Sonntag, 8. September 2024

Brasilianische Lösung: X und Hopp

Der Maler Kümram hat Anton Hofreiter in einer typischen Pose gezeichnet: In sich gerade schräg zum Ziel, eines Tages Minister werden zu dürfen.

Er ist einer der Zukurzgekommenen, der Abgehängten, der Leute in der Grünen Partei, die sich viel mehr erhofft hatten vom gemeinsamen Projekt mit SPD und FDP. Doch als es an die Vergabe der Posten ging, fiel Anton Hofreiter einmal mehr der Ruf auf die Füße, den er sich über Jahre erarbeitet hatte. Hofreiter, auch "der Toni" genannt, gilt seit seinem wegweisenden Manifest "Warum die Grünen die Partei der Freiheit sind", das er im Oktober 2013 im Wochenblatt "Die Zeit" veröffentlicht hatte, als Hippie, Liberaler und einer, der sich anbiedern will bei denen, die die Zeichen der Zeit noch immer nicht erkannt haben.

Ungedient, aber rauflustig

Anton Hofreiter wurde übergangen. Er bekam keinen Ministerposten, nicht einmal Staatssekretär durfte er werden. Offiziell eine Zurücksetzung, die der frühere Parteichef klaglos hinnahm. Immer mal wieder löckte er gegen die offizielle Parteilinie. Hofreiter, ungedient, aber rauflustig, trieb die frühere Pazifistenpartei zu Waffenlieferungen und Kriegseinsätzen, er klagte, bohrte und barmte: Unverkennbar war, dass er sich als Verteidigungsminister der Neuauflage der Ampel nach 2025 ins Spiel zu bringen versuchte. 

Es könnte aber auch das Innen- oder Justizressort werden, oder gar ein ganz auf "den Toni" zugeschnittenes neues Verbotsministerium. Seit das öffentliche Interesse am Großkonflikt in der Ukraine nachgelassen hat, leidet Anton Hofreiter unter Aufmerksamkeitsentzug. Die Diskussion um Schwerwaffen ist ausgelaufen, die um den Einsatz deutscher Männer an der Front beklagenswerterweise nie richtig in Gang gekommen. Statt darüber zu debattieren, geht es allenthalben nur noch den Abfall einzelner Bundesländer, die sogenannte innere Sicherheit und einen Rechtsrutsch der Gesamtgesellschaft, von dem Forschende bereits mehrfach festgestellt haben, dass er durch Kremlagenten und eine perfide Fälschungskampagne bewirkt worden ist.

Zu viel Widerspruch

Der wahre Grund ist X, die Milliardärsplattform, auf der den wenigen noch verbliebenen Grünen-Politikern und grünen Propagandisten mehr Widerspruch entgegenschlägt als selbst im ländlichen  Thüringen. Wie sein Parteivorsitzender Omid Nouripour unterhält auch Hofreiter dort noch eine Beobachtermission. Er schreibt nicht wie sein Kollege Cem Özdemir, er liest nur und das offenbar intensiv. 

Denn im Zuge seines Umstyling vom Militärexperten zum Sicherheitspolitiker hat Hofreiter jetzt vorgeschlagen, nach dem Vorbild Brasiliens auch hierzulande die Nutzung zur Onlineplattform X einzuschränken oder ganz zu verbieten. X, ein Internet-Treffpunkt von Nachrichtennerds, Online-Nörglern und Hobby-Besserwissern, sei verantwortlich für die Online-Radikalisierung von Jugendlichen. Wer die Verbreitung menschen- und verfassungsfeindlicher Inhalte im Internet stoppen wolle, der müsse die Kanäle verstopfen, über die sich Gefährder im Internet radikalisieren.

Ohne X kein Terror

Die Schließung von X als Beitrag im Kampf gegen den Terror? Der Vorschlag zeigt, dass Anton Hofreiter immer noch einer der originellsten Denker in der "Partei der Freiheit" ist. Ebenso gründlich, wie er vor elf Jahren mit dem Vorurteil von den Grünen als angeblicher "Bevormundungs- und Verbotspartei" aufgeräumt hatte, zeigt er jetzt, wie ein "Linksliberaler" (Hofreiter über Hofreiter) Freiheit und Grundrechte versteht.

Das Manifest zum Freiheitsabbau von 2013.

Der verkürzte, einseitige Freiheitsbegriff aus Artikel 5 Grundgesetz, er greift nach dieser Definition zu kurz. Dass jeder das Recht hat, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten, bedeutet keine Bestandsgarantie für eine Plattform  wie X: "äußern" und "verbreiten" sind den Buchstaben des Grundgesetzes nach auch ohne die Hass-Plattform aus den USA möglich. Und die Möglichkeit der "ungehinderten Unterrichtung" bezieht sich ausdrücklich nur auf "allgemein zugängliche Quellen". Zu denen X nach einem Verbot nicht mehr gehören würde. So dass die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film weiterhin gewährleistet wären, weil eine Zensur nicht stattfindet.

Freiheit mit dem Staat

Schon als junger Mann hatte Anton Hofreiter leidenschaftlich dafür plädiert, wegzukommen von einem egoistischen "Freiheitsbegriff, der sich vor allem gegen den Staat richtet, gegen öffentliche Institutionen". In seinem Grundsatzbeitrag erklärte er umfassend, warum die Grünen die Partei der Freiheit sind. Diese Freiheit aber eine nicht zu tun hat mit dem verkürzten Freiheitsbegriff, den Ewiggestrige nutzen, um Verbotsvorschläge "wie ein Tempolimit oder eine moderate Steuererhöhung" (Hofreiter) als Argumente gegen eine angebliche Übergriffigkeit des Staates nutzen. 

Diese Leute behaupteten, der Staat mische sich immer mehr in ihre Privatangelegenheiten ein. Das aber, so Hofreiter, sei nur gut gemeint und Teil einer neuen Freiheit, die mit dem Staat statt ohne oder gegen ihn gelebt wird. Was vielen fehle, sei das Vertrauen, sich ihm ganz hinzugeben. Dabei sorge doch der "emanzipatorischen Impuls der Grünen", der sich "immer gegen gesellschaftliche Zwänge gewandt" habe, sicher dafür, dass jeder notwendige Eingriff in Grundrechte allen nütze und diene. 

Ausdrücklich erinnerte Hofreiter in seinem Grundsatzpapier an das Erbe der Bürgerrechtsbewegung im Osten, "die gegen die weitergehenden Repressionen der Diktatur angegangen" sei. "Unsere Programmatik zielt auf die Ermöglichung der Freiheit des Einzelnen, genauer der Einzelnen, also im Idealfall der gleichen Freiheit aller Einzelnen."

Verabsolutierte Freiheit

Als logische Fortsetzung gilt dem 54-Jährigen heute eine Freiheit ohne "Verabsolutierung der Freiheit eines Einzelnen", weil diese Freiheit insgesamt mehr Freiheit schaffe. "Denn selbstbestimmte Lebensführung der einzelnen Menschen kommt nicht von selbst", ist sich Hofreiter sicher: Freiheit müsse "positiv ausgeübt" werden können, indem Bürgerinnen und Bürger vor falschen Optionen, die falsche Entscheidungen erst ermöglichen, geschützt werden. Mehr Freiheit wagen, mit weniger Kanälen, über die Hass in die Adern der Gesellschaft gepumpt wird.

Die brasilianische Lösung, X notfalls auch zu sperren, komme nur "notfalls" infrage, aber die von Musk beschworene absolute Meinungsfreiheit sei auch in der EU keine Entschuldigung dafür, "menschen- und verfassungsfeindlicher Inhalte" zu verbreiten. Katarina Barley, die bei der EU-Wahl im Frühjahr auch wegen der Nachstellungen bei X das schlechteste Ergebnis geholt hatte, das ihre Partei jemals einfahren musste, hat sich bereits hinter Hofreiters Vorschläge gestellt und auf die umfangreichen Sanktionsmöglichkeiten durch das Digitale-Dienste-Gesetz verwiesen. "Wir müssen die Wurzel des Problems angehen und Radikalisierungen im digitalen Raum wie in der Gesellschaft zurückzudrängen."

Die X-freie Gesellschaft

Nur einer X-freie Gesellschaft ist wirklich frei, frei von Versuchungen, frei von der Verführung,  Widerspruch zu führen und den Staat zu kritisieren. "Ziel unserer Politik, wenn sie auf Stärkung öffentlicher Institutionen zielt, bleibt also auch dabei die Freiheit der Einzelnen", hatte Hofreiter schon 2013 einen Weg vorgezeichnet, der dem Wildwuchs zahlloser Ansichten und endlos vieler alternativer Kanäle, sie zu verbreiten, eine überschaubare Anzahl sicherer und überwachter Plattformen bereitstellt. "Sonst degeneriert der Freiheitsraum der Einzelnen zur Zwangskammer beschränkter Möglichkeiten." 

Wohlstand 2.0: Weg mit der Wachstumswehmut

Robert Habecks Weissagungen von 2011 sind eingetroffen: Niemandem wird es schlechter gehen, vielen aber viel besser.

Von ihm war die Idee der Bundesbetriebsferien, von ihm war auch die Warnung Richtung VW, dass bis 2025 ein Elektroauto für höchstens 20.000 Euro angeboten werden müsse, sonst sei der Ofen bald aus. Immer hat Robert Habeck recht behalten, niemals wurde ihm ein Irrtum nachgewiesen. 

