welcher Gelegenheit entschieden welche Position zu beziehen, um das eigene Profil zu polieren. Was es in Zeiten des allgemeinen Bildungsabbaus nicht braucht, sind direkte Kenntnisse der deutschen Schriftsprache, um die selbst als dringlich empfundenen Botschaften an die zweifelnde Bevölkerung zu vermitteln. 

Als Kretschmer und Wüst sich jetzt entschlossen, bei der Anti-Gewalt-gegen-Politiker-Demonstration in Berlin gemeinsam aufzutreten, war deshalb schnell entschieden: Statt irgendeines Spruches wurde der Satz "Wer Hass sät, wird Gewalt ernten", auf das gemeinsame Schild gehoben, eine Warnung, die erst vor zehn Jahren von zwei christdemokratischen Freizeitpolitikerinnen im baden-württembergischen Waghäusel erfunden worden war, denen das Bibel-Original "Wer Wind sät, wird Sturm ernten" (Hosea 8, Vers 7) zu sehr nach Wetterbericht klang. 

Die zwei Säher

Seitdem wird parteiübergreifend gesät und geerntet, von rechts bis links ist der Kalenderspruch weitaus erfolgreicher als alles, was Jesus selbst jemals zum Hass geäußert hat. Nur Wüst und Kretschmer, zwei der besten und hoffnungsfrohesten politischen Talente, die die CDU in ihren Reihen hat, schafften es allerdings, die Menschen mit diesem kleinen, wohlfeilen Satz dort abzuholen, wo sie sind. Bei den beiden Ministerpräsidenten, auf einem Bild für die sozialen Medien uniform gekleidet im Blaumann der politischen Klasse, scholzcool ohne Binder, aber mit weißem Hemd und schwarzem Gürtel, wird nicht gesät, sondern gesäht.

Ein Signal an die bildungsfernen Schichten, das alle Qualitätskontrollen durch die Social-Media-Abteilungen der beiden Landesparteien und Regierungen problemlos überstand. Schreiben nach Gehör, Zeichen setzen nach Gefühl - auf ihr Schildchen hatten Wüst und Kretschmer der Vollständigkeit halber noch das Bekenntnis geschrieben, dass "online & auf den Straßen" gemeint sei, für "#wirsindmehr" und "#reclaimtiktok" war ganz unten noch Platz, rechts außen zudem für den Hinweis "AfD stoppen". 

Beraterdivisionen und ein Tipp aus der BWHF

Niemand, der das beiläufig anschaut, vermag sich überhaupt nur vorzustellen, wie lang und kompliziert die redaktionellen Verhandlungen zwischen den beiden Staatskanzleien gewesen sein mögen, ehe dieser Text amtlich war. Legionen von Sockenpuppen beugten sich über die Formulierungen, Beraterdivisionen rieten zur Knappheit, die Experten der BWHF im politischen Berlin schließlich zur Saht: Wie ein Bohrer schraubt sich die Botschaft der beiden Landesfürsten gerade bei denen ins Bewusstsein, die es besser wissen. Die Aufregung über den Ausweis an vermeintlichem Mangel an Bildung wird so zu einem besonders starken Zeichen, das selbst die jeder CDU-Hörigkeit unverdächtigen Aktivisten von Fridays for Future ebenso leidenschaftlich teilen wie die Zweifler an der demokratischen Ordnung, die sich als Deutschlehrer aufspielen.

So geht social media.


Brutale Politik: Niederschlag als Höhepunkt

Ihn kannte bisher niemand, sie niemand mehr.

Großer Auftritt eines Unsichtbaren: Noch vor zwei Tagen ein Sachse, den niemand kennt, auf einmal Impulsgeber einer Neuauflage der Debatte um bedrohte, eingeschüchterte und angegriffene Politiker. Matthias Ecke hat die typische Laufbahn eines SPD-Funktionärs absolviert, er studierte Politikwissenschaft, schrieb Abschlussarbeiten über die Beschäftigungspolitik der Europäischen Union den magischen "EU-Wiederaufbaufonds", arbeitete dann im sächsischen Wirtschaftsministerium und nebenher als stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD-Jugend.  

Der unauffällige Nachrücker

Für das EU-Parlament kandidierte Ecke auch, doch ohne Erfolg. Erst als die altgediente EU-Abgeordnete Constanze Krehl mitten in der Legislaturperiode beschloss, ihren Wählerauftrag zurückzugeben, glückte dem Mann aus Meerane als Nachrücker der Sprung nach Brüssel. In anderthalb Jahren gelang es ihm dort, seine Vorgängerin absolut gleichwertig zu ersetzen: Wie die Frau aus Leipzig hinterließ auch der Wahl-Dresdner keinerlei Spuren in der öffentlichen Aufmerksamkeit. Ganze achtmal wurde der einzige sozialdemokratische Vertreter Sachsens in der Sächsischen Zeitung seiner Heimatregion erwähnt. Fünfmal gelang ihm das bei der ebenso teilweise zum SPD-Medienimperium zählenden LVZ im fernen Leipzig.

Die politische Bilanz eines Unsichtbaren aber reichte, um den 41-Jährigen zum Spitzenkandidaten seiner Partei für die anstehende EU-Wahl zu machen. Die SPD, die in Sachsen ein Nischendasein fristet, setzt auf einen. Und der ist nun auf einmal deutschlandweit in den Schlagzeilen. Seit Ecke beim Plakatieren überfallen und brutal zusammengeschlagen wurde, ist er das Aushängeschild einer Aufregungswelle, die die grüne Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckhardt mit ihrer Schilderung eines Blockadeversuchs durch Wählerinnen und Wähler im brandenburgischen Lunow-Stolzenhagen ausgelöst hatte.

