Mittwoch, 3. September 2025

Tethered Tüten: Verdrängte Folienverbrechen

Verbundstofftüten mit Klarsichtfenster sorgen für Transparenz, sie umgibt allerdings aufgrund mangelnder EU-Richtlinien ein großes Entsorgungsgeheimnis.

Sie sind überall, in jeder deutschen Bäckerei, in jedem Supermarkt, nicht nur in der hippen Großstadt-Hood, sondern auch in den letzten betulichen Dorfkonditoreien. Eine Errungenschaft, sagen die einen. Eine Plage nennen sie die anderen. Ihr Ursprung liegt im Dunkeln, ihr Nutzen ist begrenzt, ihr Siegeszug aber unübersehbar: Brötchen- und Brottüten mit Sichtfenster sind ein selbstverständlicher Teil des Alltages einer Gesellschaft geworden, in der die Angst vor Mikroplastik sich ein enges Rennen mit der Angst vor plastinisierten Ozeanen liefert. Was ist noch bedrohlicher? Woran wird die Menschheit zuerst untergehen?

Bedrohliche Brötchentüten 

Die Brötchentüte kommt in der Diskussion eher weniger oft vor. Sie, in den alten Zeiten der allgegenwärtigen kleinen Bäckereien eine einfache Papiertüte gewesen waren, sind heute Hightech-Produkte aus Verbundmaterial. Als die alten Meister der Familienbackstuben beschlossen, ihr Recht auf einen ausgedehnten Habeck-Urlaub zu nehmen, bis die Zeiten wieder besser werden ist, nahmen sie Anlauf zur Eroberung der Brot- und Brötchenwelt. 

Ein scheinbar harmloses Stück Papier mit einem Hauch Plastik, das engagierte und um Klimaschutz bemühte Verbrauchende heute Tag für Tag in ein existenzielles moralisches Dilemma stürzt. Wohin damit? Papiermüll? Gelber Sack? Restmüll? Oder gar die Biotonne, weil es drinnen noch nach Brot riecht? 

Eine Gewissensfrage, um die bis in die höchsten europäischen Regelkreise gestritten wird. Dort, wo Experten, Beamte, die Wissenschaft, die EU-Kommissare und die Volksvertreter in Straßburg gemeinsam mit den Regierungschefs der 27 Mitgliedsstaaten nach einer langen Schwangerschaft die Einwegkunststoffrichtlinie der Europäischen Union zur Welt brachten, ist das Problem bisher unbeachtet geblieben. Auch deutsche Regierungen, die die Vorgaben aus Brüssel mit der  Einwegkunststoffkennzeichnungsverordnung (EWKKennzV) in geltendes Recht übersetzt haben, drückten sich um eine klare Aussage zur Brötchentüte.

Die Wissenschaft streitet 

Ist die Auslegung richtig, dass Brötchentüten eine Einwegverpackung sind, bei der die transparente Plastikfläche dem Deckel einer Einwegflasche entspricht? Oder mangelt es an einer dafür notwendigen Verschlussfunktion, um das Sichtfenster als "Cap" im Sinne der "Tethered Caps"-Regeln definieren zu können? Die Wissenschaft ist uneins, zwischen Ökoengagierten und Plastikschützern entbrennen im Internet leidenschaftliche Diskussionen. Die Verunsicherung sitzt auf allen Seiten tief und die Politik schweigt, wenn Bürgerinnen und Bürger verzweifelt Bilder ihrer Tüten posten, verbunden mit der Frage: "Papier? Plastik? Restmüll? Hilfe!"

Niemand will schuld sein am Untergang der Erde, niemand möchte sich nur aus Unkenntnis der aktuell geltenden Gepflogenheiten falsch verhalten. Aber die Bauart einer Brötchentüte lässt viele Entsorgungsarten als möglich und richtig erscheinen. Da ist das Papier, der dominierende Werkstoff. Und da ist der Plastikteil, der anklagend in der Papiermülltonne glänzt als wolle er sagen: Hier gehöre ich sicher nicht hin. 

