Donnerstag, 6. November 2025

Triage-Regeln: Klatsche aus Karlsruhe

Karlsruhe erklärt Triage-Regeln im Infektionsschutzgesetz für verfassungswidrig und nichtig. Jetzt können nur noch Klinikschließungen helfen.


Sie werden immer wieder ertappt, auf frischer Tat und nicht so frischer. Man hat sie im Auge, denn ihre Geschichte zeigt, dass sie die wahrscheinlich gefährlichsten Grundgesetzgefährder sind, die sich dauerhaft im Lande aufhalten. Die paar hundert Parlamentarier, Frauen und Männer, kaserniert in Berlin und über die Jahre immer wieder in neuer Konstellation mit der Führung der demokratischen Geschäfte beauftragt, sind Rückfalltäter. Keine andere Institution, keine Partei, keine Lobbygruppe oder Industrievereinigung ist so häufig beim Versuch erwischt worden, die Verfassung zu brechen.

Karlsruhe pfeift zurück 

Niemand anders musste häufiger vom Verfassungsgericht zurückgepfiffen werden, denn immer wieder schießt die gesetzgeberische Fantasie über die vom Grundgesetz erlaubten Grenzen hinaus. Mal war der Bundestag zu groß, mal ging die Speicherung von Telekommunikationsdaten ohne Anlass zu weit. Sogar der nun wirklich von jedem Verdacht der mutwilligen Kritik an der Macht und den Mächtigen gefeite "Spiegel" lamentierte zeitweise über den "programmierten Verfassungsbruch". Davon abgelassen hat der Bundestag allerdings nie. Wer auch immer regiert und eine ausreichend große Mehrheit hinter sich weiß, er versucht es wieder. 

Oft schien es sogar schon so gut wie geschafft. Seit zwei Jahren galten die neuen Bestimmungen des Infektionsschutzgesetz (IfSG), mit denen der Bundestag Ärztinnen und Ärzten hatte vorschreiben wollen, wen sie wann sterben lassen müssen, wenn es in einer nächsten Pandemie wieder an Intensivbetten mangelt. Bis zum Inkrafttreten des IfSG war das eine Entscheidung gewesen, die Mediziner nach bestem Wissen und Gewissen zu treffen hatten. 

Klage wegen Diskriminierung 

Für die sogenannte Triage gab es eine Vorgabe: Behandelt wird, wer die höheren Überlebensaussichten hat. Dagegen allerdings hatten Menschen geklagt, die sie schlechte Auswahlchancen ausrechneten, weil sie älter, kränker oder behindert waren. Die Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entschieden daraufhin mitten in der Pandemie, dass der Gesetzgeber Vorkehrungen zu treffen habe, "damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehenden intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt wird".

Die Ampel-Koalition machte sich ans Werk, den festgestellten Verfassungsbruch zu heilen. Mit dem Infektionsschutzgesetz bestimmte der damalige Gesundheitsminister Karl Lauterbach, inzwischen Weltraumkoordinator der Bundesregierung, dass nicht Ärzte über Leben und Tod zu befinden haben sollen, sondern er selbst. Sein § 5c IfSG zeichnete einen exakt vierecken Kreis: "Niemand darf bei einer ärztlichen Entscheidung über die Zuteilung aufgrund einer übertragbaren Krankheit nicht ausreichend vorhandener überlebenswichtiger intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten benachteiligt werden", heißt es da. Und ergänzend: "Eine Zuteilungsentscheidung darf nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patientinnen und Patienten getroffen werden."

Kriterien sollen (k)eine Rolle spielen

Ein Paradoxon, das Ärztinnen und Ärzte auferlegte, Kriterien wie "Behinderung, Grad der Gebrechlichkeit, Alter, ethnische Herkunft,  Religion oder Weltanschauung, Geschlecht oder sexuelle Orientierung" bei der Entscheidung über die Zuteilung knapper überlebenswichtiger intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten nicht zu berücksichtigen, wenn während einer Pandemie nicht genügend medizinische Ressourcen vorhanden sind. Sie aber beauftragte, "Komorbiditäten bei der Beurteilung der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit zu berücksichtigt, "soweit sie aufgrund ihrer Schwere oder Kombination die auf die aktuelle Krankheit bezogene kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern".

Ein echtes Ampel-Gesetz also von der Art, wie sie auch in Brüssel oder von der derzeitigen Bundesregierung am liebsten geschrieben werden. Es wird gewaschen, aber ohne Wasser. Es ist wird geregelt, aber in der Hoffnung, dass die Regel ins Leere läuft. Es wird verboten, aber nicht kontrolliert. 