Das macht in Wolfsburg, Kassel, Zwickau und den anderen Automobilbaustandorten Zehntausenden von Arbeitern und Angestellten Hoffnung, dass der grüne Kanzlerkandidat die Dinge wirklich vom Ende denkt: "Wir brauchen keine Autofirmen" hatte Habeck schon als junger Dachs in der holsteinischen Landespolitik einen Blick in die Zukunft gewagt, der damals gerade begann, mit Mut und Tatkraft zu gestalten.

Vorhersage trifft genau ein

Dreizehn Jahre danach ist es fast so weit. Offiziell werden "maues Management, maue Konjunktur, China, Elektroauto" (Die Zeit) als Begründung für die Bedrohungslage beim ehemals wertvollsten Konzern der welt angegeben. Doch wer Habecks Wirken schon länger verfolgt, erkennt den großen Plan, der beharrlich und in kleinen Schritten umgesetzt wird. 

Alles folgt einer kühnen Prämisse, die der damals gerade 41 Jahre alte und bundesweit noch recht unbekannte Fraktionsvorsitzender der Grünen im Landtag von Schleswig-Holstein 2011 öffentlich gemacht hatte: Weniger Autos seien besser als mehr Autos, stimmte er einem Ratsschluss des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann zu. Und ergänzte ihn um einen echten Habeck: "Und die wenigeren Autos müssen weniger Benzin verbrauchen als heute."

Bhutan als Vorbild

Habeck hat Recht behalten.
Robert Habeck hatte das, was künftig als Wohlstand gelten soll, zu jener Zeit, als "Degroth" noch ein Fremdwort war, bereits fest definiert. Nicht mehr Wirtschaftswachstum und Kaufkraft, sondern 21 andere Kriterien für Wohlstand würden zählen. Eine Idee, der sich Bundeskanzler Olaf Scholz auf Anregung des früheren Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" erst viele Jahre später anschloss. Dass weniger Autos nicht weniger Wohlstand bedeuten, ist heute erwiesen. 

Obwohl allein Volkswagen eine halbe Million Autos weniger verkauft, als die größte deutsche Mobilitätsschmiede aus alter Gewohnheit herstellt, wurde kein Lohn gekürzt, kein Gehalt eingedampft und nicht einmal die saftige Dividende zusammengestrichen, von der vor allem das Land Niedersachsen als größter Anteilseigner profitiert.

Habeck, der sich heute keineswegs damit brüstet, hatte schon vor dreizehn Jahren vorhergesagt, dass "weniger Autos noch nicht mal zu weniger Wirtschaftswachstum führen" und "ganz sicher aber nicht zu weniger Wohlstand, sondern zu neuen Branchen". Der "nationale Wohlfahrtsindex" ("NWI"), der anders als das Bruttoinlandsprodukt (BIP) auch Orchideenbereiche beleuchtet, Gefühle widerspiegelt und die emotionalen Umstände der freiwillig empfundenen Lebensqualität einbezieht, relativiert das Leben unter bedrückenden Verhältnissen ohne Wachstumshoffnungen und Aussicht auf die Wirkung von Dynamisierungspaketen.

"Nationaler Wohlfahrtsindex"

"Wirtschaftsschwach" gilt hier bei der Messung als Vorteil: Selbst wenn das BIP wie seit Jahren in Deutschland stagniert, ist der NWI in der Lage, einen Anstieg auszuweisen. Arbeitslose haben mehr Zeit und weniger Stress, nicht hergestellte oder verkaufte Autos  sparen Wasser und Strom und Benzin, angetackerte Flaschendeckel mindern die Plastikbelastung der Meere, wegfallende Partys, Vergnügungen und Volksfeste minimieren die Schäden durch Tabak-, Alkohol-, Drogen-und Messermissbrauch. Wer nicht fährt, fährt nicht verkehrt, Verkehrsunfälle bleiben aus, Krankenzeiten gehen zurück und nicht gehaltene Hunde und Katzen fressen nichts.

Weniger Autos, weniger Stahl, weniger Exporte, weniger Geschäftsmodell, weniger sogenannte Wettbewerbsfähigkeit - das "grüne BIP" misst Wohlstand wachstumsunabhängig und entkoppelt so das schlechte Gefühl vieler angesichts einer Vielzahl von schlechten Nachrichten vom gewünschten Zustand eines Musterlandes, dessen Selbstgefälligkeit sich in Unmut, Ärger und Hetze äußert, sobald selbst Schönrechnen nicht mehr verbergen kann, dass dauerhafte Stagnation bei steigenden Preisen Schrumpfung bedeutet.

Schrumpenlde Wirtschaft

Das Zusammenschrumpeln der Wirtschaft hatte Habeck bereits vor 13 Jahren als Chance bezeichnet. Nicht auf die Zahlen kommt es an, sondern darauf, wie sie hingenommen werden. Wenn Menschen begriffen, dass das Fehlen einer Einkommensspreizung, abgeschaltete Kernkraftwerke und die Abschaffung von Maismonokulturen in der Landwirtschaft genauso Wohlstand seien wie ein sicherer Arbeitsplatz, ein volles Konto und eine gebuchte Fernreise.

Wer keine Großkonzerne und keine Exportindustrie zu hat, ist in diesem neuen wirtschaftlichen Sinn besonders stark. "Wir brauchen hier keine große Auto- oder Petroindustrie", hatte Robert Habeck seinen Plan schon früh umrissen. Das Potenzial liege bei "den Life-Sciences, der Bioökonomie, neuen Produktionsketten, einer Renaissance der Landwirtschaft, den Erneuerbaren mit all ihren Verästelungen". Die Strategien, die der spätere Vorsitzende der Grünen in Schleswig-Holstein testete, strafte die konventionellen Wachstumstheoretiker Lügen und wies nach, dass es unnötig ist, "weiter an einem qualitätsblinden Wachstumsbegriff festzuhalten". Weniger wird mehr, Bescheidenheit boomt, Konjunktur entsteht aus Reparatur. 

Die gute alte Gute Gesellschaft

Der große Umbau, er ist seitdem gut vorangekommen, dort, wo alles begonnen hat, sogar nocht stärker als runherum. Das preisbereinigte BIP von Schleswig-Holstein lag zuletzt bei minus 1,1 Prozent, sogar noch schlechter als das ohnehin bescheidene deutsche Bruttoinlandsprodukt, welches im letzten Jahr um 0,3 Prozent zurückging. Wirtschaftliche Transformation ohne Wachstumswehmut setzt auf eine neue gesellschaftliche Vorstellung von Lebensglück, die die gesamte Volkswirtschaft so klug steuert, dass nicht irgendwelche toten Zahlen besser werden, sondern im Sinne der "Guten Gesellschaft", die die sozialdemokratische Vordenkerin Andrea Nahles einst als sozial regulierten Gegenentwurf zum Wachstumskapitalismus vorgeschlagen hatte.

Was vor 15 Jahren ein kühner Traum einer Frau mit Ambitionen war, ist zu einem guten Teil Realität geworden. Um "gutes Wachstum" zu erreichen, das auch negativ sein kann, entschließen sich Bäcker, nicht mehr zu backen, Kneiper die Türen und pressure groups aus der Zivilgesellschaft fordern unermüdlich höhere Kfz-Steuern, niedrigere Geschwindigkeiten auf der Autobahn, mehr Maut und weniger Parkplätze. 

Genialer Kniff

Das rechnet sich, denn wer länger fährt, steht weniger herum, und wer weniger herumsteht, schafft mehr, ohne mehr zu tun. Der geniale Kniff am wachsenden Schrumpfen, wie es der Habeck-Plan von 2011 den Deutschen in Aussicht stellte, besteht weniger in einer drastischen Transformation als vielmehr in einem sanften Hinübergleiten in eine Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die sich selbst genug ist, und das etwa im Zustand der Jahre zwischen 2010 und 2015. Wie Endfünfziger bei aller simulierten Geschäftigkeit oft nur noch auf den Tag des Renteneintritts warten, hat Robert Habeck für die gesamte Gesellschaft Kurs gesetzt auf letzte Lebensjahre in Demut und Bescheidenheit. 

Das Gesparte noch verfrühstücken. Den in den fetten Jahren angefutterten Wohlstandsspeck gemütlich verstoffwechseln. Das Licht des Glaubens an den unaufhaltsam voranschreitenden Fortschritt abdimmen. Ohne Wehmut schaut der wohlstandsverwöhnte Boomer zurück auf ein Vernichtungswerk an Klima, Natur, Umwelt und Gemeinschaft, das ihn und die Seinen zur fürchterlichsten Generation hatte werden lassen, die jemals auf Erden wandelte und wirkte. 

Lange, fast zu lange hat es gedauert von Robert Habecks dringlicher Botschaft, dass "wir keine Autofirmen brauchen", bis zu den ersten Schritten zum Automobilausstieg. Noch ist nichts entschieden, aber wenn jetzt alles ganz schnell geht, kann die Umkehr gerade noch gelingen.

Samstag, 7. September 2024

Zitate zur Zeit: Wie soll das gutgehen

Die bunte Menagerie umfasst eine Partei, die Austerität für einen Selbstzweck hält; eine Partei, die mit Schuldenmachen alle Probleme glaubt, lösen zu können; und eine Partei von ewig pubertierenden Weltverbesserern. 

Wie soll das gutgehen?

Eric Gujer erklärt in der NZZ das "ziemlich einmalige Schauspiel" einer Koalition, in der jeder Partner ist nur noch darauf aus ist, den anderen ein Bein zu stellen in der Hoffnung, sich zu profilieren.

Ausreisewelle: Wie sich Fachkräfte aus dem Osten schleichen

Thüringen Flüchtlinge beim Treck über die Höhen des Erzgebirges.