Mit dem Schrecken davongekommen

War Göring-Eckhardt noch mit dem Schrecken davongekommen, belegt Eckes Schicksal nun, wie recht die SPD-Vorsitzende Saskia Esken mit ihrer Warnung vor der AfD als neuer Nazipartei hatte. Cornelia Lüddemann, grüne Fraktionsvorsitzende im Magdeburger Landtag, fühlte sich unmittelbar "an die Sturmeinheiten der Nazis" erinnert, die sozialdemokratische Bundesinnenministerin plante sofort ein Sondertreffen mit den Innenministern der Länder, um "über Schutzmaßnahmen" (Tagesschau) zu beraten. Eine Zusammenkunft, für das es vor einem Monat noch keinen Anlass gegeben hatte, als die Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) einen Anstieg der "Gewaltkriminalität" (MDR) im Land um 8,6 Prozent in einem Jahr ausgewiesen hatte.

Nun ist aber gut. Nicht die Masse der Taten, sondern dieser eine ist "ein Angriff auf uns alle" (Morgenpost), nicht der verrohte Alltag zwischen den Wahlkämpfen sind Attacken auf die Demokratie. Was sich nach der Vorlage der PKS wie üblich binnen weniger Stunden versendet hatte, ist diesmal gekommen, um zu bleiben. Die eingeschlafenen Demonstrationen gegen rechts melden sich zaghaft zurück, niemand ist "überrascht" (FAZ), jeder entsetzt und mit "Weimar" (FAZ) könnte ein Schlagwort gefunden sein, mit dem sich ein emotionaler Wahlkampf führen lässt, der ohne sonstige Inhalte auskommt.

Neue Dimension

Für Matthias Ecke ist es ein plötzlicher und unerwarteter Popularitätsschub. Für andere schon wieder eine "neue Dimension antidemokratischer Gewalt", wie Nancy Faeser den Angriff eines 17-Jährigen auf den sächsischen Spitzenkandidaten nennt. Diese eine Körperverletzung unter den vielen markiert die nächste Zeitenwende, die nach dem Brandanschlag auf einen Rüstungsmanager noch ausgeblieben war. Saskia Eskens Assoziationen sind auf einmal überall: Ehe noch irgendetwas zum Tatgeschehen bekannt ist, interviewt das ZDF eine "Augenzeugin" , die von "SA-Schlägertrupps" berichtet. Die FAZ sieht "Schlägertrupps in SA-Manier" (FAZ), die Schwäbische Allgemeine sieht die "Schlägertrupps" als Früchte einer "Saat der Gewalt", die "uns alle trifft". Nun heißt es "Nazis zur Strecke bringen".

Die Schicksalswahl steht vor der Tür.

Sonntag, 5. Mai 2024

Abschied von Bürgerrechten: Mehr Misstrauen wagen

Der Klassiker, auf den sich die kommende Große Koalition nach dem EuGH-Urteil schnell einigen wird: Vorratsdatenspeicherung ist unerlässlich.

Die Bundesinnenministerin vermied jedes Triumphgeheul. Geradezu sachlich reagierte die sonst so leidenschaftliche agierende Sozialdemokratin auf die guten Nachrichten vom Europäischen Gerichtshof, der nach Jahrzehnten, in denen er sich verstockt vor die Bürgerrechte gestellt hatte, endlich Einsicht zeigte. Ja, die Vorratsdatenspeicherung, sie darf und sie wird kommen. Ja, bei sorgfältiger Beachtung gewisser nachgelagerter Vorschriften ist es mit den unveräußerliche Grundrechten vereinbar, jedermann jederzeit an jedem Ort und bei jeder Art der Kommunikation mit irgendwem zu beobachten, die Daten aufzuzeichnen und zu speichern.

Der Weg zur Überwachung

Der Weg sein nun frei, kommentierte die Innenministerin, die den titanischen Kampf ihrer Vorgänger um mehr und gründlichere Überwachung der Bürgerinnen und Bürger vom ersten Tag im Amt an mit allem Nachdruck fortgesetzt hatte.  Mochten die höchsten Richter Europas die anlasslose Vorratsdatenspeicherung auch in Deutschland immer für rechtswidrig erklärt haben. Die gelernte Rechtsanwältin aus Bad Soden wusste es besser: Jemanden ohne jeden Anlass zu überwachen, sein Kommunikationsverhalten auf Vorrat abzuspeichern und die Daten gegen ihn zu verwenden, wenn sich die Notwendigkeit ergibt, das ist auch grundrechtlich machbar, wenn die Begründung nur gewitzt genug formuliert wird.

Und recht hat sie behalten, die 53-Jährige, die sich weder von Gerichtsurteilen noch von den widerstrebenden Kollegen in den anderen EU-Werteländern je irritieren ließ. Konservative Blätter schimpfen sie "verwirrt", progressive Verteidiger der Verfassung "feige". Mit ihrer wesenseigenen Mischung aus Geduld und Ignoranz, Hartnäckigkeit und Unerschrockenheit auch vor mehreren Blamagen hintereinander gelang es Nancy Faeser schließlich, dem Ziel der Träume aller Bundesinnenminister seit Gerhart Baum einen entscheidenden Schritt näherzukommen.

Die Speicherung kommt

19 Jahre nachdem das Landgericht Darmstadt mit seinem historischen Urteil vom 7. Dezember 2005 dem halbstaatlichen Anschlussanbieter T-Online eine "über die Dauer der Verbindung hinausgehende Speicherung der Verkehrsdaten" verboten hatte, kehrt sie endlich zurück: War ein Internet-Anbieter seitdem nicht mehr berechtigt, Angaben zu speichern, die eine Verbindung zwischen der zugeteilten IP-Adresse und dem Nutzer herstellen, wird ihm das nun als Pflicht auferlegt. Jeder steht unter Verdacht. Jedem muss im Bedarfsfall etwas nachgewiesen werden können.

Bald schon, denn auch wenn Faeser ihren Sieg nicht laut feierte, interpretierte sie das Urteil des EuGH doch sofort bis an den Rand des Möglichen. Der Gerichtshof habe "deutlich entschieden, dass eine Pflicht zur Speicherung von IP-Adressen zur Verbrechensbekämpfung nicht nur ausdrücklich zulässig ist, sondern auch zwingend erforderlich ist". 