Einfach zur Schere greifen 

Gehört also alles in den Restmüll? Obwohl es sich sowohl beim Brötchentütenpapier als auch beim Brötchentütenplastik um recyclebare Werkstoffe handelt? Oder muss der Bürger, der nicht gegen Gesetze verstoßen will, zur Schere greifen und Plastik und Papier säuberlich trennen, um sie getrennt entsorgen zu können?

In Deutschland ist alles geregelt, bis hin zur Vorschrift, dass Altglas in den Altglascontainer gehört, aber nur, wenn es sich um Verpackungsglas handelt, nicht, wenn es alte Bier- oder Schnapsgläser sind. Die Entsorgungsfrage bei Brötchentüten aber hat der Gesetzgeber nicht beantwortet. Verbände und Vereine haben sich im Nachhinein an einer Deutung versucht - "Brötchentüten – egal ob mit oder ohne Folie – gehören ins Altpapier", hat etwa die Verbraucherzentrale dekretiert. 

Forscher der Freien Universität in Berlin aber wecken Zweifel: "Vorbildlich wäre es natürlich, das Sichtfenster der Bäckertüte abzutrennen und gesondert in der Gelben Tonne zu entsorgen". Und wenn die Tüte fettig ist? Gehört sie vielleicht in den Restmüll? 

Tüten zur Reinhaltung der Meere 

Die Brötchentüte ist ein weitgehend aus der öffentlichen Diskussion verdrängtes Folienverbrechen. Mit den umfassenden neuen EU-Vorschriften zur Reinhaltung der Meere kollidieren zudem zwei Schutzrechte. Einerseits wäre es vorbildlich, Sichtfenster und Papiertütenteil zu trennen. Andererseits bestimmt die Tethered-Caps-Regel aus Direktive 2019/904, dass nur noch Einwegverpackungen mit angebundenen Verschlüssen genutzt werden dürfen - unter diese strenge Vorgabe fällt auch die Brötchentüte. 

Sie ist nach den EU-Richtlinien ein "Papiermantel", wie ihn die EU-Vorschriften nennen, der ins Altpapier gehört, tethered mit einem Folienteil, der einerseits konstruktiv fest verbunden ist, andererseits im Sinne der Gesunderhaltung des Planeten aber besser abzutrennen wäre.

Der technische Fortschritt hat die Bürokratie überholt. Trotz aller Bemühungen in Brüssel, mit der Regulierung der Zukunft schneller zu sein als diese Gegenwart wird, hinkt die gesetzgeberische Praxis bei Brötchentüten der Realität dramatisch hinterher. Der Nabu, ein Umweltschutzverband, der durch zahlreiche Klagen gegen Verkehrs- und Wirtschaftsprojekte bekanntgeworden ist, spricht von "Tüten mit Sichtfenstern aus PLA, das biologisch abbaubar ist". 

Papiertonne oder Gelber Sack 

Solche Tüten gehörten weder in Papiertonne noch in den Gelben Sack, sondern in die Biotonne. Andere Tüten aus Verbundmaterialien setzen auf eine Kombination aus recyclebarem Plastik und kunststoffbeschichtetem Papier - beides sei dann ein Fall für die Plastiktonne. Jedoch nicht, warnt der Nabu, wenn "die Folie fest mit dem Papier verklebt  oder die Tüte verschmutzt ist". Es gelte die SPAI-Regel: Sauberes Papier ins Altpapier!

Wer nach einem Sichttest unsicher ist, ob sie aus unterschiedlichen Materialien bestehen, sollte das Material langsam einreißen. Dann zeigt sich, ob noch eine Kunststoffschicht auf dem Papier ist. Mit Kunststoff ist die gelbe Tonne die richtige Auffangstation, ansonsten sollte die papierene Umhüllung in die Papiertonne. Mit einem Materialtest, entsprechende Testkits werden im Internet angeboten, lässt sich der Kunststoffanteil an einer Brötchentüte ermitteln. Liegt er bei über 51 Prozent, wandert sie in den Gelben Sack, allerdings nur, so der Nabu, "sofern es eine Verkaufsverpackung ist". 