Sie schlagen sich durch dichte Wälder, schleppen ihre Habseligkeiten Über die ausgedehnten Höhenzüge der Rhön und des Erzgebirges, sie marschieren sich die Füße blutig, bis sie endlich im sicheren Franken oder auf der tschechischen Seite der Berge im Süden Sachsen ankommen. Seit der Osten kippt, ja, im Grunde schon auf der rechten Schlagseite liegt, waächst die Angst, den Absprung zu verpassen.

Viele, die außerhalb wohnen und leben, haben es leicht, sie müssen einfach nicht mehr Dresden, Meissen und Weimar reisen. Doch die, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben, stehen vor einer harten Entshceidung: Gehen, so lange es geht? Oder bleiben, still zurückgezogen ins Private oder im Widerstand?  

Auswandern im Netz

Vor allem in Thüringen, aber auch in Sachsen haben nach dem Wahlerfolg der AGREAFD ungewöhnlich viele Menschen die Suchmaschine Google nach Auswanderungsmöglichkeiten befragt. Um dem drohenden politischen System in den beiden Freistaaten zu entkommen, das womöglich einen Austritt aus den Staatsverträgen mit dem Gemeinsinnfunk, schärfere Abschiebungen und eine landeseigene Grenzschutzpolizei mit sich bringen könnte, fliehen die Menschen. 

Erstmal nur am Rechner oder Smartphone, aber die Furcht vor politischer Verfolgung als Andersdenkender, dem Verlust der Meinungsfreiheit und Hausdurchsuchungen wegen sogenannter "antifaschistischer Hetze" lässt viele schon die Koffer packen. Und manche sind sogar schon unterwegs. Wie Raimund Lasekarg-Welle, der schon Ende letzten Jahres erste Vorbereitungen getroffen hat. "Ich wusste doch, wie die Stimmung ist und wie sich das auf dem Wahlzettel ausdrücken wird", sagt der 44-Jährige, der aus Greiz stammt und später als Forstingenieur in einem kleinen Dorf bei Suhl heimisch wurde. 

Flucht nach NRW

Lasekarg-Welles Frau ist wie so oft in diesen Konstellationen Lehrerin, sie spürt gesellschaftliche Erschütterungen, lange bevor andere sie wahrnehmen können. "Sie hat mir zugeraten und so sind wir schon im Frühjahr rüber nach NRW und haben dort einen Kaufvertrag für eine Wohnung in einer kleinen Stadt abgeschlossen." 

Seine "Fluchtburg" nennt Lasekarg-Welle das bescheidene neue Heim, das er und seine Frau beziehen wollen, sobald sie den Marsch von fast 400 Kilometern hinter sich gebracht haben. Ja, Marsch! Um kein Aufsehen zu erregen, wollen die beiden Auswanderer möglichst unbemerkt "verduften", wie Angela Lasekarg-Welle es nennt. "Bloß nicht auffallen, bloß nicht die Behörden auf uns aufmerksam machen."

Angst vor Verfolgung

Seit dem Fall von Sonneberg kennt jeder in Thüringen die Konsequenzen oder er ahnt sie zumindest. "Wir haben einfach genug von dem ganzen politischen Mist und der verbalen Gewalt in den sozialen Netzen", sagt Lasekarg-Welle. Nach dem Aufstand der Faschisten und der Wahlniederlage aller demokratischen Parteien könne es nicht damit getan sein, die Niederlage zu akzeptieren und auf das nächste Mal zu hoffen. "Es ist jetzt jeder gefordert, ernste Konsequenzen zu ziehen, aber auch, sich und seine Lieben in Sicherheit zu bringen."

Das Schreckgespenst Höcke, es wirkt. Der braune Schatten des zugewanderten Westdeutschen, der sich ein halbes Leben lang als braver Volksschullehrer zu tarnen wusste, geistern in den Köpfen vieler, die in diesen letzten heißen Tagen des Klimasommers durch die Thüringer Wälder streifen, um unauffällig eine Fluchtroute zu erkunden. Es sind gerade die eher Jungen, die Übergebildeten, die, die Haus und Hof und Hund haben, die untereinander darüber wispern, das Land verlassen zu wollen. 

Aiwanger schreckt ab

Nach Bayern hinüber will allerdings kaum jemand, obwohl es der nächste Weg wäre. "Seit der Aiwanger-Affäre mit dem braunen Schulranzen", sagt Raimund Lasekarg-Welle, "ist das Thema für mich erledigt." Bayern sei "der Regen nach der Traufe", vielleicht das nächste Bundesland, das so weit nach rechts rücke, dass jeder anständige Demokrat Angst haben müsse, bedroht und verfolgt zu werden. "Wenn die Höcke-Diktatur erst begonnen hat, dann werden die Grenzen sicherlich komplett zugemacht." 

Bis dahin wollen Lasekarg-Welles fort sein. Sie zählen sich zu den leistungsfähigen Kräften in Thüringen, zur gesunden Kern der hart arbeitenden Mitte. "Wir wollten immer gern überall Urlaub machen, aber nie in ein anderes Land ziehen", sagt Susanne Leseberg-Welle. Doch die Furcht vor dem, was kommen könnte, lasse keine andere Alternative. Im Freundeskreis dächten viele so. "Als wir neulich bei einer Grillparte herumgefragt haben, wer sich vorstellen könnte, zu gehen, haben mehr als zehn Prozent die Hände gehoben". 

Abgeschreckt von Gerüchten

Unter den unter 30-Jährigen seien es sogar 24 Prozent gewesen, "alle mit guten Jobs, Handwerker, Immobilienmakler, Ärzte". Habe sich mancher bisher noch von den hohen Mieten, den Berichten über Gewalt und eine disfunktionale Infrastruktur mit langen Staus, ausfallenden Zügen und ständigen Blockaden von Klimaanhängern abschrecken lassen, wirke der Sieg der AGREAFD jetzt wie ein  Katalysator. "Und da schon einige gegangen sind, findet man in der Diaspora der Leute, die schon im Exil leben, auch schnell Anschluss und Einstiegshilfe." 

Raimund Lasekarg-Welle packt weiter an seinem Koffer, noch ein paar T-Shirts, noch eine Wechselhose, das Fotoalbum und die Zeugnisse. Leichtes Gepäck ist gefragt, angesichts des schweren Geländes, das zu überwinden sein wird. Den zunehmenden Konservatismus im eigenen Land werde er nicht vermissen, ist sich der Forstwirt sicher.  "Auch die weit verbreitete Wut und Unzufriedenheit fehlt uns bestimmt nicht", bekräftigt seine Frau Susanne den gemeinsamen Beschluss. Sie ist optimistisch.  "Wir ziehen in eine demokratische Region, wo wir uns schnell zu Hause fühlen werden."

Freitag, 6. September 2024

Demokratieschutz-Verordnung: Wahlkampf ohne Meinungsstreit

Um die Demokratie umfassender als bisher zu schützen, haben die Grünen umfangreiche Maßnahmen zur Einhegung von Widerspruch und Meinungskampf beschlossen.

Sie pflegen abweichende Meinungen, greifen Regierungsparteien an, ernennen einzelne politische Partner zu Hauptgegnern und versuchen, sich die Mehrheit der Menschen im Land mit haltlosen Versprechen gefügig zu machen. Von einem "Wirtschaftswunder" ist dann die Rede, von "mehr Sicherheit" und die "Gerechtigkeit" darf nicht fehlen. Seit die Bundesworthülsenfabrik in (BWHF) in Berlin auch kombinierte Adjektive anbietet, finden sich oft adjektivierte Verlockungen wie "klimagerecht" und "sozial nachhaltig".

Vorgeschriebene Parolen-Prüfung 

Allzu häufig sind Bürgerinnen und Bürger anfällig für solche einfachen Parolen vom angeblich falschen "Heizungsgesetz", gegen das immer noch gehetzt wird, obwohl die Bundesregierung die Umsetzung um drei Jahre nach hinten verschoben hat. Oder die Zahlen aus der Wirtschaft: Alles ist seit vielen Monaten stabil. Trotzdem hören die Angriffe nicht auf, die mit Kampfbegriffen wie "Schwächeln", "Abkühlung" und "geringes Wachstum" arbeiten, um Unruhe zu säen, etwa wegen drohender Entlassungen und höherer Wachstumsraten bei der Arbeitslosigkeit.

Es ist eine Situation, die Demokraten so nicht mehr akzeptieren können. Die Grünen als Hauptzielscheibe von Ostdeutschen, Konservativen, Liberalen, Rechten, Rechtsradikalen, Rechtsextremen und Rechtsextremisten haben jetzt als Konsequenz aus der Lage vor und nach den Landtagswahlen einen besseren Schutz vor der Beeinflussung von Wahlen beschlossen. Eine Bund-Länder Task-Force "zum Schutz der Demokratie" (BLTFSD) sieht vor, dass der politische Raum ähnlich umfassend eingehegt und gesichert wird wie der Berliner Reichstag. 

Virtueller Demokratieschutzgraben

An dem starten im kommenden Jahr Bauarbeiten zur Errichtung eines Demokratieschutzgrabens mit Ausfallhof, Hauptumwallung und elektronischen Kamerabastionen zur Gesichtserkennung von Gefährdern und Provokateuren. Die geplanten Kosten liegen derzeit bei knapp 200 Millionen Euro, der Bauplan hinkt sechs Jahre hinterher. Doch die Erfolge sind bereits greifbar: Schon seit vier Jahren gab es keinen Versuch eines Angriffs auf das Hohe Haus mehr.