Schön sei auch, dass dem jetzt aufzubauenden Überwachungssystem erlaubt sein werde, nicht nur beim Verdacht schwerer Straftaten in Aktion zu treten, sondern vorhandene oder anfallende IP-Adressen beim Internetanbieter abrufen zu können, wenn es einen Verdacht auf irgendetwas gebe. Noch muss diese Verwendung von Daten von einem Richter angeordnet werden. Aber da ist noch Luft. Das muss sicherlich nicht so bleiben.

Jeder ein Täter

Denn mit dem Europäischen Gerichtshof ist der hartnäckigste Gegner der Überwacher umgekippt. Zwar hatte auch das Bundesverfassungsgericht die Vorratsdatenspeicherung als verfassungswidrige verworfen, doch erst die Richter in Luxemburg schafften es, die große Koalition der Demokraten von SPD über die Grünen bis zur CDU/CSU zu stoppen. Ausschlaggebend war das Argument des Generalverdachtes: Ohne konkreten Tatverdacht darf der Staat nicht auf den besonders geschützten Kern der privaten Lebensführung schauen, zu dem nach seiner eigenen Definition eben auch die IP-Adresse gehört. Dass er dennoch unaufhörlich versucht, sich dieses Recht zu verschaffen, zeigt weniger, wie gefährlich die Bürgerinnen und Bürger sind, als wie misstrauisch gewählte Volksvertreter sie belauern und beargwöhnen. Jeder ein Täter. Jeder gründlich zu bewachen.

Zwar hat der EuGH mit seinem Urteil nur eine Regelung aus Frankreich durchgewunken, doch im Bundesinnenministerium, in der SPD-Zentrale und bei der Union scharren schon die Füße. Wenn der Zugriff auf personenbezogene Daten in Frankreich schon bei unwesentlichen Verstößen wie Urheberrechtsverletzungen erlaubt ist, weil "ein solches System nicht zwangsläufig einen schweren Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Personen darstellt" (EuGH), dann wird man sich in Deutschland spätestens nach der Bildung einer Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD im Herbst kommenden Jahres schnell darauf einigen können, wieder alle Daten von allen Internetnutzern vorsorglich zu speichern, um später Täter im Fall aller Arten von Straftaten erwischen zu können. 

Das Medienecho in Deutschland spricht dafür, dass gar nichts dagegenspricht.

Wenn die Wirklichkeit siegt: Hamburger Messerwunder

Das Fake-News-Portal Correctiv würde es zweifellos schaffen, aus diese Kurve wegzuerklären. Derzeit verzichten die Spezialisten darauf allerdings ebenso wie die ARD-Faktenerfinder.


Niemand wusste es genau. Niemand wollte es allzu genau wissen. Was man nicht weiß, macht niemanden heiß. Es war sicher nur ein Eindruck, befeuert von Fake News vom rechten Rand. möglich, dass auch die Sensationsgier der Medien eine Rolle spielte. Und eine unversehens  entstandene neue Aufmerksamkeit für etwas, was immer schon war, nur unbeachtet geblieben.  

Ja, als alles losging mit den Medien und den Messern, überschlugen sich die Meldungen. "Kaum ein Tag in Deutschland vergeht ohne einen Messerangriff oder eine Messerstecherei", bemerkte die amtliche Nachrichtenagentur DPA und fragte verwegen: "War das schon immer so?" Oder liegt es nur an einer "Orientierung an Männlichkeitsnormen"? Oder nimmt die Zahl der Attacken zu? Allenfalls "scheinbar" war der WDR sicher. Die "Tagesschau" verwies stolz auf eine unzureichende Datenbasis. Niemand könne etwas behaupten, weil die Statistiken "defizitär" seien, versicherte der unbestechliche "Faktenfinder" Patrick Gensing zufrieden. 

Beteuerungen vom Fake-News-Portal

Das bekannte Fake-News-Portal Correctiv wusste es sogar noch genauer. "Von einem ,dramatischen` Anstieg oder einer „Messer-Epidemie“ in Deutschland kann nicht die Rede sein", hieß es in der Wahrheitszentrale der Republik. Nur ein "Anstieg in vielen Bundesländern" sei "zu vermerken". Gehen Sie bitte weiter. Mehr ist es nicht. Correctiv war schließlich zum Schluss gekommen: "Von einem dramatischen Anstieg von Messer-Attacken kann allgemein nicht die Rede sein."

Nun ist es so, dass die Gesellschaft sich stets passende Bezeichnungen sucht, wenn Sachverhalte auftauchen, für die es mangels Beschreibungsbedarf bis dahin noch keine gab. Das Wort "Messerattacke", im Duden nicht verzeichnet, begann seinen Siegeszug durch die Medienmoderne ganz zufällig in den Jahren, in denen Gensing, Correctiv-Chef David Schraven und der Rest der Leitmedienlandschaft alles daran setzten, das "Phänomen" (DPA) als Fehlwahrnehmung, rechtspopulistische Propaganda und Versuch der Delegitimierung der regierungsamtlichen Willkommenskultur zu beschreiben. 

Vor einem "gefährlichen Alarmismus", warnte die Taz. Mit der "Tagesschau" mahnte auch ein anderes regierungsnahes Zentralorgan zu einem "differenzierten Bild". Alle waren sich einig. Mag da auch etwas sein. Details könnten Teile der Bevölkerung beunruhigen.

Verteidigung der Macht

Wo es um die Verteidigung der Macht gegen die geht, die ihr Macht- und Tatenlosigkeit vorwerfen, darf die Hamburger "Zeit" nie fehlen. Früh schon verwies das Blatt engagiert auf "uneindeutige Daten, fragwürdige Behauptungen und das Fehlen wissenschaftlich haltbarer Belege".  Eine Kette von sogenannten "Einzelfällen" beweise gar nichts. Es sei nur ein Praktikant gewesen, der anderslautende Zahlen zusammengestellt habe. Damit sei die "Angst vor zunehmender Messergewalt", so die "Zeit",  "unbegründet". Das neumodische Determinativkompositum aus "Messer" und "Attacke", das plötzlich überall auftauchte, tat das letzten Endes aus purem Übermut und ohne jeden Sachgrund. 

