![]() |
Losverfahren eignen sich zu einer breiten Anwendung bei der Entscheidung über gesellschaftliche Fragen. |
Es war ein verwegener Plan, von Anfang an. Die Idee der Union, das Überangebot an Kandidaten für die Ableistung des wiedereingeführten Wehrdienstes per Los auf die Anzahl zu reduzieren, die die Bundeswehr verkraften kann, stieß sofort auf harten Widerstand in der SPD. Nicht Herkunft, aber auch nicht Losglück sollen aus Sicht der deutschen Sozialdemokratie darüber entscheiden, wer für sein Vaterland kämpfen und im schlimmsten Fall alles für Deutschland geben dürfen soll. Sondern wie früher Verwaltungsentscheidungen, getroffen auf der Basis undurchschaubarer Willkür.
Zu viel zu wenig Soldaten
Ohne Wehrpflicht verfügt die Bundeswehr über zu wenige Soldaten. Mit Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht wären es allerdings deutlich zu viele. Ein Problem, das der Osnabrücker Verfassungsrechtler Jörn Ipsen schon vor der Aussetzung der Wehrpflicht für so erheblich hielt, dass er die Wehrdienstpflicht verfassungswidrig nannte. Es werde nur ein geringer Prozentsatz der Angehörigen der zum Dienst an der Waffe verpflichteten jungen Männer eingezogen, weil die Bundeswehr die Zahl ihrer Rekruten von 128.400 im Jahr 2000 auf 60.000 im Jahr 2007 reduziert habe. Damit orientiere sie ihre Einberufungspraxis nicht mehr an der Geburtenstärke eines Jahrgangs, sondern nur noch an ihrem Bedarf.
Von den 440.000 wehrpflichtigen jungen Männern des Geburtsjahrgangs 1980 beispielsweise leisteten Ende noch rund ein Drittel Wehrdienst und ein Drittel Zivildienst. Das restliche Drittel dagegen blieb unbehelligt. Von den Männern des Jahrgangs 1983 hingegen leisteten nicht einmal mehr 40 Prozent Wehr- oder Zivildienst. Knapp zwei Drittel durften zu Hause bleiben, studieren oder eine berufliche Laufbahn bereits beginnen, während ihre Altersgenossen sich in Uniform über die Sturmbahn quälen mussten.
Der Dünne ist der Dumme
Wer es schaffte, sich bei der Musterung dick oder ungelenk oder krank vorzustellen, wurde als untauglich aussortiert. Weil die Unterbringungs- und Ausbildungsmöglichkeiten der Bundeswehr aber auch für übriggebliebenen Wehrtauglichen nicht ausreichten, wurde der Wehrdienst mehrfach verkürzt, die Anforderungen bei der Musterung wurden verschärft und weitere Kriterien hinzugefügt, die eine regelkonforme Befreiung vom Wehrdienst erlaubten.
Die Frage, ob die allgemeine Wehrpflicht gemäß § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 21 Wehrpflichtgesetz (WPflG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. September 2008 (BGBl I S. 1886) gegen den Grundsatz der Wehrgerechtigkeit verstößt, konnte das Bundesverfassungsgericht 2009 noch als unzulässig zurückweisen, weil die Entscheidungsvorlage des Verwaltungsgerichts Köln nicht "mit hinreichender Deutlichkeit erkennen" ließ, aus welchen Gründen die Kölner Richter im Fall eines am 10. Januar 1989 geborenen Klägers von der Unvereinbarkeit der Norm überzeugt waren. Eine Wiedervorlage erübrigte sich, denn 2011 wurde die Wehrpflicht ausgesetzt.
Von wegen Federstrich
Jetzt, wo sie zurückkehrt, ist aber unübersehbar, dass es nicht mit einem Federstrich getan sein wird, wie es ursprünglich bei der als "Aussetzung" bezeichneten Abschaffung gedacht war. Die Frage der Wehrgerechtigkeit stünde erneut, denn mehr noch als früher wäre die vermeintlich allgemeine Wehrpflicht eine Auswahlwehrpflicht. Allenfalls 80.000 der zur Verfügung stehenden 320.000 jungen Männer der infrage kommenden Jahrgänge könnte die Bundeswehr unterbringen, einkleiden, beköstigen und im Waffenhandwerk schulen. Die Mehrzahl der männlich gelesenen potenziellen Rekruten bliebe außen vor, zumal mittlerweile auch kein Zivildienst mehr als Alternative für überzeugte Pazifisten, Uniformverweigerer und Heimschläfer angeboten wird.