Ein Vorbild für den umfassenden Schutz, den sich die grüne Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge für den gesamten politischen Raum wünscht. Vorbild der für die Idee ist der "Überparteiliche Notfallplan zum Schutz unserer Demokratie", mit dem die bayerischen Grünen im vergangenen Jahr bei der Landtagswahl Schiffbruch, weil er noch nicht umgesetzt war. Seitdem hat der "Rechtsrutsch in unserem Land bedrohlich an Fahrt" aufgenommen, "die Bindekräfte unserer Gesellschaft, der Zusammenhalt und die Kraft der Demokratie schwinden" (Grüne). Es braucht ein festes Band, einen dicken Strick, um zu fesseln, was auseinanderstrebt.

Abwehrmaßnahmen gegen die Beeinflussung durch Wahlen sind nur ein Baustein, ein anderer ist eine neue Parteikontrollkommission zur Pflege des Politischen Streits (PKKPPS), die als eigener Arbeitsbereich beim Bundesministerium für Inneres und Heimat angesiedelt wird. Die PKKPPS sei damit beauftragt, den notwendigen und gewünschten Meinungsstreit nicht ins Inhaltliche abgleiten zu lassen. "Demokraten sollten wie Demokraten sprechen", hat Dröge als oberste Maxime ausgegeben. Dazu gehöre auch, hieß es im Umfeld der grünen Klausurtagung, dass Ansichten und Auffassungen der Regierungsparteien nicht infrage zustellen seien.

Weg vom Streit der Überzeugungen

Ähnliche Bestrebungen, den oft auf der Ebene unterschiedlicher Überzeugungen ausgefochtenen Streit um den richtigen Weg abzumoderieren, hat es immer wieder gegeben. Von der in Ostdeutschland lange gebräuchlichen Formel der "wissenschaftlichen Weltanschauung", die jeweils einzig richtige politische Entscheidungen diktiere, bis zur "Alternativlosigkeit", die die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel in den Stand versetze, niemals zwischen mehreren möglichen Entscheidungen wählen zu müssen, zieht sich ein roter Faden der Verlässlichkeit durch die deutsche Geschichte.

An dem wollen sich die Grünen wieder stärker orientieren. Die Wahlschlappen in Thüringen und Sachsen ebenso wie die absehbar ernüchternden Ergebnisse im eher fortschrittlichen Brandenburg zeigten, wohin ein sorgloser Umgang mit Ansichten, Überzeugungen und öffentlichen Äußerungen führe. Ein Staat, der es zulasse, dass Parteien mit Steuerverweigerung hausieren gehen, haltlose Versprechungen machen und in Krisenzeiten das Bild einer heilen Welt malen, verliere den Zugriff auf Herzen und Köpfe der Bürgerinnen und Bürger. Nicht mehr Wahlkämpfe seien nötig, sondern kluge, überzeugende und ehrliche.

Gezielt gegensteuern

Die PKKPPS soll hier gezielt gegensteuern. Wahlparolen inhaltlich prüfen, abnehmen und zur Nutzung freigeben, Wahlprogramme demokratietauglich redigieren und die Lebensläufe von Kandidaten, die bisher nur ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen müssen, mit Hilfe der zuständigen Behörden auf ihre charakterliche Eignung abklopfen ist die eine Seite der neuen Aufgaben. Die andere liegt in der Verantwortung für die zeitgemäße Umgestaltung des Wahlverfahrens an sich. 

Hier sind mehrere Varianten im Gespräch, so etwa Wahlzettel nach dem Muster der Lebensmittelampel, auf denen Wählende nicht mehr ankreuzen müssten, was sie wählen wollen. Viele wissen das bis zum Betreten der Wahlkabine nicht, sie träfen, so weiß man im politischen Berlin aus Nachwahlbefragungen, oft keine angemessen verantwortungsbewusste Entscheidung. 

Markierung statt Kreuz

Das als "Einfache" oder "Leichte Wahl" von Wissenschaftlernden des An-Institutes für Angewandte Entropie (AIAE) in Frankfurt/Oder entwickelte neue Stimmabgabeverfahren setzt genau hier an. Wählende müssen sich nicht mehr spontan für eine Partei oder einen Kandidaten entscheiden, sondern auf einem Wahlzettel mit Verlaufsfarben entlang des demokratischen Spektrums nur noch markieren, wie stark sie Grüne, SPD oder Linkspartei präferieren. Streng nach den Vorgaben der Forschung stehen dabei radikale Parteien wie das BSW, die AGRGAFD und die Union jeweils ganz außen, die demokratischen Kräfte dagegen mittig.

Aufwendige Wahlkämpfe mit unnötigem Meinungsstreit, die hart arbeitende Mitte abschreckender Argumentationsaustausch und Redeschlachten voller Sacherwägungen müssten dann nicht mehr simuliert werden, selbst die Stimmabgabe ist nach Ansicht der Forscher automatisierbar. Sie könnte künftig direkt über den beliebten "Wahl-O-Mat" der Bundeszentrale für Politische Bildung erfolgen, der bisher nur als Beratungsinstrument für Unentschlossene dient, die noch nicht wissen, ob sie BSW oder AGRGAFD wählen sollen. Künftig würde die Stimme des Wahl-O-Mat-Nutzers jeweils am Ende des Befragungsparcours entsprechend des erzielten Ergebnisses direkt an den Bundes- oder Landeswahlleiter übermittelt.

Rote Socken: Bunter wird's nicht

Rot-rot-rot könnte in Erfurt erstmals regieren und das mit eigener Mehrheit: Jeweils eine der beiden rechtspopulistischen Parteien müsste jedem Gesetzesvorschlag der Regierung zustimmen, um nicht eine neue deutschlandweite Diskussion über die Brandmauer heraufzubeschwören.
 
Für die Demokraten allein reicht es nicht, aber auch die als gesichert rechtsextrem geltenden  Wahlsieger können nicht, wie sie wollen. Unbelehrbar durch gute Ratschläge von außen hat der Thüringer sein eigenes Bundesland unregierbar gemacht. Den einen wie den anderen fehlt es an Mehrheiten. Es ist alles schlimmer noch als in Sachsen, so schlimm sogar, dass Wissenschaftler neu zu sortiere begonnen haben: Ein Westdeutscher in der Linkspartei ist danach ganz anders zu lesen als ein Ossi, der für Sozialismus, Planwirtschaft und einen neuen Anlauf zum Aufbau einer richtig gerechten Gesellschaft schwärmt.

Störend bei der Machtübernahme

Die CDU sieht sich gezwungen, einen erst vor sechs Jahren Brandmauerbeschluss Richtung Linkspartei infrage zu stellen, weil er nun bei der praktischen Machtausübung stört. Die marginalisierte SPD steht kurz davor, sich wieder mit Kommunisten einzulassen. Und die Russlandfreunde vom Wagenknecht-Bündnis schreiben in Rekordzeit Geschichte: Noch nie ist es einer planwirtschaftlichen, migrationsfeindlichen und mit allen Nato-Werten über Kreuz liegenden Partei in Deutschland gelungen, binnen weniger Monate Regierungsverantwortung zu übernehmen.

Doch wird die Union über dieses Stöckchen springen? Wird sie Richtung Bundestagswahl signalisieren, dass sie gar nicht oder nur formal am Unvereinbarkeitsbeschluss festhält, der ihr Koalitionen mit der früher als SED bekannten Linken verbietet? Und wird die Linke, seit Jahren schon mit festem Kurs ins gesellschaftliche Abseits, auch noch den kläglichen Rest ihrer Anhängerschaft riskieren, indem sie mit dem Klassenfeind paktiert?

Rot-rot-rot als Ausweg

Vielleicht muss es gar nicht sein. Die Chefin der Thüringer Linken hat in allerhöchster Verzweiflung eine neue Variante ins Spiel gebracht, die Thüringen zu einer Regierung verhelfen könnte, ohne dass irgendwer über Schatten springen, Grundsatzbeschlüsse verwerfen oder Brandmauern übersteigen muss. Ulrike Grosse-Röthig, Tochter einer ursprünglich liberalen Landtagsdynastie, präferiert anstelle eines ideologisch für alle Seiten schwierigen Zusammengehens von Linkspartei, SPD und BSW mit der  "stramm rechtskonservativen" (ND) CDU des zuletzt zusehends radikalisierten Friedrich Merz eine rot-rot-rote Minderheitsregierung. 

Die Kombination aus der vom Wähler abgestraften Linken, der nur knapp über die Fünf-Prozent-Hürde gekletterten SPD und der kremlnahen Wagenknecht-Truppe bekomme  "auch 36 Prozent", rechnet Grosse-Röthig vor. Eine sichere Minderheit, die mit 33 Sitzen im Landtag auch nur neun weniger hätte als die Vorgängerregierung, die sich vier Jahre ohne Mehrheit durchgeschlagen hatte.

Eine kleine Wiedervereinigung

Rot-Rot-Rot in Erfurt wäre eine kleine Wiedervereinigung, wie sie besorgte Bürgerinnen und Bürger aus dem Initiativkreis Wiedervereinigung der Linken (IWVL) angesichts der  Unvereinbarkeitsbeschlüsse der weit nach rechts gerutschten CDU (Taz) bereits als große Lösung vorgeschlagen hatten. Danach solle sich die für die Union als Partner nicht akzeptable Linkspartei dem unverbrauchten und mit keinem Tabu belegten Wagenknecht-Bündnis anschließen. Gemeinsam entstünde dann wieder eine politische Kraft am linken Rand, die auf Augenhöhe mit der als gesichert rechtsextremistisch eingestuften AGREAFD agieren könne.

Für die CDU, die in Erfurt als Wahlsieger auftritt, wäre es ein schwerer Schlag. Der Landesvorsitzende Mario Voigt sieht sich bereits als Ministerpräsident, in den zurückliegenden Monaten wurden Schattenkabinette gebildet und Postenvergabelisten erstellt. Dass nun eine Stimme zu einer Mehrheit fehlt, ist für den 47-jährigen Mann aus Jena tragisch. 