Die Front hielt, die Verteidigung stand unerschütterlich von den sich häufenden Meldungen der Polizei. Sämtliche "Messerattacken" zusammen, alternativ auch als "Messergewalt" oder "Messerkriminalität" kategorisiert, machten weniger Schlagzeilen als Jahre zuvor das Kuchenmesserattentat auf den Passauer Polizeichef Alois Mannichl. Bis dann tatsächlich etwas zerbrach, irgendwo im Inneren der "Zeit". Was im Dezember 2022 "aus den Zahlen des BKA" noch nicht "abzulesen" war, entwickelte sich in den zurückliegenden zwölf Monaten zu einem Lieblingsthema der erfolgreichsten Wochenzeitschrift der Republik. 

Ein eigenes Spezialgebiet

Regelmäßig beschwören Schlagzeilen nun die entsetzlichen Statistiken, die vielen, vielen Opfer und die Verhältnisse, unter denen sich "ein ganz normaler Abend" in NRW mit einem Schlag in ein blutiges Desaster mit acht Verletzten und einem Toten verwandelt. "Messerkriminalität in Deutschland" ist für die verspätete Vierte Gewalt mittlerweile ein eigenes Spezialgebiet, das freilich von den DPA-Kollegen bespielt wird, deren Blick auf das Thema dem gesellschaftlichen Wandel auf gleiche Weise gefolgt ist. Wer heute noch mitreden will, der unterhält wie die "Tagesschau" und das ZDF einen eigenen Webbereich für "Messerattacke"

Wer dagegen wirklich treu zur Sache steht, der meidet jede Beschäftigung mit der Frage, wie sich eine Relativierung heute bewerkstelligen ließe. Und wer zeigen will, dass ihm die Realität gleichgültig war und gleichgültig bleibt, der bettelt nicht um Glaubwürdigkeit, sondern streitet sie einfach ab.

Samstag, 4. Mai 2024

Zitate zur Zeit: Die Mitmach-Verteidigung

Die Oderbrücken bereiten Sorge: Wenn der Russe sie zerstört, haben wir ein Problem.

Verteidigung ist nicht nur eine gesamtstaatliche Aufgabe, sondern auch eine gesamtgesellschaftliche. Es kommt am Ende auch auf jeden einzelnen Bürger, jede einzelne Bürgerin an. 

Generalleutnant André Bodemann macht es große Freude, schneller fertig zu werden, als Putin denkt. Nur die Oderbrücken machen ihm noch Sorge.

EU-Schuldenregeln: Geldtopf ohne Deckel

Mit neuen Flexibelregeln gestattet sich die EU ab sofort einen noch tieferen Griff in den Schuldentopf.

Zum Schluss ging es rasend schnell. Kaum hatte das EU-Parlament den EU-Staaten einen Freibrief für die nächste Etappe der Staatsverschuldung gegeben, waren die frischen Flexibelregeln auch schon in trockenen Tüchern. Stolz vermeldeten die Agenturen die erfolgreiche Reform des sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakt, ehemals als Fundament der Geldunion gedacht, später aber durch dauerhafte Missachtung zur Lachnummer gemacht.

Die Sprachregelungen waren vom Europäischen Amts für einheitliche Ansagen (AEA) gleich mitgeliefert worden: Es handele sich um eine "Reform zur Begrenzung der Staatsschulden", eine Waffe gegen die "Austeritätspolitik", die Reform schreibe wie immer "Obergrenzen" für Schulden vor, bei Überschreitungen kämen weiterhin "Strafverfahren" infrage.  

Übersetzung aus dem Propagandistischen

Die Gebärdendolmetscherin Frauke Hahnwech, eine intime Kennerin von Berliner Bühne und Brüsseler Blase, übersetzt seit Jahren wegweisende EU-Papiere etwa zur "Just-Transition-Strategy" aus dem Politischen ins Deutsche. Die gebürtige Sächsin hat in Lyon und Klagenfurt Körpersprache studiert, sie versteht sich jedoch auch auf Simultanübersetzungen aus dem Propagandistischen. Für PPQ hat sich Hahnwech die Formulierungen aus dem AEA und der deutschen Bundesworthülsenfabrik angeschaut, mit denen der kurz vor den anstehenden EU-Wahlen exekutierte Beschluss, neue finanzielle Lasten ohne störende Diskussion auf den Schultern kommender Generationen abzuladen, verkauft werden soll.

PPQ: Frau Hahnwech, in den offiziellen Meldungen heißt es, die EU-Staaten erhielten nun etwas mehr Spielraum beim Schuldenmachen und Zurückzahlen. Wie ist das zu verstehen?

Hahnwech: Man muss das ganzheitlich sehen. "Etwas mehr" bedeutet im Politischen natürlich immer, dass es nie weniger als alles ist. Im Verfahrensverlauf dieser neuen Vorschriften für Staatsschulden und Haushaltsdefizite der Mitgliedsländer konnte man ja schön sehen, dass das alle ganz geräuschlos abräumen wollten. Mit Blick auf die Wahlen selbstverständlich, denn im Wahlkampf will sich niemand auf irgendwelche Sachdiskussionen einlassen, gar verschiedene Vorstellungen zur künftigen Entwicklung debattieren oder die Wählerinnen und Wähler entscheiden lassen. Das kann, da ist man sich in Brüssel wie in  Berlin sicher, immer nur nach hinten losgehen.

PPQ: Deshalb also haben EU-Parlament und EU-Ministerrat die sogenannten Reformpläne für den sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakt so schnell durchgewunken? Man hatte als Außenstehender doch eher den Eindruck, das sei nun mal eine gute Sache, alle einig und unterwegs in die richtige Richtung?