Der Widerstand der SPD gegen das Losverfahren, mit dem die Union die Entscheidung über die Wehrgerechtigkeit an einen Zufallsgenerator übertragen will, speist sich so allein aus der Hoffnung, dass weiterhin gutgehen wird, was früher auch lange gut ging.
Die große Los-Lösung
Dabei hätte die Los-Lösung das Zeug, beispielhaft als Schwert zu dienen, mit dem Deutschland eine ganze Reihe der gordischen Knoten lösen könnte, die das Land bis zur Bewegungsunfähigkeit fesseln: Von Rente bis Steuer, in der Sozialabgabenfrage, bei Wohnungsmieten und -neubau, in der Mobilität und selbst bei Wahlen bietet die Lostrommel eine unbestechliche und objektiv gerechte Alternative zu den tradierten Entscheidungsabläufen, die inzwischen selbst von EU-Chefin Ursula von der Leyen, Bundeskanzler Friedrich Merz, Vize Lars Klingbeil und der demokratischen Opposition kritisch gesehen werden.
Zu viele Partikularinteressen. Zu lange Aushandlungsprozesse. Zu faule lauwarme Kompromisse, die viel zu spät wirksam werden. 2013 etwa begann die damalige Bundesregierung, sich mit der Frage zu befassen, ob die Bundeswehr nicht bewaffnete Drohne benötige. 2016 fiel ein entsprechender Beschluss. 2018 stimmte der Bundestag der Anschaffung einiger Geräte als "Übergangslösung" zu. 2020 war alles in trockenen Tüchern, Ende 2024 wurde die fünf Flugkörper unter dem vom Lizenznehmer Airbus eigens kreierten Namen "German Heron TP" geliefert. Ein Jahrzehnt nach der grundlegenden Erkenntnis, dass "fünf Drohnen für einen umfassenden Schutz der Konvois und Feldlager der Bundeswehr nicht ausreichen", stehen diese fünf Drohnen nun zur Verfügung. Vorerst unbewaffnet.
Schneller per Losentscheid
Wie viel schneller hätte das gehen können, wenn von Anfang an ein Losverfahren zur Anwendung gekommen wäre. Schon 2012 hätte der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière nur würfeln müssen - Drohnen ja, Drohnen nein. Im zweiten Wurf hätte de Maiziere mit seinen Generalen die Anzahl der zu bestellenden Flugkörper ausgeknobelt. Fünf? Fünfzig? Fünfhundert? Anschließend wäre nur noch auszuwürfeln gewesen, ob der Heron-Hersteller Airbus Defence & Space Airborne Solutions oder der US-amerikanische Mitbewerber General Atomics den Zuschlag erhält.
Eine Gesellschaftsreform nach diesem Muster wäre zweifelsfrei in der lage, viel Hader, Streit und Zwist zu verhindern. Die Frage, ob die Krankekassenbeiträge im Jahr mehrerer entscheidender Landtagswahlen erhöht werden oder lieber noch einige Krankenhäuser in die Insovenz rutschen, müsste nicht mehr von einer Ministerin entschieden werden, weil ein Zufallsgenerator auf der Basis deutlich vertrauenswürdigerer Grundlagen entscheiden würde.
Vorbild Wetterakzeptanz
Nicht anders wäre die Lage bei den großen gesellschaftlichen Fragen Rente und Sozialversicherung. Ein Rentner-Roulette und eine Pflege-Tombola? Warum nicht. Unparteiisch ausgewürfelte Beitragserhöhungen hätten den Vorteil, dass sie ohne quälende Debatten davor und lautstarkes Wehklagen danach auskämen. Die wöchentlichen Ausspielungen von Wettbewerben wie 6 aus 49, Eurojackpot und Glücksspirale zeigen: Die Akzeptanz von Zufallsentscheidungen ist in Deutschland deutlich größer als die von Beschlüssen demokratisch gewählter Parlamente.