Minderheitsregierung mit sicherer Mehrheit

Noch tragischer aber wäre, wenn sich die als Tolerierungspartner eingeplanten linken Gegner einer bürgerlichen Politik zusammenschlössen, um gegen die stärkste und die zweitstärkste Partei zu regieren - mit dem Kalkül, dass jedem Gesetzesvorschlag im Thüringer Landtag jeweils eine der beiden rechtspopulistischen Parteien zustimmen müsste, um nicht eine neue deutschlandweite Diskussion über die Brandmauer heraufzubeschwören.

Bodo Ramelow, der so harsch abgewählte Ministerpräsident, hat die Vorlage aus seiner eigenen Partei mittlerweile dankbar aufgenommen. Der Wähler habe ein klares Zeichen gesetzt und einen deutlichen Regierungsauftrag vergeben - außer Rot-Rot-Rot sei gar keine andere Mehrheit zu bilden. 

"Der Ministerpräsident bleibt Bodo Ramelow", gab er einen Ausblick in den aktuellen Planungsstand in Erfurt, er regiere dann mit einer Koaltion aus Linkspartei, SPD und BSW. "Und die CDU toleriert das, damit sie ihren Beschluss einhält", weist der erfahrene Politikstratege einen Weg aus dem Dilemma: "Weil das sie uns toleriert, das ist nicht verboten, das haben sie fünf Jahre lang praktiziert."

Donnerstag, 5. September 2024

Naher Osten: Blinddarm voller Opferstolz

Ein Rechercheverbund hat die Besten in den Osten geschickt.

Alle vier Jahre wieder, dann aber richtig. Wie die Heuschrecken fallen sie ein, um nach einer passenden Wahrheit zu suchen. Wirklichkeitsschürfer und Enttäuschtenschüttler, ganze Brigaden an erfahrenen Enthüllern, flankiert von Fotografen, die es verstehen, Verharmlosern mit einem Schuss aus der Hüfte die Maske vom Gesicht zu reißen.  

Es waren Ostwahlen, und immer noch muss es sein. So wie sich die wagemutigsten Vertreter der großen, westlichen Medien ohne Rücksicht auf Verluste vor dem Wahltag unter die Mühseligen, Beladenen und Verführten in Gera, Suhl, Pirna und Bautzen mischten, so erfordert es die unklare Lage nun, dass die Feindbeobachtung fortgesetzt wird.

Gegen jeden guten Rat

Aus der großen Frage, werden sie es wagen, gegen jeden guten Rat aller, die es besser wissen, zu wählen, wie sie wollen, ist die geworden, wohin das nun alles führen soll. Unregierbar. Ein, zwei Bundesländer an der Kippe. Minderheitsregierung. Tricky Stimmüberlassungstricks aus dem Großen Handbuch der Diktaturvermeidung müssen helfen. Die Arbeitereinheitsfront, diesmal ohne Arbieter.,

Alles ist denkbar, überall schauen kritische Beobachter von ARD, ZDF, Spiegel, SZ und Zeit den Delinquenten auf die Finger. Kommt zu einem Sonnenberg hoch zehn? Weitet sich das Krisengebiet von Thüringen aus nach Osten aus. Wie Machtergreifung riecht 2024? Welche Vorschläge gibt es in den Denkfabriken der Demokratie zur Beilegung der Lage?

Die Rituale gleichen sich wie, sich die Abfolge der gegenseitigen Beschuldigungen gleicht. Schraps hat den Hut verloren! Merz hat ihn! Lang! Scholz! Höcke! Du! Bis einer heult.

Aufklärerrunden beim Blutabnehmen

Die Runden der Aufklärer in den Fernsehshows, glücklich und unverletzt zurückgekehrt von der Ostfront, wiegt die Köpfe. Es wird nach Ursachen gebohrt und Blut genommen, bis in die erste Reihe schwappen die fachgerecht gefilterten Wellen der Empörung über die locals in Sachsen und Thüringen, die sie benehmen, als gehöre das Land ihnen. 

Lust am Frust, die Rache der Enterbten, das tief empfundene Unglück, niemals Wessi werden zu können - die Auguren sind noch unschlüssig, woran es gelegen haben soll. Fest steht bisher nur: Die Politik der Regierung, eine Turbo-Fortsetzung der Politik der Vorgängerregierung, kann es nicht gewesen sein, denn die war gut, richtig und in jedem Moment zielführend.

Ursache ist der Osten

Die Wissenschaft nähert sich nur allmählich an. Die Mitarbeiter der Expeditionen, die direkt vor Ort waren, als die Demokratie zuschanden ging und die Kleinstädter und Dörfler die Macht übernahmen, sind aber schon sicher. Die Ursache des Ostens ist der Osten, die dort Zurückgebliebenen sind nicht Schonlängerhierlebende im Sinne der früheren Kanzlerin, sondern Integrationsverweigerer, die ihre regionale Überzahl ausspielen, um aus ganz Deutschland ein anderes Land zu machen. 

Zurückkehrende Reporter haben es in ihren Blöcken stehen und auf ihren Speicherkarten: Ausgerechnet dort, wo Menschen bis heute nicht in der Lage sind, sich selbst zu regieren, weil ihre eigenen, eingeborenen Kandidaten für Führungsaufgaben im Wettbewerb mit den zugezogenen Fachkräften vor jeder Besetzungscouch den Kürzeren ziehen, sind die Menschen unwillig, sich nichts vormachen zu lassen. 

Misstrauen in den Mittelmetropolen

Misstrauisch beäugen sie auch heute noch den Verwaltungsbeamten aus Münster, der ihnen die neue Rechtsordnung gebracht hat. Nicht richtig warm werden sie mit dem Siegburger Bürgermeister, der daheim noch im Grünflächenamt gearbeitet hatte, aber schon immer dazu berufen war, eine Mittelmetropole in Thüringen zu führen. Auch der Döner-Mann, der sogar Pizza kann und direkt neben dem schon 1999 geschlossenen Dorfkrug ein gut laufendes Lokal aufgebaut hat, wird den Verdacht nicht los, dass da irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugehen muss.

Eine Mischung aus Migrantenneid und der Sorte Opferstolz, der in den Bionadevierteln der Großstädte im Westen für grundloses Selbstbewusstsein aufgrund vom Schicksal zugewiesener Geburtsmerkmale sorgt, wabert durch den nahen Osten, den Blinddarm des wiedervereinigten Vaterlandes. Suhl, Pirna, Gera, Plauen, kein Mensch weiß, was diese Leute denken, selbst dann nicht, wenn sie es ausnahmsweise einmal sagen.

Knochenwurf und Vogelflug

Wie mit Knochenwurf und Vogelflug müssen ihre Ansichten und Ansichten gedeutet werden, bis dann wenigstens fest steht, dass CDU und AfD sowohl in Sachsen als auch in Thüringen mit einer gemeinsamen absoluten Mehrheit ausgestattet haben, weil sie wollen, dass die CDU mit der SPD und dem kommunistischen Wahlbündnis der früheren SED-Politikerin Sahra Wagenknecht regiert, unterstützt vom abgewählten Ministerpräsidenten, einem jahrelang vom Verfassungsschutz beobachteten Zuwanderer, der auch in anderer Angelegenheit schon den Schulterschluss mit dem Klassenfeind gesucht hat.

Der Wähler im Osten, das rätselhafte Wesen, er bekommt nun, was er verdient. Wie es auch wird, es wird gut sein. Und wie es am Ende auch beschlossen, verkündet und gemacht wird, wird es für Aufatmen sorgen und dafür, dass sich Experten, Reporter, Talkshow-Gastgeber und Kommentatoren wieder wichtigen Themen zuwenden können.

Kraft durch Schadenfreude: Auslaufmodellfeuerwerk

Ein Auto für Ewiggestrige, das sich seinerzeit noch gut verkaufte.


Wer den Schaden hat, muss für den Spott nicht selber sorgen. Katharina Dröge, die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, sprang gern ein: "Wir Grünen stehen an der Seite der vielen Arbeitnehmer*innen", versicherte die frühere Landesvorsitzende der Grünen Jugend, "die Automobilindustrie gehört zum Standort Deutschland. Wir wollen Jobs und Wertschöpfung hier in Deutschland halten". Dröge, die nach einem Volkswirtschaftsstudium drei Jahre als Referentin im Umweltministerium von Nordrhein-Westfalen arbeitete, ehe sie in den Bundestag einzog, will. Dagegen wird keine Wirklichkeit ankommen.

Überraschend für alle

Es kommt aber doch alles recht überraschend für alle. Erst die Dauerschleife mit Entlassungsankündigungen bei den Automobilzulieferern. Dann die Jammerlieder der Wärmepumpenlieferanten. Schließlich der Schlammassel bei Thyssen Krupp, der den früheren Arbeiterführer Sigmar Gabriel bewog, sich eilig vom Acker zu machen. Und nun die Krise bei Volkswagen, für den Wirtschaftsstandort Deutschland gleichbedeutend mit einem herausgezogenen Stecker. Zur Verdeutlichung. Die von Wahlkämpfern zuletzt gern bemühten supertollen Wachstumsraten der Wirtschaft im Osten verdanken sich einem einzigen Unternehmen. Es heißt Tesla und stellt Autos her.