Hahnwech: Schauen wir uns doch einfach mal die derzeit laufenden Marketingmaßnahmen für diese  lange geplante und eigentlich ebenso lange vollkommen umstrittene Reform an. Da standen sich ja zwei Fronten gegenüber: Die einen wollten den ganzen Maastrich-Mist, wie sie es nennen, in die Tonne stopfen. Die anderen wollten wenigstens ein paar Regeln behalten, damit nicht alles ganz schnell außer Kontrolle gerät. Jetzt haben die ersten gewonnen, die zweiten aber haben erreicht, dass das löchrige Regelwerk jetzt verkauft wird als Paket, das die Budgetdisziplin der Länder sichern und damit solide öffentliche Finanzen garantieren soll. Nicht meine Worte, sondern ein Satz der EU. Übersetzt man das aus dem Propagandistischen ins Deutsche, steht da nichts anderes als dass Wörtchen soll.

PPQ: Was meinen Sie damit?

Hahnwech: Soll bedeutet nach den Grundregeln der Solltologie im Politikbetrieb immer, dass niemand es garantiert und niemand dafür geradestehen wird, weil, jeder weiß, dass es zwischen sollen und werden keinen inhärenten Zusammenhang gibt. Deshalb heißt es bei der protokollführenden deutschen Nachrichtenagentur DPA auch ausdrücklich, diese neuen Regeln gülten ,als wichtige Voraussetzung für die Stabilität in der EU und im Euro-Raum'. Meint: Sie sind es nicht. Schauen wir doch nur auf den Satz "Beim Übertreten bestimmter Obergrenzen können Defizitverfahren eingeleitet werden". Da haben wir eine Bestimmung mit ,können', früher sagte man Kann-Regel: Knallhart geht daraus hervor, dass ein Land Gegenmaßnahmen einleiten muss, um Verschuldung und Haushaltsminus zu senken, wenn es vorher allzusehr über die Stränge geschlagen ist. Und um das durchzusetzen hat sich die EU von den bisherigen Vorschriften getrennt, die dasselbe vorsahen, aber, so die offizielle Sprachregelung, "als zu kompliziert und zu streng angesehen" wurden.

PPQ: Das waren sie doch aber auch. 2002 bekam Deutschland noch einen vielbeachteten Blauen Brief aus Brüssel, aber danach stellte sich doch schnell heraus, dass die EU gar nicht das Personal hat, zu den ohnehin laufenden Hunderten von Strafverfahren gegen Mitgliedsländern auch noch gegen die Mehrheit der Staaten vorzugehen, die die Schuldenregeln dauerhaft verletzen.

Hahnwech: Deshalb hatte man ja die Pandemie als erste Gelegenheit genutzt, um diese Strafverfahren ungeachtet der Maastricht-Vorschriften auszusetzen. Zwar hat immer eine Mehrheit der EU-Staaten die Schuldenregeln missachtet, aber ab 2020 lagen die Staatsdefizite ja dann in fast allen EU-Ländern deutlich über der vorgeschriebenen Drei-Prozent-Marke. Damals fing man auch an, darüber nachzudenken, wie man so tun könne, als sei das eine Ausnahme, die nur ausnahmsweise akzeptiert werden, sich dabei aber die Möglichkeit verschafft, sie dauerhaft anzuerkennen, indem man die Regeln so ändert, dass sie sich an die Schulden anpassen und nicht umgekehrt.

PPQ: Und das ist nun gelungen?

Hahnwech: Das kann man sagen. Offiziell soll auch künftig in der EU gelten, dass das gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit unter drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen muss und der Schuldenstand eines Mitgliedstaates nicht 60 Prozent der Wirtschaftsleistung überschreiten darf. Wer das nicht schafft, kann aber anstelle von Sparprogrammen oder ähnlich ärgerlicher Dinge ab sofort Argumente anführen, warum die Regeln für ihn gerade nicht gelten können. Statt ihr Defizit mühsam abzubauen, reicht es, den Willen zu bekunden, in nächster Bälde damit anzufangen. Wobei jeder Regierungswechsel es erlaubt, diesen sogenannten Gnadenprozess neu zu beginnen.

PPQ: Im Fußball heißt das Zeitspiel. Aber irgendwann ist ja aller Erfahrung nach doch Schluss, oder?

Hahnwech: Für diesen Fall ist vorgesorgt. Muss die EU dann irgendwann doch zeigen, dass damit eines Tages Schluss sein muss, können die Mitgliedsstaaten weitere Zeit gewinnen, indem sie sogenannte "glaubhafte Reform- und Investitionspläne" vorlegen. Die schaut sich die EU-Kommission dann lange an, um es den Delinquenten leichter zu machen, kann sie bei Regierungen, denen sie gewogen ist, sogar die mutmaßliche künftige Zinsentwicklung gegenrechnen, so oder so. Und hilft das alles nicht, besteht die Möglichkeit, den Antrag zu stellen, den Zeitraum zur Schuldenverringerung zu verlängern. Das ist ausdrücklich ,mehrfach' möglich, wobei ,mehrfach' natürlich nach oben offen ist.

PPQ: Klingt nach Treibsand und nach Anarchie. Es ist doch kaum vorstellbar, dass solche windigen Regelungen als Ersatz für die zumindest auf dem Papier recht eindeutigen Maastrich-Kriterien durchgehen? 