Gezielt geschürte Verwirrung 

Die gezielt geschürte Verwirrung hat einen durchaus beabsichtigten psychologischen Effekt. Verbraucher, die sich ohnehin schon von der Mülltrennung überfordert fühlen, bemühen sich, richtig zu handeln, tragen aber dennoch beständig an der Last eines Schuldgefühls, alles falsch zu machen. Die Frage "Ist das jetzt recycelbar und wie?", treibt Millionen um, nächtelang debattieren Freunde und Familien über die besten Methoden, Cellophan zu erkennen und von PVC zu unterscheiden. 

Bei den  Brötchentüten-Herstellern, die als die eigentlichen Verursacher der Probleme in der Verantwortung wären, eine Lösung zu finden, herrscht Schweigen. Allenfalls versehen einige Produzenten ihre Tüten mit kryptischen Symbole, die eher an ägyptische Hieroglyphen erinnern als an klare Recyclinghinweise. Andere haben reagiert und sie bieten wieder Tüten ohne Sichtfenster an – doch die sind bei den Transparenz gewohnten Kunden unbeliebt. "Ich will doch sehen, ob ich Kaiserbrötchen oder Mohnbrötchen gekauft habe!", klagen die einen, "wenn jeder aufmacht, um reinzugucken, wird es eklig", beschweren sich andere. 

Keine einheitliche europäische Regelung 

Es ist hohe Zeit, dass Brüssel handelt, zumal bis zu einer einheitlichen europäischen Regelung der Brötchentütenfrage aller Erfahrung nach ein gutes Jahrzehnt vergehen wird. Bis dahin bleibt Verbrauchern im Recycling-Lotteriespiel nur Eigenengagement: Der NABU empfiehlt, Tüten ganz zu meiden und einen traditionellen Stoffbeutel in die Bäckerei mitzubringen. Deren Ökobilanz ist einer Analyse des Umweltbundesamtes zufolge zwar erschütternd. "Der Stoffbeutel braucht bei der Produktion am meisten Ressourcen und hat die höchsten Umweltbelastungen",  konnten die Experten dort ermitteln. 

Doch das gute Gefühl, das Richtige getan zu haben, ist auch ein Schritt in Richtung Nachhaltigkeit sein, wie viel Aufwand aufgrund fehlender Tiefenregulierung hier auch privat betrieben werden muss. Am Ende ist es der verantwortlich handelnde aufgeklärte Verbraucher vor seiner Mülltonne, Verbundstofftüte in der Hand, der eigenständig entscheidet, nachdem er sich selbst befragt hat: "Was würde meine EU jetzt von mir wollen?"

Keine Kinder als Chance: Durch Geburtenknick zur Klimarettung

Die Politik preist seit Jahren den Vorteil hoher Geburtenraten. Dabei bietet das Schrumpfen für das Klima viel bessere Chancen. 

In der EU sinken die Geburtenraten der meisten Mitgliedsstaaten seit Jahren. Das stellt die Gemeinschaft vermeintlich vor große Herausforderungen. Vom langsamen Aussterben ist die Rede und von der Notwenigkeit, die fehlende eigene Bevölkerung durch verstärkte Zuwanderung zu ersetzen. Die Potenziale, die im Schrumpfen stecken, werden hingegen häufig negiert, ignoriert und in der öffentlichen Debatte vollkommen totgeschwiegen. Aussterben hat einen  negativen Beigeschmack, Politiker sprechen gern von einer "demografischen Katastrophe", statt den demografischen Wandel als Chance zu sehen.

Eine positive Triebkraft 

Experten fordern jetzt aber eine strategische Debatte, um die Folgen des Bevölkerungsrückgangs zu gestalten und als positive Triebkraft zu nutzen. Satt auf Staaten wie Frankreich und Bulgarien zu schauen, zwei der wenigen EU-Länder, in denen im Jahr 2023 mehr Babys auf die Welt kamen als im Jahr zuvor, gelte es, einen eigenen weg zu gehen. "Nicht mehr fragen, was macht Bulgarien richtig?", empfiehlt der Migrations- und Klimafroscher Herbert Haase. Sondern darüber nachdenken, woran es in Deutschland noch fehlt, um das allmähliche Aussterben als naturgegebenes Schicksal zu akzeptieren, das der gesamten Menschheit einen Dienst erweist.