Autos die, so hat die VW-Zentrale acht Wochen nach dem diesjährigen Dividendentermin festgestellt, niemand mehr haben will. Nicht die Volkswagen sind es, die Probleme machen. Sondern der europäische Automarkt, auf dem Mobilitätsvergäller und Verkehrswendeprediger zusammen mit der unwiderstehlichen Kraft der Inflation eine Situation geschaffen haben, die ohnegleichen ist. 

Gebt es den Reichen

Früh forderte Habeck billige E-Autos.
Die einen warten auf die nächste Elektroauto-Kaufprämie, mit der die Armen und Armutsgefährdeten sozialverträgliche Anschaffungspreise für Dienstwagen und Statusfahrzeuge der Überverdienenden herbeisubventionieren. Die anderen haben beschlossen, den vier Jahre alten Diesel nun einfach weiterzufahren, bis Robert Habeck kommt und ihn einzieht. Die übrigen schauen aufs Konto und können sich immer noch keine Neuwagen leisten. Und weil die, die mal einen hatten, ihn nicht mehr wie früher hergeben, sind die Gebrauchten nun auch so teuer, dass selbst dafür nicht reicht.

Die Klage geht nun dahin, dass Wolfsburg "die zündende Idee" fehle, der "VW-Konzern in einer tiefen Krise" stecke und ein drastisches Sparprogramm sowohl dringend nötig als auch nicht hinnehmbar sei. Schösse VW Werke, vielleicht sogar im Osten, wer soll denn dann noch demokratisch wählen? Wer würde noch an den Fachkräftemangel glauben, an dem die große Transformation immer wieder scheitert? Was macht das mit den Menschen, die mittlerweile nicht nur seit drei Jahren auf das versprochene Klimageld warten, sondern nun auch schon zwei auf den Wumms und das grüne Wirtschaftswunder, die sinkenden Strompreise und den Frieden, er einkehrt, wenn Russland "in Kürze" (Ursula von der Leyen, 17. April 2022) Bankrott anmelden muss?

Modellfeuerwerk für einen verschwundenen Markt

Jetzt werden Sie mal nicht polemisch! Der "Markt ist schlicht nicht mehr da", heißt es bei Volkswagen, wo der Vorstand sich entschlossen hat, auf Intel-Kurs zu gehen: Raussparen aus der akuten Bedrängnis auf Kosten der Angestellten. Zugleich aber "kräftig investieren", wie Markenchef Thomas Schäfer. Zur Zeit baut der Traditionskonzern mit Wurzeln in der Dunkelheit eine halbe Million Autos zu viel pro Jahr, sie werfen zu wenig ab und die wenigsten sind so elektrisch, wie das die EU-Vorschriften für die Zukunft verlangen. Nach dem geplanten Modellfeuerwerk wird der noch vor 15 Jahren wertvollste Konzern der Welt auferstehen und größer sein denn je.

Wenn sie ihn lassen. Doch danach sieht es nicht aus. Kaum waren die ersten Nachrichten vom Kahlschlag im Autoland bekanntgeworden, marschierten die Divisionen derer auf, die 500.000 unverkäufliche Autos im Jahr für ein Problem halten, die Herstellung von 500.000 Autos weniger aber für ein sehr viel größeres. Der Wirtschaftsminister steuerte mit der neuen Reichenprämie für Dienstwagen gegen, wirtschaftspolitisch eine Art Abschiebeflug nach Afghanistan. Doch er weiß auch: "Alle Beteiligten müssen ihrer Verantwortung für die Beschäftigten in den Standorten gerecht werden."

Habeck selbst hatte schon 2019 ein E-Auto für unter 20.000 Euro von VW am 2025 gefordert. Sonst, warnte  er, werde der Konzern Schwierigkeiten bekommen. Seitdem sind alle Kosten um etwa 15 bis 75 Prozent gestiegen, VW hat aber immer noch keinen Mini-E für den kleinen Geldbeutel im Programm.

Lob für den Wohlstandsmotor

Dabei hat die Bundesregierung alles getan, was sie konnte. Sie etwas der EU-Vorgabe zugestimmt, dass ab 2035 nur noch sogenannte "CO2-neutrale Fahrzeuge" neu zugelassen werden dürfen. Das schaffe Sicherheit für den "Entwicklungspfad der Mobilität der Zukunft", so Habeck, denn durch das Verbot von Autos mit Verbrennungsmotoren sei es der Autoindustrie als "Eckpfeiler des Industriestandorts Deutschland" (®©BWHF via Habeck) erst ermöglicht worden, "enorme  Transformationsanstrengungen" zu unternehmen. Er sei der Meinung, dass die deutschen Autobauer "in diesem Wettbewerb mithalten müssten", schließlich seien sie Arbeitgeber für zigtausende Beschäftigte, "Wohlstandsmotor" im Land und Innovationstreiber über Branchengrenzen hinweg. 

Gute Worte, die Trost spenden und zeigen, dass die Bundesregierung in ihren Gedanken bei den Betroffenen und ihren Familien ist. Auch der Kanzler kondolierte: Olaf Scholz ist die Bedeutung von VW als einem der größten Unternehmen der Autoindustrie und einer Firma, die schon Genossen aus so mancher Patsche gerettet habe, klar. Ohne großes Drumherumreden sicherte Scholz zu, dass er die weitere "Entwicklung ganz genau verfolgen" werde. Es sei allerdings Sache des Unternehmens, die Probleme zu lösen, die die Politik heraufbeschworen habe. Da mische sich die Bundesregierung nicht ein.

Kein Stahlgipfel mit Scholz

Bei Thyssen Krupp, ein Ex-Giganten, der in den zurückliegenden fünf Jahren 70 Prozent seines Firmenwertes verloren hat und heute samt seiner 56.000 Mitarbeiter für den Gegenwert eines Viertels der Intel-Förderung zu haben wäre, hat sich das bewährt. Der Bundeskanzler hielt sich raus, in die Falle, zu einem "Stahlgipfel" zu erscheinen, ging er nicht. Es gab auch kein Rettungspaket wie bei der Meyer-Werft, die mit Steuergeld gerettet werden musste, um Deutschland unabhängiger bei der Versorgung mit Kreuzfahrtschiffen zu machen.

Sein Fachminister bekundete Mitleid und Sorge und forderte "die Beteiligten dazu auf, die Firma zu stabilisieren". Seitdem ist Thyssen Krupp unterwegs, den am 15. August erreichten tiefsten Kurs aller Zeiten zu unterbieten. Es fehlen noch drei Cent.

Mittwoch, 4. September 2024

Sägen am absteigenden Ast: Zu links, um wahr zu sein

Das alles, und noch viel mehr: Allen alles versprechen, das niemand bezahlen muss, damit hatte die Linke lange Erfolg.

Verzweifelt, verloren, auf den letzten Metern hin zum großen Traum vom Sozialismus an Verrat und Brudermord gescheitert. Die Linkspartei, nach der SPD älteste aller noch aktiven politischen Formationen aus vergangenen Jahrhundert, erwartete am Sonntag das Urteil der Geschichte. Wie es ausfallen würde, war schon klar, nur die Strafe stand noch nicht fest.

Beobachter hielten es für möglich, dass der Organismus würde weiterleben dürfen, dann aber auch weiter ohne strategisches Hirn und ohne Kenntnis der Lebensumstände draußen. Es galt aber auch nicht als ausgeschlossen, dass es zum Letzten kommt. Noch ein Streit um Lenins Bart. Schuldzuweisungen. Kritik an den Vorsitzenden, die ohnehin keine Lust mehr auf Weltrevolution und nur noch wenig Zeit haben. Am Ende stände ein Streit um die versteckten Millionen, weitere Spaltungen in immer kleine kommunistische Atome.

Abgang im Osten

Der Untergang der Linkspartei, rechtlich betrachtet immer noch die SED, nur mit anderem Namen, hat eine Vorgeschichte, die bis in die Jahre der Finanzkrise reicht. Die Resttruppe der Mauerbauer, Menscheneinsperrer und Weltbeglücker hatte sich im neuen Deutschland etabliert als Seelenstreicheleinheit für alle, die sich zu kurz gekommen fühlten. Nach etlichen Namenswechseln stand die Linke für Betreuung, Sorgearbeit am Einzelnen und umfassende obrigkeitliche Bevormundung. 

Ein Erfolgsrezept, das Angela Merkel in ihrer zweiten Kanzlerschaft gnadenlos adaptierte: Die Christdemokratin aus Hamburg versprach nicht mehr Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten für jeden, sondern Engführung individueller Lebensentscheidungen, eingepackt in einen Mantel als Kampf gegen das Klima, gegen rechts und für umfassende Gerechtigkeit. Wo es hakte, half der Staat nun umgehend. Wo etwas fehlte, gab er Geld. Er stopfte Löcher wie Hausfrauen früher Socken. Er plante Ein- und Ausstiege, Transformationen, den "guten Übergang" (EU) und die Integration von Millionen.

Die verkleidete Betriebsgewerkschaft

Die Linke, ursprünglich ein marxistisch-leninistisches Projekt, verkleidet als gesellschaftliche Betriebsgewerkschaft, sah sich ihrer besten Angebote beraubt. Sie rückte langsam ins Abseits, in Milieus, denen das, was Merkel an fürsorglicher Betreuung offerierte, nicht genug war. Über mehrere Verpuppungen verwandelte sich die Linkspartei mangels originärer Inhalte auch öffentlich in das, was sie schon 1990 gewesen war: Eine Organisation zur Bewahrung des Organisationsvermögens, das benötigt wird, um die mit der Bewahrung des Organisationsvermögens betrauten Funktionäre zu unterhalten. 