Hahnwech: Ach, doch, daran bestand nie ein Zweifel. Selbstverständlich gibt es durchaus Kritiker der neuen Regeln betonen, aber die sind in sich gespalten. Die einen bemängeln, dass hier gerade die Bodenplatte für die nächste Staatsfinanzkrise gegossen wird. Den anderen aber geht die Aufweichung der Regeln auf einen symbolischen Rest nicht weit genug, sie würden gern gar keine Grenzen mehr haben, um sich mit Hilfe von Klimaschutz- und Transformationsinvestitionen noch schnell eine goldene Nase zu verdienen. Beide haben keine Chance, denn die Öffentlichkeit hat es am liebsten, wenn ihr konsequent etwas vorgemacht wird. Dass der Deckel jetzt vom Geldtopf ist, wird deshalb als  Wahrung der finanzpolitischen Stabilität bezeichnet, die selbst Fachleute verwirrende Vielfalt der Vorgaben, Ausnahmen und Antragsverfahren heißt ,klare Regeln für den Schuldenabbau', die im Ernstfall ,mit einer realistischen Perspektive durchgesetzt werden können'. Nicht meine Worte, sondern die des deutschen Finanzministers Christian Lindner. 

Freitag, 3. Mai 2024

Der feuchte Traum der Überwacher: Hurra, die Vorratsdatenspeicherung ist da!

Damals berichtete der "Spiegel" noch kritisch. Heute gar nicht mehr. Der feuchte Traum der Überwacher: Hurra, die Vorratsdatenspeicherung ist da!

Endlich einmal Grund zur Freude im politischen Berlin! Immer ging zuletzt alles schief, stets scheiterten die größten Pläne. Kaum wusste irgendwer in der Regierung mal, was eigentlich müsste, ließ irgendein Kabinettskollege sofort wissen, dass so auf keinen Fall gehen werde. Nun aber feiern sie alle, die SPD etwas lauter, die ehemaligen Bürgerrechtsparteien FDP und Grüne mit zusammengekniffenen Lippen. Hurra, Hurra, die Vorratsdatenspeicherung ist da!

Hurra, die Vorratsdatenspeicherung ist da!

Wenn der Wolfgang Schäuble das noch hätte erleben dürfen. Oder Sigmar Gabriel! Oder der Heiko Maas! Die Vorratsdatenspeicherung, sie war der feuchte Traum so vieler, vieler Innenminister, die sich von ihr erwarteten, was DDR-Stasiminister Erich Mielke in seiner Ermahnung an seine Männer zusammengefasst hatte: "Genossen, wir müssen alles wissen!" Wer wen, wann und wo, mit wem und am besten auch warum. Vor zehn Jahren hatte Thomas de Maiziere die Wiedereinführung der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung in einem "Digitale Agenda" genannten Luftpaket versteckt, aber wieder war es schiefgegangen. Die Rechtslage. Die Grundrechte. Europa.

Nun endlich jedoch ist es von ganz oben bestätigt. Alles nicht so wild. Wer nichts zu verbergen hat. Das fällt ja alles auch unter den Datenschutz. Der Europäische Gerichtshof selbst, der dem guten Zweck der vollständigen staatlichen Überwachung immer im Wege gestanden hatte, straft sich selbst Lügen: Nun dürfen die Mitgliedstaaten der Werteunion, was sie schon immer wollten. Alles wissen. Alle speichern, auch ohne Verdacht und für alle Zeiten. Wissen ist Macht, mehr Wissen mehr Macht. Was man hat, das hat man. Wer weiß, wann man es einmal brauchen kann.

Im fünften Anlauf

Selbstverständlich wird die SPD, deren Interpretation der Grundrechte immer eine ganz eigene gewesen ist, nun alles dafür tun, dass die neue, nunmehr fünfte Vorratsdatenspeicherung im Einklang mit allen Vorstellungen des SPD-Vorstandes vom Schutz des Kerns der privaten Lebensführung steht. So sicher wie die deutsche Sozialdemokratie sich immer stark gemacht hat für ein betreutes Leben in fester Freundschaft mit dem russischen Volk, so entscheiden wird sie gewährleisten, dass IP-Adressen und übrige personenbezogene Daten getrennt werden, so dass "die Verwendung der Daten keine konkreten Rückschlüsse auf das Privatleben der Nutzer" zulässt.

Die Geheimdienste, womöglich sogar die deutschen, werden alle Informationen verfügbar haben. Dank der SPD aber ähnlich wie Facebook arbeiten: Reine Statistik, keine Gefahr, dass aus den gespeicherten Informationen keine Rückschlüsse auf das Privatleben der Menschen gezogen können. Beim besonderen Schutz der Daten von Minderjährigen, der dem Staat über viele Jahre hinweg aufgegeben war, hat das schon geklappt: Erst wurden die Daten gespeichert, obwohl es verboten war. Dann wurde es erlaubt.

Ein langer Atem

Es braucht einen langen Atem, die von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes errichteten Brandmauern zwischen staatlichen Allmachtsphantasien und Bürgerrechten zu schleifen. Der Staat ist hartnäckiger als alle seine Gegenspieler, er hat alle Zeit der Welt und die Geduld eines Giganten, der sich langsam bewegt, sein Ziel aber nie aus dem Blick verliert. 

"Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt", hat der frühere EU-Chef Jean-Claude Juncker vor 25 Jahren ganz offenherzig geschildert, warum behäbige, aber brutal effiziente Bürokratie immer über Bürgerrechte siegt. Sie kann nicht nur warten. Warten ist ihr Lebensinhalt.

Und Widerstand hat sie nicht zu befürchten. Medien interessieren sich kaum für den Dammbruch, ein glücklicher Zufall wollte es zudem, dass eine mögliche Aufregung über den anstehenden erneuten Einbruch in die Privatsphäre von Millionen Bürgerinnen und Bürgern abgefedert wird durch ein besonders perfides Manöver Russlands: Danach wurde justament im Augenblick der Verwandlung der EU in eine Staatengemeinschaft mit ausufernder Überwachung bekannt, dass der Kreml die mit ihm so eng verbündete SPD mit einer Cyberattacke angegriffen hat. Wohl um seinen eingeschworenen Verbündeten in der ehemaligen Arbeiterpartei zu signalisieren, dass es Zeit ist, ihre Position bei Taurus und Kollegen zu überdenken.

EU-Flüchtlingsbremse: Was kostet der Libanon-Deal?