Herbert Haase widerspricht damit den üblichen politischen Parolen, mit denen jeder Hinweis auf einen "Trend zu steigenden Geburten" (Ursula von der Leyen) gefeiert, Zahlen zu sinkenden Geburtenraten aber als Desaster dargestellt würden. "Unsere Erwartungshaltung bringt uns dazu, Entspannung zu erwarten, wenn die Bevölkerungszahl durch eine hohe Geburtenrate stabil bleibt", beschreibt Herbert Haase eine Konditionierung, die Politik und Medien über Jahre vorgenommen hätten. 

Falsche Weichenstellungen 

Sie übertrage den Wunsch, den Regierungen durch ihre Öffentlichkeitsarbeit über Jahrzehnte hinweg geweckt und genährt haben, auf die breite Masse, obwohl es dem Einzelnen vollkommen egal sein könne, ob er in einem Land mit drei, zehn oder 300 Millionen Bürgern lebe. Wichtig sei die Größe des verfügbaren Humankapitalstocks ausschließlich für Regierungen, die aus der Masse ihre Armeen rekrutieren. "Das fängt bei Hitler an und hat nie wieder aufgehört." Zwar freuten sich Politiker heute zeitweise auch, wenn fehlender Nachwuchs die Lage in Kindertagesstätten und Schulen kurzzeitig entspanne, weil das den Druck auf politische Entscheider mindere. "Aber sie machen keine Luftsprünge, weil sie glauben, das sei unanständig."

Dabei zeigen Beispiele wie das Frankreichs oder Bulgariens, dass selbst dort, wo es nicht ganz schlimm steht, keine Besserung erwartet werden darf. Trotz einer vergleichsweise hohen Geburtenrate von 1,8 können auch diese beiden EU-Staaten ihre Bevölkerung selbst nicht mehr reproduzieren. Mit jeder Generation schrumpft durch die geringere Zahl an Geburten die Zahl der verfügbaren Frauen. Weniger Frauen bekommen noch weniger Kinder, weil sie einfach nicht da sind. Selbst wenn die Verbleibenden nicht mehr 1,8, sondern 1,9 oder gar zwei Kinder bekommen würden, hält das Schrumpfen unausweichlich an. 

Schrumpfen als Chance 

Noch viel weniger aber können es Staaten aufhalten, die mit noch weniger Nachwuchs auskommen müssen. In der EU stehen Mitgliedsländer wie Malta mit 1,06 Kinder pro Frau oder Italien, Spanien und Polen mit 1,19 bis 1,33 vor einer Perspektive, die dazu führen wird, dass sich die Bevölkerungszahl binnen eines halben Jahrhunderts glatt halbiert. Nicht anders sieht es in Litauen, Lettland, Estland, Portugal und Deutschland aus. Bis zum Jahr 2070 werden alle diese Länder die Hälfte ihrer Bevölkerung verloren haben. Für die gesamte EU prognostizieren Berechnungen, die die Froscher am CWI angestellt haben, das aus 440 Millionen Bürgern nur noch 250 bis 270 geworden sein werden.

Deutschland wird ganz vor dabei sein. Hier sterben seit 1972 jedes Jahr mehr Menschen als geboren werden. Die Fertilitätsrate, die beschreibt, wie viele Kinder Frauen im Durchschnitt bekommen, sank zuletzt auf nur noch 1,35 - Mann und Frau als zwei Eltern müssten zwei Kinder bekommen, um sich zu reproduzieren. Sie bekommen derzeit aber nur 1,35. Das heißt, dass aus 200 Personen innerhalb einer Generation 135 werden. Aus denen bei Beibehaltung der Fertilitätsrate binnen einer weiteren Generation nur noch 75 geworden sein werden.