Der unzuständige Gesetzgeber 

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die neuen Bestimmungen zur Triage dennoch für verfassungswidrig erklärt. Auf Klage von Medizinern, die dem Gesetzgeber einen Eingriff in ihre Berufsfreiheit vorgeworfen hatten, entschied Karlsruhe zugunsten der Kläger. Der Bund habe überhaupt keine Gesetzgebungskompetenz für die fraglichen Vorschriften, urteilte das Gericht (Az. 1 BvR 2284/23, 1 BvR 2285/23), das dem Bundestag damit ein weiteres Mal bescheinigte, seine Gesetzgebungskompetenzen überschritten zu haben.


Die Absicht war es, eine Regelungstiefe zu schaffen, die das medizinethische Dilemma löst, in einer Situation mit mangelnden Behandlungskapazitäten Entscheidungen darüber treffen zu müssen, müssen, welche Patientinnen und Patienten intensivmedizinisch behandelt werden können und wer seinem Schicksal überlassen werden muss. Die Unmöglichkeit, das aus dem Plenarsaal des Bundestages heraus zu bestimmen, liegt auf der Hand. Am Bett steht am Ende immer ein Arzt, der Leben rettet und damit  zugleich anderes Leben gefährdet.  

Der Trend zum Automatismus 

Doch überall geht der Trend zum Automatismus. Politik im dritten Jahrtausend möchte am liebsten alle Entscheidungsprozesse programmieren wie die eigene alljährliche Diätenerhöhung. Auch das Bundesverfassungsgericht war diesem Drang verfallen, als es nach der Corona-Pandemie anordnete, dass der Gesetzgeber Vorgaben erlassen müsse, um Diskriminierungen zu verhindern: Der Generalverdacht gegen alle Ärzte war damit geboren. Ohne "ausreichende bundesrechtliche Vorkehrungen" würden Ärztinnen und Ärzte, das war nun unausgesprochen amtlich, zweifellos "Menschen mit Behinderungen bei der Zuteilung knapper Ressourcen" benachteiligen.

Der Bund musste Kriterien festlegen. Er tat es, indem er bestimmte besonders schützenswerte Gruppen definierte, zu denen in der Gesamtschau alle Menschen zählen, die irgendwo auf der Erde leben. Niemand darf wegen irgendetwas benachteiligt werden – nicht wegen seines Alters, seiner Herkunft, der Behinderung, Haarfarbe oder Religion. Es zählt allein die Erfolgsaussicht der Behandlungschance. Die wiederum abhängig ist von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen wie dem allgemeinen Gesundheitszustand, dem Slter, dem Gewicht und Vorerkrankungen. 

Eingriff in die Berufsfreiheit

Mehrere Fachärztinnen und Fachärzte aus der Notfall- und Intensivmedizin legten Verfassungsbeschwerden ein. Sie rügten, die neuen Vorschriften griffen in unzulässiger Weise in ihre berufliche Entscheidungsfreiheit ein. Die gesetzlichen Vorgaben nähmen ihnen ihre Therapiefreiheit ein und verlangten, dass nicht aufgrund ärztlicher Verantwortung, sondern nach politisch gesetztem Recht entschieden werde. Das aber verbiete Artikel 12 Absatz 1 Grundgesetz, der die Freiheit der Berufsausübung garantiert. 

Das Bundesverfassungsgericht ist dieser Argumentation nun gefolgt. Die Richter, zuletzt selbst Medienstars, verpassten Karl Lauterbach und allen, die für das Gesetz gestimmt hatten, eine schallende Ohrfeige. Lauterbach selbst ist so betroffen, dass er die Klatsche bisher strikt ignoriert. Verständlich, denn das Erstaunliche am Urteil ist, dass das Gericht, das den Bund angewiesen hatte, die Frage der Triage diskriminierungsfrei zu regeln, jetzt feststellt, dass der Bund nicht berechtigt ist, die Triage gesetzlich zu regeln. 

Seine Macht aus Grundgesetz Artikel 74 Absatz 1 Nr. 19 erlaube ihm nur, "Maßnahmen gegen übertragbare Krankheiten" zu beschließen. Diese Bestimmung beziehe sich jedoch ausschließlich auf Maßnahmen, die auf die Eindämmung oder Vorbeugung von Infektionen selbst gerichtet sind – nicht auf die nachträgliche Bewältigung ihrer Folgen.  