Die Willkommenseuphorie in der EU ist nun  auch offiziell abgeebbt.

Keinen Deut besser ist die Lage geworden, seit über den Krieg in Syrien nicht mehr berichtet wird. Immer noch fliehen die Menschen zu Tausenden aus den Krisengebieten in Nordafrika, sie versuchen ihr Glück über die Türkei und die Balkanroute oder sie wagen die Fahrt übers Mittelmeer.  

Ende der offenen Arme

Doch die offenen Arme, mit denen Europa die auf dem Höhepunkt der Willkommenseuphorie als "Schutzsuchende" bezeichneten Neuankömmlinge begrüßte, sie sind verschränkt. Das Reich der Träume von einer besseren Zukunft hat die Türen geschlossen, es spricht jetzt wieder von "Asylbewerbern", statt den respektvollen Begriff "Geflüchtete" zu benutzen. Und nicht nur deutsche, sondern auch europäische Politiker überbieten einander im Wettbewerb um die strengsten Maßnahmen und das Abschieben "im großen Stil". 

Nach Verträgen zur Abschottung, die die EU bereits mit Tunesien und Marokko abgeschlossen hat, folgt nun ein sogenannter Milliarden-Deal mit dem Libanon. Von dort aus machen sich immer mehr Schutzsuchende auf nach Zypern, der zur EU gehörenden Mittelmeerinsel, deren eine Hälfte der Nato-Partner Türkei völkerrechtswidrig besetzt hält. Die Boote aus dem Libanon nehmen Kurs auf die demokratische Seite des Eilands, dessen Regierung seit Jahresbeginn rund 4.000 ankommende Bootsflüchtlinge gezählt hat – deutlich mehr als vor einem Jahr, als nur 78 angekommen waren.

Flirt mit dem rechten Rand

Und viel zu viele, geht es nach der EU-Kommissionschefin, die nach der EU-Wahl im Juni gern eine zweite Amtszeit antreten würde und dafür auch bereit ist, mit dem rechten Rand zu flirten, wie es die Rheinische Post nennt. Nicht mehr die Not derer, die ihre Heimat verlassen, soll zählen, sondern der Wille derer, die schon in Sicherheit sind. "Es sind wir, die Europäer, die entscheiden, wer nach Europa kommt und unter welchen Umständen", hat von der Leyen anlässlich der Unterzeichnung der Vereinbarung mit dem Libanon wissen lassen. Eine Milliarde Euro will sich die Gemeinschaft die Flüchtlingsbremse kosten lassen - das ist beinahe doppelt so viel, wie die britische Regierung Ruanda als Lohn für das gemeinsame Abschiebeabkommen versprochen hat.

Dabei geht es um einen "Zustrom" (Angela Merkel) in ähnlichen Größenordnungen. Großbritanniens Premier Rishi Sunak will mit dem Ruanda-Plan die Zuwanderung über den Ärmelkanal stoppen: 4.600 Bootsflüchtlinge kamen in diesem Jahr über die schmale Wasserstraße in das vom Brexit verheerte Inselreich. Für die ausgelobte Summe soll das zentralafrikanische Land mit seinen 13 Millionen Einwohnern 300 Asylbewerber aufnehmen - Sunak spekuliert dabei natürlich nicht darauf, dass er ein paar hundert Zugeströmte loswird, sondern darauf, dass niemand mehr nach Großbritannien aufbrechen wird, wenn er fürchten muss, nach seiner Ankunft in Ruanda aufzuwachen. 

Methode Abschreckung

Funktioniert diese Methode der Abschreckung, würden sich die Kosten nicht auf 1,8 Millionen Pfund pro abgeschobenem Schutzsuchenden belaufen, sondern nur auf rund 40.000. Zum Vergleich: 2022 kosteten die rund 540.000 Empfänger von sogenannten Asylbewerberleistungen in Deutschland die Staatskasse pro Person und Jahr 12.000 Euro. Schon nach vier Jahren würde Sunak sparen.

Die EU würde gern auch, in Deutschland zumindest prüft Innenministerin Nancy Faeser das Ruanda-Modell schon seit Monaten. Aber niemand traut sich, weil die lange Bank allen Beteiligten attraktiver erscheint als ein kurzer Prozess. Seit vor mehr als einem Jahr einmal mehr eine gemeinsame europäische Lösung beschlossen wurde, diesmal unter der Überschrift "EU-Asylreform", ist der 2019 beschlossene "provisorische Verteilmechanismus für Flüchtlinge" nicht mehr letzter Stand. Aber die "beschleunigten Grenzverfahren an den "Außengrenzen" - gemeint war natürlich außerhalb des EU-Gebietes - sind nicht nur medial einen stillen Tod gestorben, sondern einer Umsetzung auch keinen Millimeter nähergekommen.

Neidischer Blick nach London

Neidisch schauen sie aus Brüssel und Berlin nach London, wo die ersten Abschiebeflüge bereits in zehn bis zwölf Wochen abheben könnten, um eines jener Zeichen zu setzen, für die eigentlich die EU und ganz besonders Deutschland bekannt ist. Wer kommt, ist schnell wieder weg, signalisiert Sunak in der Hoffnung, dass Schutzsuchende sich ein anderes Zielgebiet suchen, vielleicht gleich nebenan. Im EU-Mitgliedsstaat Irland wissen sie schon, was gemeint ist. 

Mit ihrer als "Unterstützungspaket" (BWHF) bezeichneten Flüchtlingsbremse reagiert die EU auf ihre Weise: Die Gemeinschaft, wer auch immer genau, wird der Regierung eines Landes, in dem Menschen wie Sklaven gehalten, queer lebende Bürger verfolgt und Grundrechte missachtet werden, nach den Buchstaben des "Pakts der Schande" (FR) rund eine Milliarde Euro dafür zahlen, dass sie ihr den lästigen Zustrom von Verfolgten des syrischen Diktators Baschar al-Assad vom Leibe hält. 