Stolz auf das Defizit 

Das permanente Geburtendefizit, das Europas Zentralmacht seit mehr als 50 Jahren plagt, hat sich zuletzt noch einmal verstärkt. Allein im vergangenen Jahr schrumpfte die Stammbevölkerung durch einen Sterbeüberhang um 327.000 Menschen. Allein die lange Zeit steigende Lebenserwartung fängt die statistischen Effekte des starken Geburtenrückgangs der vergangenen Jahrzehnte noch auf: Läge die durchschnittliche Lebenserwarung heute noch dort, wo sie 1972 war, lebten heute nicht 84 Millionen Menschen im Land, sondern nur 78 Millionen. Statt einer Alterung der deutschen Bevölkerung gäbe es bereits seit Jahren den Beginn ihres Aussterbens zu betrachten, selbst die als Gegenmaßnahme durch die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel eingeleitete Zuwanderung hätte die Bevölkerungsgröße nicht stabil halten können.

Für Herbert Haase wäre das aber beileibe kein Beinbruch. Der Wissenschaftler, der am Climate Watch Institute (CWI) im sächsischen Grimma zu den Folgen des Klimawandels auf die öffentliche Bewertung sozialistischer und anthroposophischer Ideen forscht, sieht in niedrigen Fertilitätsraten vor allem einen Weg, wie Deutschland und Europa ihre Klimaziele erreichen können. Eine möglichst geringe Zahl an Geburten sei der Schlüssel zur nachhaltigen Senkung des Kohlendioxidausstoßes, sagt er. 

Halbierung in 50 Jahren 

Berechnungen zeigen, dass eine Geburtenrate von 1,32 Kindern pro Frau bedeute,  dass ein Land seine Einwohnerzahl in nicht einmal 50 Jahren halbieren könne. "Nehmen wir Deutschland als Beispiel, kämen wir von den derzeitigen 84 Millionen Menschen auf nur noch von 42 Millionen", umreißt Haase die Dimension. Das sei eine sehr gute Nachricht für das Klima. "40 Millionen Bürgerinnen und Bürger werden zweifellos deutlich weniger Kohlendioxid produzieren", ist er sicher, "so dass es uns ein Leichtes sein wird, die von der EU-Kommission und der Bundesregierung gesetzten Ziele bei der Reduktion des Klimagiftes zu erreichen."

Für eine kontroverse Diskussionen, wie sie die sinkenden Geburtenraten in Deutschland immer wieder auslösen, sieht der Wissenschaftler keinen Grund. Die jüngst überstandene Personalkrise in Kindertagesstätten sieht er als Hinweis darauf, dass im demografischen Wandel mehr Chance als Gefahren stecken. Es gehe jetzt darum, das durch politische Maßnahmen ohnehin nicht mehr zu stoppende Schrumpfen als ökologische Gelegenheit zu nutzen.  "Weniger Menschen bedeuten weniger CO2-Emissionen", sagt Haase. Berechnungen zeigen: Je mehr die Bevölkerungsanzahl zurückgeht, desto kräftiger sinken die Emissionen. 

Wandel proaktiv steuern 

Wichtig sei allerdinsg, den unausweichlichen Wandel proaktiv zu steuern und zu gestalten. "In nur zwei Generationen könnte die Bevölkerung im Land auf die Hälfte zusammengeschrumpft sein", prognostiziert Haase. Um aber die positiven Effekte tatsächlich zu nutzen, müssten einige flankierende Maßnahmen ergriffen werden, die längst überfällig seien. 

Hart geht der Wissenschaftler die Migrationstrategie der Bundesregeirungen der zurückliegenden Jahre an. Die habe viele positive Folgen der niedrigen geburtenraten schlichtweg zunichtegemacht. "Hätten wir seit 2015 konsequent geschlossene Grenzen gehabt, wäre uns viel an CO2-Ausstoß erspart geblieben", verdeutlicht er die Dimension des Problems. Zuwanderung habe Bevölkerungsrückgang in Deutschland nicht nur abgemildert, sondern ihn zumindest kurzzeitig in ein starkes Bevölkerngswachstum verwandelt. Dadurch seien viele Klimabemühungen konterkariert worden.

Merkels fatale Entscheidung 

"Die fatale Entscheidung von Frau Merkel, nahezu alle Schutzsuchenden aus aller Welt nach Deutschland einzuladen", sagt er, "war für das Weltklima verheerend." Menschen, die aus heimatländern kamen, deren Pro-Kopf-Ausstoß an Klimagift weit unter dem der Deutschen liegt, seien gezwungen worden,  sich in das besonders klimaschädliche deutsche Lebensmodell zu integrieren. Vier bis sechs Millionen Menschen wurden dadurch binnen weniger Jahre zu sogenannten CO2-Superspreadern. "Eäre 2015 konsequent darauf geachtet worden, dass unsere Grenzen fest geschlossen, würden  heute schon nur noch 78 Millionen Menschen in Deutschland leben und das Land würde im Regelbetrieb sechs bis acht Prozent weniger Kohlendioxid ausstoßen."

