Donnerstag, 4. Juli 2019

Häme, Hohn und Spott: Leitmedien ätzen gegen Rettungspaket

Traumpaar, Aufbruchssignal, geile Brüssler Doppelspitze, unbeschreiblich weiblich, runderneuert, jede Menge Charisma und strategische Skills - kaum hat sich der Nebel über den europäischen Hinterzimmerrunden gelichtet und weißer Rauch ist aus den Verhandlungsrunden gestiegen, hagelt es Hohn und Spott und Häme für EU-Regierungschefs, die unter 500 Millionen Europäern und zweieinhalb Spitzenkandidaten der großen Parteifamilien lange gesucht und dann zwei alte Bekannte für die Besetzung der beiden wichtigsten EU-Spitzenposten gefunden hatten. Erstaunlich: Auch angesehene und eigentlich auf die Verteidigung der EU unter allen Gefechtsbedingungen eingeschworene Blätter machen sich in Glossen und Kommentaren lustig über den Verrat am ehernen Spitzenkandidatenprinzip, der offenen Missachtung des europäischen Wählerwillens und einem Castingverfahren, das weniger demokratisch und transparent als potentatisch und höfisch wirkt.

Kommando zurück. Eben noch Auslaufmodell, wird Ursula zum Teil eines großen Rettungspaketes für die EU. Als Vertraute der Kanzlerin war die Niedersächsin aus altem bundesdeutschen Politadel durch die harte Schule der Kompetenzgewinnung im Amt gegangen: Diesministerin und Dasministerin, die sieben Kinder allein zu Haus und zum Schluss trotz des langen Opfergangs doch ausgebootet. Als Verteidigungsministerin wurde Ursula von der Leyen Chefin einer Armee, die sich längst selbst zerstört hatte. Ein bisschen Nachschminken beim Erbe und Millionen für Berater rausballern, dass es knallt wie früher auf dem Truppenübungsplatz, das war alles, was die Frau, die ihre Feinde erst „Zensursula“ und dann böswillig „Flintenuschi“ nannten, noch hinbekam. Die Sanierung eines uralten Segelschiffes dagegen schon nicht mehr.

Für die Kanzlerin war sie deshalb lange schon kein Thema mehr in der Nachfolge, wegen der vielen Skandale und des Millionenschadens, der unter ihrer Ägide angerichtet worden war, drohte von der Leyen in zwei Jahren sogar der Vorruhestand. Mit Anfang 60!  Sollte alles vergebens gewesen sein? Die Fälschungen? Die Single „Wohlauf in Gottes schöne Welt“? Die Jahre in Kalifornien? Die vielen Ämter und Preise, einschließlich des Big Brother Awards? Den sie zweimal bekam?


Nun ist Ursula von der Leyen wieder da, stärker denn je. Gemeinsam mit Emmanuel Macron fädelte Angela Merkel einen Deal ein, der viele Probleme löst: Eine Deutsche bekommt den Führungsposten der Eu, die aber stammt aus Belgien und spricht französisch. Der Präsident verhindert den imhm unangenehmen Manfred Weber, einen Niederbayern, der seit 15 Jahren im EU-Parlament sitzt, ohne in dieser Zeit irgendjemandem groß aufgefallen zu sein.

Der CSU-Mann, im Krieg der Schwesterparteien um die Korrektur der Flüchtlingspolitik nach einer Kaupelei zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer zum "Spitzenkandidaten" der in der "Europäischen Volkspartei" gekürt, den die europäischen Partnerparteien dann abnickten, weil Merkel im Gegenzug zugestand, dass ein Franzose und nicht der Deutsche Jens Weidmann nächster Chef der Europäischen Zentralbank werden darf, war nie ernsthaft in Gefahr, seinen Traumposten zu bekommen. Er war Verhandlungsmasse für die, die den Wahlkampf gern wie einen aussehen lassen wollten, obwohl er nie einer war.
 
Wie gewohnt wurden alle Weichen später und unabhängig vom Votum der Wähler in den normalen Hinterzimmertreffen gestellt. Die Konservativen, die Sozialisten und die Liberalen mauschelten wie ehemals, als Sigmar Gabriel, der Österreicher Faymann, der französischen Präsidente François Hollande, der Italiener Matteo Renzi, der belgische Premierminister Elio Di Rupo und der gescheiterte Spitzenkandidat Schulz eine Lösung für das Dilemma fanden, dass Schulz sich trotz Niederlage für den Sieger hielt, sein "Freund" (Schulz) Juncker aber trotzdem nicht zu seinen Gunsten verzichten wollte.
 