Der Syrienkrieg ist medial tot

Der könnte seiner medialen Präsenz zufolge inzwischen auch tot sein - das Überangebot an fürchterlichen Figuren hat den vor zehn Jahren noch schrecklichsten Despoten der Welt fast so vollkommen zum Verschwinden gebracht wie den Syrienkrieg, der all das Leid und all die Fluchtbewegungen ausgelöst hat. 

Die EU hat ebenso wie Deutschland aus jede Anstrengung eingestellt, mit dem im vergangenen Jahr in die Arabische Liga zurückgekehrten Regime in Damaskus auf eine Lösung der gemeinsamen Probleme hinzuarbeiten oder gar über die Rückkehr der Geflüchteten oder überhaupt über irgendetwas zu reden. Aller paar Monate verhängt die EU rituell neue Sanktionen gegen namenlose Beamte, anschließend verlängert sie die gegen das Regime selbst, und das alles bringt genauso viel wie zuvor: Nichts.

Warum also nicht dem Libanon, wie Syrien Gründungsstaat der Arabischen Liga, eine Milliarde geben, um "das Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen" zu "stärken"? Warum nicht auch in Zeiten knapper Kassen dafür sorgen, dass die "Mittel für die Sicherheitsbehörden und die Streitkräfte" (DPA) des autoritären und korrupten Regimes "für den Kampf gegen Schleuserbanden" reichen?

Donnerstag, 2. Mai 2024

Zwei-Mann-Mob von Stolzenhagen: Waren es Klimakleber?

Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckhardt auf einem der ganz raren Fotos, die sie mit ihrem Klima-Fahrzeug zeigen. Im Brandenburgischen hinderte ein zwei-Mann-Mob sie jetzt an der Abfahrt. Abb: Aquarell Kümram

Nicht nur demonstrieren, sondern blockieren. Nicht mehr nur die eigene Meinung zu Markte tragen, sondern andere mit passiver Gewalt zwingen wollen, sich anzuschließen. Nicht mehr das eigene Leben ausrichten am eigenen Glauben, sondern das der gesamten Gesellschaft, wenn nicht freiwillig, dann eben mit sanftem Druck: Beinahe zwei Jahre lang verfolgte die Letzte Generation der Klimaprotestanten diese Strategie der Erpressung der Mehrheit durch renitente Aktionen. 

Der Körper als Waffe

Geschult am Vorbild etwa der revolutionären RAF machten die Aktivisten ihre Körper zur Waffe. Mit Hungerstreik und dem Festkleben auf dem Asphalt, aber auch mit der Strategie, den Rechtsstaat durch  illegale Protestaktionen herauszufordern, um ihn letztlich zu überfordern und damit zum Aufgeben zu  zwingen. Lange war das erfolgreich. Medien stürzten sich begierig auf die zumeist jungen und oft demonstrativ opferbereiten Teilnehmer an Klebeaktionen, Hungerstreiks und Gerichtsverfahren. Erst als sich der Nachrichtenwert der Aktionen verbraucht hatte, gab die Bewegung auf und verkündete wie so viele frühere engagierte Gruppe, nun auf den langen Marsch durch die demokratischen Institutionen gehen zu wollen.

Doch nicht alle wollen auf diese Weise aufgeben und den Kampf nur noch in den Parlamenten führen. Nach wie vor hungern einige unentwegte Aktivisten in Berlin für eine sofortige Klimarettung. Und auch in Brandenburg wendeten jetzt Demonstranten die bewährte Klimakleber-Strategie der Blockade an: Gezielt hinderten sie das Auto der wahlkämpfenden Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) an der Abfahrt aus dem kleinen Örtchen Lunow-Stolzenhagen im Oderbruch. Bereits zuvor war es im Umfeld der Veranstaltung zu einer Gegendemonstration und Störungsversuchen gekommen, berichtet die Bild-Zeitung. 

Wahrlich ein Herz für Proteste

Selbst Göring-Eckhardt, die aus der DDR-Bürgerbewegung kommt und wahrlich ein großes Herz für Proteste hat, wurde von den Ereignissen kalt erwischt. Vor dem Veranstaltungssaal hätten sich 40 bis 50 Menschen zu sogenannten "Gegenprotest" (Tagesspiegel) versammelt, die "Demonstrierenden" (Die Zeit) hätten die Spitzenpolitikerin nach der Veranstaltung auf dem Weg zu ihrem Fahrzeug bedrängt und dann an der Abfahrt gehindert.

"Mehrere Personen schlugen dabei in aggressiver Stimmung auf das Fahrzeug", teilte Göring-Eckardts Büro mit. Zwei 19 und 26 Jahre alte Aktivisten setzten sich zudem vor und hinter den Dienstwagen, so dass der "Mob" (Morgenpost) für eine gewisse Zeit die Kontrolle über die Situation übernahm. 45 Minuten lang wurde die frühere grüne Parteivorsitzende aufgehalten und daran gehindert, ihrer Arbeit nachzugehen.

Das Gleiche, ganz anders

Nach einer Mitteilung aus Göring-Eckardts Büro ist die Grenze des Zulässigen damit überschritten. Bei den Straßenblockaden der "Letzten Generation" seien zwar auch Verzögerungen entstanden und Rettungswagen blockiert worden. Doch weil die Aktivisten alles dafür getan hätten, dass sich Rettungsgassen bilden könnten, sei eine Debatte darüber müßig "angesichts der vielen Staus, die durch Autofahrer entstehen". 

Der Zwei-Mann-Mob von Lunow-Stolzenhagen habe mit einem ganz anderen Kaliber auf den gesellschaftlichen Frieden gefeuert: "Protest ist legitim, Bedrohung und Einschüchterung nicht." Es könne nicht sein, dass Demokratie-Veranstaltungen verhindert werden sollen. "Über Demokratie zu reden, muss überall möglich sein - auch auf dem Land, ob in Biberach in Baden-Württemberg oder in einem Dorf in Brandenburg."