Für Haase ist es höchste Zeit, politisch endlich umzusteuern. Eine schrumpfende Bevölkerung sei die preiswerteste Art des Klimaschutzes, sagt der Wissenschaftler. "Weniger menschen, die weniger CO2 ausstoßen, sind kostengünstiger als technologische Lösungen wie Wasserstoffkraftwerke oder CO2-Speicherung." Statt sich gegen den Trend zu stemmen, müssten die Entscheidnungsträger in Brüssle und Berlin die Dimension ihrer Aufgabe erkennen. 

Weniger Infrastruktur 

"Weniger Menschen brauchen Infrastruktur", weist Haase auf einen wichtigen Nebenaspekt hin. Statt mit hunderten von Milliarden Euro Schuldengeld Brücken, Straßen, Schulen und andere Teile der kritischen Infrastruktur aufwendig zu sanieren und womöglich sogar neu zu bauen, verlange ein tieferes Verständnis der demografischen Krise, die Umfeldbedigungen rechtzeitig an eine schrumpfende Gesellschaft anzupassen.

"Sehr große Teile der Infrastruktur werden künftig einfach nicht mehr benötigt werden", ist Herbert Haase sicher. Schulen werden keine Schüler mehr haben und geschlossen werden können. Wohngebäude werden ungenutzt bleiben, weil es keine Nachmieter mehr gibt. Das Phänomen der Entvölkerung werde sich in allen gesellscjaftlichen Bereiche zeigen. "Das spart Sanierungs- aber auch Personalkosten, wenn rechtzeitig verstanden wird, dass es nicht mehr darum geht, gegen den Trend anzuregieren, sondern ihn als Instrument zu nutzen, um die Klimaziele zu erreichen."

Berufe ohne Zukunft 

Die Lage in den Kindertagesstätten, die nach 2015 mit großem Aufwand personell aufgerüstet worden waren, zeige, wohin falsche Weichenstellungen führen. "Man hat geglaubt, dass der Zustrom an Schutzsuchenden dauerhaft sein wird und zehntausende Mitarbeiter neu eingestellt." Inzwischen zeige sic aber, dass eine junger Erzieher eine deutlich längere Standzeit im Berufsleben habe als ein zu betreuendes Kind. 

"Dadurch kommt es schon zehn Jahre nach dem Beginn der Migrationswelle zu einem Überhang auf der Betreuendenseite." Dier werde sich in den kommenden Jahren durch die Schulen bis nach oben  in die Universitäten fressen. "Man sieht, es war vollkommen überflüssig, hier in den Jahren nach dem Zustrom hektisch aufzurüsten  und Menschen in Berufe zu locken, die keine Zukunft haben."

Abbauen, Zurückbauen, Schumpfen 

Haase prädiert für eine anderen Ansatz. Abbauen, Zurückbauen, Schumpfen. Es gebe keine Gefahr, dass eines Tages wieder mehr Kinder geboren werden, vielmehr zeige das Beispiel Südkoreas, welche Pespektive Deutschland habe. Dort liege Geburtenrate pro Frau im Moment schon bei 0,75 Kindern, vier Personen bringen damit nur noch anderthalb Kinder zur Welt. "Südkorea ist für das Weltklima ein leuchtendes Hoffnungsfanal", sagt Herbert Haase. Binnen von nur einer Generation werde die Einwohnerzahl des Landes um fast zwei Drittel sinken. "Weltweit werden die Auswirkungen auf die Klimaerwärmung spür bar sein."