Die Gesamtstrategie der europäischen Spitzen ist und bleibt die Kaupelei in Brüssel und Berlin und Paris, dem es weniger auf Personen ankam, aber mehr auf Lockerungen des Sparkurses, die "mehr Zeit" genannt werden.

Dabei ist es geblieben. Auch Lagarde und von der Leyen kommen zu ihren Ämtern wie der Hund zum Fohlen. Es werden Wunschlisten erstellt, Grenzen ausgelotet und Verabredungen getroffen, von denen niemand etwas wissen darf. Die vor der EU-Wahl wie eine Monstranz vorgezeigte "europäische Demokratie" hat vorerst Pause, das vermeintlich so bedeutsame EU-Parlament darf behutsam schweigen. Denn nun verhandeln doch wieder die Staats- und Regierungschef über eine Verteilung der Brüsseler Spitzenposten, bei der es jedem einzelnen Mitgliedsstaat darum geht, sich möglich viel direkten Einfluss auf die EU-Politik zu sichern. Wenn ich deine Frau akzeptiere, stimmst du dann für meinen Mann?

Den Wahlversprechungen zufolge hätte der deutsche christsoziale "Spitzenkandidat" Manfred Weber des Volkes Ruf zufolge wie automatisch Nachfolger des scheidenden EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker werden müssen. Doch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron möchte dort keinen Deutschen, so wenig wie Bundeskanzlerin Angela Merkel dort einen Franzosen haben mag. Die Nordstaaten sähen auf dem parallel zu besetzenden Posten des EZB-Chefs zudem gern einen strengen Sparfuchs aus ihren Reihen. Während die Schuldenmächte des Südens jemanden wie den derzeitigen Helikoptergeldbomber Mario Draghi bevorzugen würden.

Wer dabei gewinnt, ist klar. Die EU bleibt die ultimative Trutzburg von Intransparenz und Illegitimität, die sich im Zweifel stets entscheidet, Versprechen zu brechen. So laut der Ruf vor der Wahl ertönte,  dass nun Zeit sei, den bürokratischen Machtmechanismus durchzudemokratisieren, so schnell ist das Vorhaben vergessen, geht es nach dem Urnengang daran, die Machtbalance zwischen den EU-Staaten, den Parteien, den Interessengruppen und Kulturen neu auszubalancieren. Der Chefposten bei der EU-Kommission kann nur deutsch werden, wenn Emmanuel Macron Zugriff auf den Präsidentensessel der Europäischen Zentralbank bekommt. Das aber werden die anderen 26 Mitgliedstaaten nur mitmachen, wenn die beiden Führungsnationen ausreichend vielen von ihnen ausreichend lukrative Nebenposten anbieten.

In der "Zeit" versucht es Matthias Krupa mit Sarkasmus. Die neue Doppelspitze auf den Chefsesseln von EU-Kommission und EZB mit Ursula von der Leyen und Christine Lagarde stehe für "Aufbruch" schreibt er gallig. Europa könne nach der "Sensation" (Krupa) nun "weiblicher und globaler werden", denn der "Vorschlag" der Staats- und Parteichefs für das künftige Spitzenpersonal setze "ein spektakuläres Ausrufezeichen": Zwei Frauen Anfang 60 in den beiden mächtigsten Ämtern in der EU, die eine Deutsche und die andere Französin, beide aber bekannt für ihren fluffigen Umgang mit Millionen. Von der Leyens Rekord bei der Vergabe von Millionenaufträgen an externe Berater steht derzeit bei um die 300 Millionen. Lagarde allerdings schaffte einst allein im Fall Tapie mehr als 400 Millionen - genug für eine Verurteilung wegen des fahrlässigen Umgangs mit öffentlichen Geldern, zu wenig für eine Strafe, deshalb verhängte das Gericht auch keine.

Für die "Welt" Grund genug, sich als Postillon zu versuchen. Nach der Ernennung von Ursula von der Leyen, der das EU-Parlament nur noch zustimmen muss, was nach Überzeugung aller Beobachter nur eine reine Formsache ist, sei eine "Fluchtwelle nach Großbritannien" losgebrochen, höhnt das Blatt. Millionen von EU-Bürgern verlangten derzeit Asyl in Großbritannien und weigerten sich, in die Europäische Union zurückzukehren, spottet die Zeitung über Merkels "unbeliebteste Ministerin" (Der Spiegel), die am "Tiefpunkt ihrer Karriere" (Die Zeit) nach Brüssel gehe.