In die Chefetage, anfangs besetzt mit alten gewitzten Juristen wie Gregor Gysi, alten Klassenkämpfern wie Bernd Riexinger und Mittelstandkindern wie Katja Kipping, zog eine neue Zeit ein. Früh indoktrinierte Frauen wie Susanne Hennig-Wellsow und familiär vorbelastete Männer wie Martin Schirdewan suchten nach den verlorenen revolutionären Massen, wo sich Klimakämpfer, Antifa, Degrowth-Prediger und Ostalgieschwärmer trafen. Sie bekamen von Wahl zu Wahl mehr zu verstehen, wie klein die Gruppe ist, auf die sie hoffen. Und doch ist es wie immer mit kommunistischen Parteien: Sie vertreten lieber Wunsch und Wille einer winzigen, ideologisch sauberen Gruppe, als sich für die Kümmernisse gewöhnlicher Menschen einzusetzen.

Die Säge am Ast

Am absteigenden Ast, auf dem die Linke saß, sägte die Konkurrenz von rechts und nach Wagenknechts Ausstieg auch noch die Konkurrenz von links, wo sich mit Linkspartei, SPD und Grünen ohnehin schon drei weltanschaulich nahezu identische Formationen um dieselbe Klientel balgen. Alle bieten wechselweise den höchsten Mindestlohn und die höchsten Steuern für die hart arbeitende Mitte, die schärfsten Vorschriften und die strengsten Regeln, die hygienischste Meinungsfreiheit und den größten Staatsapparat mit der weitreichendsten Planwirtschaft. Jeder versucht, die angeschlagene Ware in der Auslage so anzuordnen, dass jedermann mit gesteigertem Betreuungsbedürfnis sein Kreuz beim eigenen Pflegeheim macht.

Schlimm, dass es die Ostdeutschen sind, die jetzt den Schlusspunkt gesetzt haben. Zwischen Mecklenburg und Thüringen, wo die SED 40 Jahren lang für alles und alle sorgte, war auch nach dem Ende des Einparteienstaates die Homebase der Kommunisten, die sich nach einem verbalen Neustyling jetzt "demokratische Sozialisten" nannten. Wie KPD und SED früher jede Moskauer Volte nachturnten, turnte die Gysi-Truppe einem Zeitgeist hinterher, der Ostalgie und die Sehnsucht nach einer gerechten Welt, die Gleichheit aller, erzwungen von einem fürsorglichen Staat, und die Aussicht auf gleiche Renten wie in Regenburg zu einer süffigen Soße vermengte.

Sie mochten ihn

Die Menschen mochten das. Und den Gysi erst. Wie heute die Wagenknecht-Partei an ihrer Führerin hängt, hing die SED/PDS am kleinen Mann mit der großen Berliner Schnauze. Als er ging, ein Rückzug auf Raten mit allerlei gescheiterten Comebacks, blieb personell nur der Mangel übrig. Und Wagenknecht. Überall wurde das bemerkt, nur nicht im Karl-Liebknecht-Haus, wo sie lieber weiter an der Weltrevolution und der Klimarettung planten.

Klima für alle und Gerechtigkeit dazu! Je weniger das Volk folgte, desto freigiebiger wurden die Versprechen. Reichtum für alle. Alles für alle. Kostenloser Nahverkehr und Mieten wie in der DDR, aber in modernen Pent-Haus-Wohnungen mit Klima und Terrasse für die Cannabis-Kübel. Als es dann zu spät war, den Schaden zu reparieren, steckten sie die selbsternannte Seenotretterin Carola Rackete auch noch ins Kostüm ihrer Spitzenkandidatin zur EU-Wahl: Trotz ihrer kulturell aneignenden Dread locks sah die Frau aus Niedersachsen für die begriffsstutzige Traditionswählerschaft aus wie ein ausgestreckter Mittelfinger.

Die Linke hat ihre Leute hinter sich gelassen, ein bisschen angewidert. Sie alle waren zu rückständig, zu wenig progressiv, zu rechts und zu sehr auf Wohlstand, Bequemlichkeit und ein schönes Leben bedacht. Wer nicht alles, was er hat, in den Kampf gegen rechts, gegen die Klimakatastrophe und für offene Grenzen einsetzt, den will die identitäre Linke gar nicht haben. Sollen sie doch den "rechten Rattenfängern" (Walter Steinmeier) nachlaufen! Sollen sie doch ihr Recht reklamieren, auch als Mehrheit in der Gesellschaft Respekt zu verdienen und ihre kulturelle Identität bewahren zu dürfen. 

Humorvolle Mehrheitsverhältnisse

Die Linke, durch die vom Wähler humorvoll geschaffenen Mehrheitsverhältnisse in Thüringen noch als Steigbügelhalter einer schillernden Chamäleon-Koalition aus Konservativen, Rechtslinken und Sozialisten benötigt, hat sich aus dem großen Spiel verabschiedet. Ihren letzten Dienst an der gelenkten Demokratie könnte sie leisten, indem sie sich mit der Wagenknecht-Partei unter deren Dach wiedervereinigt. Statt trickreich Unvereinbarkeitsbeschlüsse zum umgehen, könnte die CDU dann erstmals einfach offiziell mit den Kommunisten koalieren.

Alarm im Raumschiff: Spieglein an der Wand

Immer ist irgendwo Zeitenwende, seit die Bundesworthülsenfabrik BWHF den Begriff als modisches Accessoire für den politischen Bedeutungskampf empfohlen hat.

Keine 72 Stunden vor Tag X wagte das frühere Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" sich noch mal mit einer extremen Zukunftsvorhersage vor. Die SPD sei "nicht zu beneiden", hieß es angesichts der desaströsen Umfragewerte der früheren Volkspartei in den beiden demokratisch prekären Ost-Ländern. "In beiden Ländern steht sie in den Umfragen bei sechs Prozent – für die Partei geht es um die Existenz", diagnostizierte eine Maria Fiedler hellsichtig. Und prognostizierte: "Ein schlechtes Ergebnis könnte auch Auswirkungen auf die Ampel im Bund haben."

Ganz weit vorn

Könnte. Wenn es nichts anderes dazwischenkommt. Kaum wussten sie im Willy-Brandt-Haus in den schicksalhaften Stunden vor dem Tag der Abrechnung noch, was sie mehr hoffen sollen. Dass ein Wahldebakel der elendiglichen Diskussion um Remigration, Flüchtlingsvergällung und den Umfang der notwendigen Drangsalierung gesellschaftlicher Randgruppen endlich beendet? Oder dass eine neuer, schwerer Schlag für das friedliche Zusammenleben das anstehende Scherbengericht über die Fortschrittskoalition, die neuerdings nur noch eine Übergangskoalition sein will, beendet? Und sich alle Blick nach Kiew, Kiel oder Kuala Lumpur richten.

VW, der halbe Staatskonzern, konnte bewegt werden, seine Rückbaupläne erst nach dem Wahltag zu verkünden. Trotzdem war schon überall Zeitenwende, sogar beim "Spiegel", der seit Monaten von einem Machtkampf erschüttert wird, aber nach außen unerschütterlich an der Seite der im politischen Berlin schon als "Untergangskoalition" verspotteten Ampel-Regierung steht. 

Als zentraler Teil des politisch-medialen Komplexes sieht sich das Hamburger Magazin seit der Ausrufung der Alternativlosigkeit aller Politik durch Angela Merkel nicht mehr Berichterstatter über "das, was ist" (Augstein). Sondern ganz im Sinne der Leninschen Vorgabe als kollektiver Propagandist, kollektiver Agitator und kollektiver Organisator. Was immer aus Berlin kam, es war fraglos richtig. Wer immer dagegen sprach, lag fraglos falsch.

Tagebuch der Zeitenwende

Der "Spiegel" führte das Tagebuch der "Zeitenwende" (®© BWHF) nicht wie ein Buchhalter sein Kassenbuch, sondern als engagierter Teilnehmer. Er applaudierte hier und jubelte dort, er konnte die Ablehnung einer Obergrenze für Zuwanderer genauso gut finden wie die Remigration mit zwei Jahresgehältern als Handgeld. Er löschte Bücher aus Bestenlisten und war strikt gegen Cancel Culture. Er entmenschte Menschen und nutzte passende Puzzleteile aus der Geschichte, um den Naziterror zu verharmlosen. Er machte Wahlkampf im Notstandsgebiet, ein Raumschiff, aus dem Woche für Woche quietschbunte Werbezettel für die AfD regneten. 

Das Spieglein an der Wand zeigte nicht mehr die Welt, sondern nur noch sich selbst. Die Innenansicht einer Filterblase, die sorgenschwer zwischen Bionadeviertel und Brandmauer hängt. Die Wirklichkeit hat sich von denen entfremdet, deren Beruf es einst gewesen war, diese Wirklichkeit zu beschreiben. Wo der Gemeinsinnfunk die Überlassung von mehr als acht Milliarden Euro im Jahr als Auftrag deutet, die Überlasser zu rühmen, zu lobpreisen und ihre Weisheit zu beklatschen, spürte die "Spiegel"-Mannschaft "das, was ist" immer zuallerletzt. Es ist schließlich einfacher, Dinge nicht zu wissen, die dem widersprechen, was man gern glauben möchte, als sie mühsam ins Weltbild einzubauen.

Keine Geräusche aus der Außenwelt

Selbst auf der Kommandobrücke, wo seit vielen Jahren schon kein Geräusch aus der Außenwelt mehr hindringt, fragte man sich schließlich besorgt, "warum es immer schwerer wird, die AfD abzuwehren".  Mit Claas Relotius ist der letzte Reporter schon lange gegangen, der unangenehme Wahrheiten von draußen mitbrachte, sie aber botschaftsdienlich zu verpacken wusste. Jetzt, wo sich alle vom Kanzler absetzen, klingelt auch in Hamburg der Wecker. Dass "ein schlechtes Ergebnis auch Auswirkungen auf die Ampel im Bund haben könnte", war auch nach innen prophezeit. 