Wissenschaftler beim An-Institut für Angewandte Entropie in Frankfurt an der Oder haben in langwierigen Untersuchungsreihen nachgewiesen, dass die meisten Menschen eine nüchterne Haltung gegenüber Glücksfällen und Zufallstreffern an den Tag legen. Die Forschenden verweisen dabei auf die sogenannte "Wetterakzeptanz", die ein zentrales Motiv in der psychologischen Betrachtung von Zufällen verrate. Sind Menschen der Ansicht, dass sich bestimmte Ereignisse ihrer Einflussnahme entziehen, erlahme ihr natürliches Bedürfnis nach Kontrolle. Mental überwiege dann der Drang, einen als unausweichlich wahrgenommene Veränderung durch eine Anpassung der persönlichen Überlebensstrategie zu verarbeiten.
"Niemand, der es draußen vor dem Fenster regnen sieht, wenn er aus dem Haus muss, kommt auf die Idee, diesen Regen als grundsätzlich falsch zu betrachten oder ihn in Kategorien wie ,richtig' einzuordnen", erklärt der renommierte Entropologe und Demokratieforscher Hans Achtelbuscher. Der automatische Reflex der menschlichen Natur bestehe allenfalls in einer "akzeptierenden Klage", wie Achtelbuschers Untersuchungen ergeben haben. "Man meckert, zieht sich aber Gummistiefel an und nimmt halt einen Schirm mit, weil man aus Erfahrung weiß, dass sich an einem solchen Zufallsereignis ohnehin nichts ändern lässt."
Weites Handlungsfeld für die Politik
Eine Erkenntnis, die ein weites Handlungsfeld für die Politik öffnet. Parteien, Regierungen, die EU-Kommission und tausende von nachgeordnete Verwaltungen und Behörden müssen sich heute noch häufig für Weichenstellungen rechtfertigen, die sie bestens Wissens und Gewissens nach treffen. Obwohl bekannt ist, dass es "objektiv richtige Entscheidungen kaum geben" kann (Tagesspiegel), stehen Führungspersönlichkeiten häufig bereits unter Druck, wenn sie in der Sache richtig entscheiden, dem aber die Falschen zustimmen.
Ein Losverfahren, mit dem nicht nur junge Wehrdienstpflichtige ihr Los aus einer Trommel ziehen, sondern auch Wohnungssuchende ihre Unterkunft und Senioren ihre Rentenhöhe bestimmen können, wäre aus Sicht der Demokratieforschung in der Lage, die vielbeklagte gesellschaftliche Spaltung schnell zu überwinden. Hans Achtelbuscher und seine Kollegen verweisen auf erste Versuche, das Los-Prinzip noch weitergehender anzuwenden. Die Bürgerräte, die der Bundestag bereits mehrfach ausprobiert habe, hätten deutlich gezeigt, dass eine Handvoll zufällig ausgewählter Menschen in der Lage sei, schneller zu besser akzeptierten Problemlösungen zu kommen als der behäbige Parlamentsbetrieb.
Siegreiche Minderheit
Die Wissenschaftler führen das auf die sogenannte Machtlosigkeitserkenntnis zurück. Statt in der Illusion zu leben, dass Wahlen etwas ändern können, zwängen Losverfahren den Einzelnen, sich einzugestehen, dass alles vom Zufall abhänge. Im Tausch gegen die nach jedem Wahltag einsetzende Enttäuschung, dass nun wohl doch wieder nichts ändere und wenn, dann sicher das Falsche, seien Menschen allgemein vielfach bereit, Zufallsentscheidungen als gerechtere Variante hinzunehmen.
Hans Achtelbuscher verweist als Beispiel auf den jüngsten Klimaentscheid in Hamburg. Von den 1,3 Millionen Wahlberechtigten hätten nicht einmal die Hälfte mitabgestimmt, unter denen holte dann eine Minderheit von nur einem knappen Viertel die siegreiche Mehrheit. Ein solcher Ablauf verletze das Gerechtigkeitsempfinden vieler mehr als eine Entscheidung per Würfelwurf. "Bei dem akzeptiert jeder die Unvorhersehbarkeit des Ergebnisses und statt zu lamentieren ist jeder bereit, nach seinem eigenen Dafürhalten zu reagieren."
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Richtlinien für Lesermeinungen: Werte Nutzer, bitte beachten Sie bei ihren Einträgen stets die Maasregeln und die hier geltende Anettekette. Alle anderen Einträge werden nach den Vorgaben der aktuellen Meinungsfreiheitsschutzgesetze entschädigungslos gelöscht. Danke.