Kein Beitrag zur Pandemiebekämpfung


Obwohl ursprünglich anders verkauft, seien die Triage-Regeln aber nun so ein Beitrag zur Pandemiebekämpfung gar nicht. Karlsruhe stellt fest: Sie regelten nicht das "Wie" der Krankheitsbekämpfung, sondern das "Wer" bei der Behandlung. Damit handele es sich um sogenanntes Pandemiefolgenrecht, das überhaupt nicht unter die Kompetenz der Infektionsbekämpfung falle. Lauterbach hat folglich ein Gesetz geschrieben, das an seiner Absicht vorbeizielt. Das damalige Ampel-Kabinett hat es nach Begutachtung durch das Justizministerium für gut und richtig befunden. Und der Bundestag hat es beschlossen, nach erneuter Prüfung durch den Wissenschaftlichen Dienst.

Länder sind zuständig

Der Spruch aus Karlsruhe lässt das als rätselhaft erscheinen. Nach Auffassung des Gerichts ist der Bund nie zuständig gewesen. Auch über den Umweg seiner Zuständigkeit für den Bereich der öffentlichen Fürsorge dürfe die Vorgabe der Verfassung, dem Bund für das Gesundheitswesen nur auf einzelne Sachbereiche beschränkte Gesetzgebungskompetenzen zuzuweisen, nicht unterlaufen werden. Zuständig seien allein die Bundesländer. 

Der Wunsch allein, bundeseinheitliche Regeln zu schaffen,  rechtfertige die Anmaßung einer Bundeskompetenz nicht. "Allokationsregelungen erfordern im Pandemiefall nicht notwendigerweise eine gesamtstaatliche Regelung", schreiben die Richter zur Frage, ob der Bund aus zwingender Notwendigkeit heraus habe handeln müssen. Nein, heißt es. Auch die "Selbstkoordinierung der Länder" sei in der Lage, tragfähige Entscheidungen zu finden.

Eingriff in die Berufsfreiheit

Der Umstand, dass der Bund zum Ampelzeiten ein Gesetz über seine Kompetenz hinaus gedehnt hat, ist aber nur ein Teil der Klatsche aus Karlsruhe. Neben der Nichtigkeit von § 5c IfSG wegen erwiesener Unzuständigkeit des Gesetzgebers stellte der Senat auch noch den beklagten Eingriff in die Berufsfreiheit der Ärztinnen und Ärzte fest. Artikel 12 Grundgesetz schütze deren freie Berufsausübung und Therapiewahl. Die von Rot, Grün und Gelb gewählte gesetzliche Vorschrift habe diese Selbstverantwortung eingeschränkt, indem sie verbindliche Kriterien für medizinische Entscheidungen vorgab, die im Kern ärztlicher Kompetenz lägen und damit nicht von oben oktruiert werden dürfen.

Die Blamage ist perfekt, denn das hat zur Folge, dass alle Absätze der Norm, die "in engem Zusammenhang mit der zentralen Zuteilungsregelung" stehen, hinfällig sind. Ohne diese "materiellen Kriterien der Priorisierung" fehlt es den weiteren Bestimmungen aber an einer Grundlage. Damit ist der gesamte § 5c IfSG außer Kraft gesetzt und die neue Bundesregierung darf sich nicht einmal an einem weiteren Versuch beteiligen, eine tragfähige gesetzliche Grundlage für Triage-Regeln aufzustellen.

Jetzt mahlen die Mühlen langsam 

Das werden nun die Länder tun müssen und angesichts der komplizierten Vorgaben wird keine von ihnen es eilig damit haben. Die Corona-Pandemie, die der Auslöser war für ein hektisches Herumdoktern an theoretischen Vorgaben in Triage-Situationen, in denen am Ende ohnehin ein Arzt oder eine Ärztin nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden wird, ist lange her. Die nächste Pandemie nicht in Sicht. Erst wenn in vier Jahren der Russe kommt, steht die Frage neu. Dann aber sind überall schon neue Landesregierungen im Amt oder absehbar kurz davor.

3 Kommentare:

  1. Das sieht aus jeder Blickrichtung komplett hirnverbrannt aus. So sind'se halt, unsere Verfassungsrichtenden.
    Man kriegt nicht mal die Namen der Beschwerdeführer raus, zumindest nicht auf der Seite des VerfG.

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  2. << Eine andere Theorie der Zerstörung Deutschlands ... >>
    Der gute Hadmut hat hier in seiner Auflistung etwas ausgeblendet, was in diesem Zusammenhang nicht ganz unerheblich sein dürfte - es reimt sich auf Duden.
    Zum seinem Artikel vorher: Das Wehegeheul salonbolschewistischer Lehrerlein, dieser Che Guevaras für Arme, bereitet mir inzwischen nichts als Behagen. Wel nicht hölen will, muss fühlen. Altes chinesisches Splichwolt.

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  3. Das ist doch für die Bundesländer ganz einfach und diskriminierungsfrei zu regeln. Wie bei der Wehrpflicht: Wenns um Leben und Tod geht, einfach würfeln.

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