Denn keine noch so ausgeklügelte Technologie kann auch nur ähnliche Potenziale heben wie das Schrumpfen der Bevölkerung. Das gehe vollkommen kostenlos vonstatten, es benötigekeine Investitionen in teure Wasserstoffkraftwerke oder CO2-Verpressungstechnologien. "Vielmehr spart es noch Geld, wenn wir rechtzeitig in die Phase der Deinvestition eintreten und die großen Teile der Infrastruktur, die nicht mehr benötigt werden, aufgeben."

Dienstag, 2. September 2025

"Wir bleiben die Alten": Die letzten Tage des Sozialismus

Auch die DDR-Führung war von der Unabänderlichkeit ihrer Macht überzeugt.

Fast 30 Jahre leitete der westdeutsche Historiker Hubertus Knabe die Stasi-Gedenkstäte Hohenschönhausen. Dann geriet der unerbittliche Ankläger des Despotismus der DDR in eine Intrige, mittels der es Linkspartei, SPD und CDU schafften, ihn aus dem Amt zu drängen. 
Knabe musste gehen, er nahm den Eindruck mit, dass es bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit um die DDR, die SED, die Stasi und die Unterdrückung der Ostdeutschen gegangen sein könnte. Historie war vielmehr von Anfang an Machtinstrument, genutzt, um über die Denunziation des Anderen das Eigene zu polieren.

Abgehörte Spitzengenossen

 
Dabei muss Geschichte eigentlich nicht beurteilt werden. Es reichte, sie zu kennen. Knabe selbst, über lange Zeit mit einem privilegierten Zugang zu den Stasi-Archiven, zeigt es an einem Beispiel: Ein von der Stasi abgehörtes Gespräch zweier Spitzenfunktionäre der alleinherrschenden Partei zeigt, wie tief das Gift des Zweifels am sozialistischen System Ende der 80er Jahre bereits in den SED-Apparat eingedrungen war.

Im Sommer 1988 trafen im Internationalen Pressezentrum (IPZ) der DDR zwei erfahrene Spitzenagenten aufeinander: Heinz Felfe, einst Topquelle des KGB im Bundesnachrichtendienst. Nach achtjähriger Haft hatte man ihn ausgetauscht und zum Professor an der Sektion Kriminalistik der Berliner Humboldt-Universität gemacht. Der andere war Fred Müller, Direktor des Pressezentrums und Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit, angesetzt auf den „Klassenfeind“. Beide waren im Apparat von SED und Stasi bestens vernetzt.

Enttäuschter Rückkehrer

 
Felfe kam gerade aus Moskau zurück, wo er unter anderem den Vizechef des KGB getroffen hat. Im Gespräch mit seinem Genossen Müller geht es um das, was den Sozialismus im Innersten zusammenhält - oder auch nicht. Getreu dem Leninschen Leitsatzes „Vertrauen ist gut. Kontrolle ist besser“ hörte die Stasi das Gespräch ab und zeichnete es auf. Ein Auswerter schrieb den Inhalt nieder und fasste ihn dabei streckenweise zusammen. Entstanden ist, was Hubertus Knabe "ein Sittengemälde aus den letzten Tagen des Sozialismus" nennt.

Felfe berichtet über Aufenthalt in UdSSR. Müller animiert Felfe mit der Frage:

Müller: Nun ist die große Debatte, wie geht es dort drüben weiter? Hast Du mit den Strecken (gemeint sind Arbeitsbereiche des KGB; Anm. HK), mit denen Du da so gearbeitet hast…?

Felfe: Natürlich, mit dem Hauptquartier.

M.: Ich habe den Eindruck, die machen gar nichts. Die lassen den Scheißdreck laufen, oder ist der Eindruck verkehrt?

F.: Es sollte am Tage vor der Abreise eine Zusammenkunft mit Tschebrikow geben. Der konnte nicht, musste ins ZK oder Politbüro. Also war ich beim Stellvertreter, Armeegeneral. Hauptquartier, außerhalb, wo keiner rein kommt. Meine ganzen Genossen mussten draußen bleiben. Nur der Abteilungschef, der General für die politischen Sachen, und der Dolmetscher waren mit drin. Es wagte keiner von denen, einen Piep zu sagen.