Natürlich waren es die "sozialen Medien", die die Rechten groß gemacht haben, trotz der "größten Demonstrationen in unserem gemeinsamen Land", die "eben nicht 1989", sondern "im Januar, Februar und März vielleicht auch noch mitgezählt" (Annalena Baerbock) waren. Aber wo man doch so dagegen gehalten hat, fast wie damals bei Trump, warum hat es nicht genützt? Warum lesen die jungen Männer nicht, was für sie gedacht und geschrieben wird?

Festmeter Warnungen

Eine Studie zeigt: Der "Spiegel" ist immer noch das mit Abstand erfolgreichste Nachrichtenmagazin Deutschlands! Wie können sie die Festmeter Warnungen, die Schwarzmalereien vorm Untergang der Demokratie, das Zetern und Teufeln, die Titelbilder gegen den Osten, wie kann sich all das nicht einmal ein bisschen an der Urne auszahlen?

Es kommen harte Zeiten, bis der Bürger wieder bereit, dass es nicht an ihm ist, die Richtung vorzugeben, in die sich ein Land zu bewegen hat. Das ist Sache der Politik, die viel besser beurteilen kann, was zu tun ist. Beim "Spiegel"wissen sie das, aber inzwischen ahnen sie auch, dass noch viele dicke Bretter zu bohren sein werden, bis Oppositionsparteien begreifen, dass sie durch Kritik an der  Regierung Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden.

Dienstag, 3. September 2024

Rechtsruck im Bellevue: Radikalisierung von oben

Der Bundespräsident ist erster Mann im Staate, doch bei der Führung von Verschärfungsdiskussionen hält er sich normalerweise zurück. Steinmeier hingegen setzt sich jetzt an die Spitze der von Rechten befeuerten Migrationsbegrenzungdebatte. Abb: Kümram, Knete auf Gips

Das braune Donnern in Sachsen und Thüringen, es war im ganzen Land zu vernehmen. Ein Erdbeben in der Provinz, grollenden vor Schrecken. Unmittelbar nach Bekanntwerden der Wahlergebnisse zogen die ersten großen Konzerne Konsequenzen: VW, in beiden Ländern vertreten, kündigte einen umfangreichen Personalabbau an. Die Vereinigte Porphyrbrüche auf dem Rochlitzer Berge GmbH, die seit 1685 Marmor abbaut, schloss ihre Pforten. Der Chemnitzer Fußballverein kündigte seinem Trainer. 

Alles kam ins Wanken, vieles kam ins Rutschen. Vor allem die Demokratie, die durch den allgegenwärtigen Rechtsruck in eine prekäre Lage geriet, wie sie Beobachter zuletzt Anfang 1933 hatten beobachten können.  

Wandlungen im politischen Berlin

Ganz aus dem Blick geriet dabei eine Wandlung, die bereits in den Tagen zuvor im politischen Berlin vonstattengegangen war. Hier im kurz vor dem Beginn umfangreicher Modernisierungs- und Transformationsarbeiten nur noch provisorisch bewohnbaren Schloss Bellevue arbeitet und wirkt seit 2017 der frühere Sozialdemokrat Walter Steinmeier. Als Kanzleramtsminister des später in Ungnade gefallenen Gerhard Schröder verantwortete er Folterungen und extralegale Verbringungen. Als Kanzlerkandidat fuhr er 2009 ein Ergebnis ein, das damals als desaströs galt, heute aber den Regierungsanspruch der SPD nachdrücklich untermauern würde.

Später wurde Steinmeier erster gerichtlich bestätigter Verfassungsbrecher Bundespräsident, mehr als ein Ehrenamt, denn als erster Mann im Staate muss Steinmeier beinahe täglich Trauer, Wut und Scham formulieren, Beileid verteilen und die wachsenden Gefahren durch dies und das beklagen. Steinmeier, von Kritikern als Schneeeule der Arbeiterbewegung ausgeschmiert und mit dem Schimpfnamen "Teflonpfanne" belegt, blieb ein unbequemer Geist, der als Bundesmahner und höchster Warnbeamter stets zur Stelle war, um Zuspruch zu geben, sein trauerndes Herz vorzuzeigen, mit Tiervergleichen zu verblüffen, Aufklärung zu fordern und die unverantwortliche Laissez-faire-Haltung der Regierenden hart anzugehen.

Kritik an der Bundesregierung

Dass etwas sie geändert hat im Hause Steinmeier, war in den vergangenen Wochen und Monaten unverkennbar. Statt sich aus der aktuellen Politik herauszuhalten, wie es guter Brauch und Sitte ist für einen Bundespräsidenten, stellte Steinmeier die ohnehin schwer schwankende Ampel in den Senkel. Sie müsse "ihre Arbeit verbessern", tönte er und er klang dabei nach einem ganz normalen Thüringer Wutbürger nach einem Lehrgang in politischer Diplomatie. 

Der Satz "Anpacken statt Spekulieren und zurück an die Werkbank" stellte alle bisher schon erreichten Erfolge der Fortschrittskoalition rundheraus infrage: Kurz vor entscheidenden Landtagswahlen ausgesprochen, legt die Formulierung den Verdacht nahe, der Bundespräsident sei der Meinung, die da oben zankten und stritten nur, statt "endlich die Probleme der Bürger zu lösen", wie es Grünen-Chefin Ricarda Lang nach der Europawahl im Frühjahr versprochen hatte.

Das wahre Gesicht

Erst bei der Gedenkveranstaltung in Solingen aber zeigte der Bundespräsident sein wahres Gesicht. Nach der sogenannten "Messerattacke" (BWHF, DPA) auf dem "Fest für Vielfalt" war Steinmeier herbeigeeilt, um zu trösten, zu schlichten und zu gedenken. Doch nicht nur. Der 68-Jährige nutzte die Gelegenheit, um bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer des mutmaßlich islamistisch motivierten Anschlags eine Asylwende zu fordern: "Jede, wirklich jede Anstrengung" müsse unternommen werden, um den Zustrom zu verringern. Das Thema Zuwanderung müsse nunmehr begriffen werden als das Thema Begrenzung der Migration, Steinmeier klipp und klar: "Das muss Priorität haben in den nächsten Jahren".

Sechs Jahre nach den wegweisenden Beschlüssen zur Neuregelung der Einwanderung und eins nach der 6. großen Europäischen Einigung zur Migration, im Volksmund "EU-Flüchtlingsbremse", klingt Steinmeier wie die Linksrechte Sahra Wagenknecht und deren populistischer Konkurrent Björn Höcke. Fast erscheint seine Wandlung wie die des Hans-Georg Maaßen, der sich als Schläfer über Jahre bis ins Amt des obersten Verfassungsschützers hochdiente. Niemandem war je aufgefallen, dass der Mönchengladbacher sich "mitunter als antisemitisch, rechtsextremistisch und verschwörungstheoretisch" äußerte. Erst durch die offene Leugnung der Hetzjagden von Chemnitz enttarnte sich der wenig später durch Bundeskanzlerin Angela Merkel, SPD-Chefin Andrea Nahles und den in Bedrängnis geratenen Horst Seehofer in den Ruhestand versetzte Spitzenbeamte.

Rechte Positionen

Steinmeier, im Herzen immer noch Sozialdemokrat, übernimmt unkritisch rechte Positionen, mit denen etwa der CSU-Politiker Horst Seehofer Schiffbruch erlitt. Kaum mehr sind Steinmeiers Positionen von denen der rechtswidrigen Pegida-Bewegung zu unterscheiden, deren sogenanntes 19-Punkte-Pamphlet von 2015 sich heute liest wie ein Ausschnitt aus einer Präsidentenrede.

Gesellschaftlich aber scheint Walter Steinmeier einmal mehr den richtigen Riecher zu haben. An kruden Thesen des Bundespräsidenten wie der, dass "die Zahl derer, die ohne Anspruch auf diesen besonderen Schutz kommen", uns "nicht überfordern" dürfe, reibt sich kein Kommentator und keine empörte Antifa-Demo mahnt vor dem Präsidentenschloss zur Rückkehr zu humanistischen Positionen. 

Rechts blinken

Dass Steinmeier der Humanität eine Obergrenze verpassen will, die es erlaubt, Schutzsuchende abzuweisen, nur weil kein Platz mehr ist, ist nur ein Aspekt, der Schlimmes ahnen lässt. Der andere, viel erschreckendere ist der, dass der gesellschaftliche Aufschrei ausbleibt, obwohl der erste Mann im Staate offenbar vorhat, den Einzelfall eines Schutzsuchenden, der das Asylrecht "so furchtbar missbraucht hat" (Steinmeier), zu nutzen, um nicht nur die Regeln zur Begrenzung der Zuwanderung, "die es schon gibt" durchzusetzen, sondern auch auf offener Bühne begrüßt, dass es darüber hinaus welche gibt, "die gerade geschaffen werden".

Blinkt er nur rechts, um auf der linken Spur weiterfahren zu können? Oder ist in Walter Steinmeier wirklich etwas zerbrochen? Will der Bundespräsident nur beruhigend auf die wirken, die in diesen Tagen bereit scheinen, Deutschlands Zukunft durch ein komplettes Abwürgen des Zukunftsmodells Zuwanderung zu riskieren? Oder meint er ernst? Bis 2027 noch in Walter Steinmeier im Amt. Die Zivilgesellschaft sollte ihn im Auge behalten und rechtzeitig reagieren, wenn sich in seinen Äußerungen ein fatales Muster zeigt.