Offenbar mit einer nationalistischen Mission, denn wie die "Zeit" ätzt stehe die EU jetzt vor der Gefahr "deutscher" zu werden. Die EZB wird dafür französischer - Lagarde, die sich als IWF-Chefin noch geweigert hatte, Griechenland immer weiter mitzuretten und den damaligen deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble so zu einer zwei Jahre andauernden Lügenarie zwang, vertritt "eine politische Mitte, die in vielen europäischen Ländern gerade mächtig unter Druck steht", schreibt die "Zeit". Was umso mehr verwundert, als dass gerade die glückliche Wendung im Streit um die Besetzung der EU-Spitzenposten zeigt, wie vital und geradezu quecksilberig basisdemokratisch die Wertegemeinschaft ihre Angelegenheiten zu regeln weiß, verglichen mit China, Weißrussland, Aserbaidshan und dem Weltfußballverband Fifa.

Nein, "von der Leyen ist kein fauler Kompromiss" (n-tv), den "so funktioniert Europa eben" (n-tv). Gewählt ist nicht, wer gewählt wird, sondern auf wen man sich im kleinen Kreis einigen kann. Dass die beiden nun Auserkorenen Frauen sind, ist reiner Zufall, lässt sich aber gut als Errungenschaft verkaufen. "Es ist es ein Aufbruch", jubiliert Matthias Krupa, der seinen Hanns Dieter Hüsch („Ich möcht' ein Clown sein“) im Schlaf repetieren kann. Die große Hoffnung des großen Ironikers: Europa, das heute so wenig europäisch ist wie noch nie in den vergangenen 30 Jahren, werden nun "globaler werden". Global von Globe wie Kugel, eine runde Sache mithin.

Dass Kleingeister und Ewiggestrige "vorhersehbare Klagen" (Krupa) anstimmen, vermag die tolle Stimmung nicht zu trüben. Dass bisschen Postengeschacher, dass bisschen Hinterzimmer, die Prise Gekungel und die Wählerverachtung der Elefantenrunden bloß weil "weil keiner der Spitzenkandidaten, die bei der Europawahl angetreten waren, nun bei der Wahl zum Kommissionspräsidenten zum Zuge kommt"? Wer wird denn gleich rechtspopulistisch, linksabweichlerisch oder gar wie ein Sozialdemokrat nörgeln! In Wirklichkeit "waren die Beratungen des Europäischen Rates selten so transparent wie in den vergangenen Tagen", schreibt Krupa.

Auch wenn heute schon niemand, nicht einmal Angela Merkel, mehr genau sagen kann, wer eigentlich und warum den Namen Ursula von der Leyen ins Gespräch gebracht hat, besteht doch das Wesen der europäischen Politik in seinem Wesen im Wesentlichen aus der historisch in der Menschheitsgeschichte erstmalig gegebenen Möglichkeit, europäische Lösungen für Probleme zu finden, die es ohne die EU womöglich gar nicht gäbe.

Dass dabei Interessen aufeinanderprallen und nie alle gewinnen können, damit alle sich als Gewinner fühlen dürfen, ist ein Benefit, auf das 500 Millionen Europäer stolz sein dürfen. Wo sonst in einer Staatengemeinschaft irgendwo auf der Welt haben Europaabgeordneten überhaupt das letzte Wort, um über die künftige Kommissionspräsidentin abzustimmen? Wo sonst im Planetensystem können sie Ursula von der Leyen unvoreingenommen prüfen, ihre politischen Positionen und ihre Leistungen als Ministerin? Und sie dann als erste Frau in ihr Amt wählen? So demokratisch, schreibt Matthias Krupa, "geht es zu in der EU". Und nur dort.



1 Kommentar:

  1. Nur mal so aus reiner Neugier. Ist eigentlich schon mal jemand zur EU gewechselt der
    karrieretechnisch noch anderweitige Optionen gehabt hätte. Was sagt das über eine Organisation aus, wenn bei absolut jeder neuen Besetzung eines Postens immer nur die Resterampe zum Zug kommt. Man traut sich nicht zu fragen.

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