Der Armeegeneral gab so eine „Tour de horizon“: Wir haben viele Fehler gemacht, wir sehen das ein. Unsere Politik gegenüber Jugoslawien, China. Wir haben eingesehen, dass wir nicht die Nummer 1 sind und alle sich nach uns zu richten haben, sondern jeder seinen eigenen Weg suchen muss. Fragte mich, welche Meinung wir dazu haben. Ich sagte, wir sind auch dafür. Er meinte, auch der Mann auf der Straße ist für eine Änderung, aber es nützt ihm nichts, wenn es keinen Kaffee und Zucker gibt.

Mein Partner war bei seinem Schwager in Kuibyschew gewesen. Der hatte nicht mal Tee. Stell Dir das mal vor: Es gibt keinen Tee! Die sind nun der Meinung, dass in den Zwischenetagen Leute sitzen, die sabotieren jetzt, weil sie um ihre Posten fürchten. Auffallend in Moskau sind jetzt die vielen Kioske. Dort gibt es alles. Die Toiletten sind privatisiert, dort ist jetzt Musik und alles sauber.

M.: Siehst Du…

F.: Was ich immer sagte: Der private Ehrgeiz ist die große Triebkraft.

M.: Absolut.


F.: Unser ganzes Gerede von Wettbewerb und sozialistischer Hilfe ist alles Scheiße, weil jeder nur denkt: Wie kann ich mich vor der Arbeit drücken?

M.: Wo Geld fließt, muss Leistung sein. Dann haste die Leute hinter Dir.

M.: Das erlebe ich jetzt rechts und links von mir mit schärfsten Kontrasten. Das Patentamt baut seit anderthalb Jahren am Fundament. Das Dom-Hotel hat vor zwei Monaten angefangen – die gießen schon aus. Das baut eine Westberliner Firma mit unserem Tiefbau.

F.: Sie ist beim Talsperrenbau und so. Sie sitzt schon um sieben Uhr am Schreibtisch, ihre Ingenieure kommen um acht. Wenn sie das in der Parteiversammlung anspricht, wird nach oben alles glatt gemacht. Also, sagt sie, wir lügen. Sie hat die Schnauze so voll, dass sie aus der Partei austreten will.

F.: Wenn Du die Zeitung aufschlägst, wirst Du doch belogen. Heute steht: „400 000 Trockenrasierer für die Bevölkerung“. Ich brauche keinen Trockenrasierer. Ich brauche was anderes. Kauf doch mal Zement in Bautzen – nichts da, der geht nach Frankreich zum Kanalbau. Meine Verwandtschaft war jetzt da und erzählt, sie waren an der Ostsee im Urlaub. Dort ist die Versorgung noch mieser als in Bautzen. Ist denn das nur in der ganzen DDR so schlimm?

M.: Meine Masseuse war in Reichenbach im Vogtland. Es gibt dort keine Zwiebeln und Senf. Da sitzen bestimmt ein Haufen Leute im Handel, die denken, die Leute sollen sich doch ihre Zwiebeln anbauen.

F.: Ich war in der Lausitz und bekomme kein Sauerkraut. Die Leute sagen, erst mal wird nach Berlin und in die Bezirksstädte geliefert, der Rest ist für uns. Geh doch mal in Westberlin einkaufen: Alle Geschäfte sind voll! Apfelsinen, Bananen, Pfirsiche. Meine Frau, die jetzt auch rüber darf, sagt: „Man wird verrückt, was es da alles gibt. Wie machen die denn das mit dem Zeug, was sie am Tag nicht verkauft haben…?“

M.: Ich sag das schon laufend. Ich fahre nun ja schon 20 Jahre rüber… Ich hab mit vielen Rentnern diskutiert, die fahren und das selbst sehen. Wenn Du auf den Markt einer kleinen oder mittleren Stadt gehst – dort ist alles da.

F.: Meine Frau hat jetzt Früchte gesehen, da hatte sie nie was von gehört: Nektarinen, Avocatos…

M.: Das fressen dort sogar die Arbeitslosen.

F.: Der Verkehr auf dem Kudamm, ein starker Verkehr: Das läuft und rauscht, kein Lärm, keine Zweitakter, keine kaputten Auspuffanlagen, alles freundlich, man bekommt gleich Stapel bunter Prospekte.

M.: Der reiche Kapitalismus…

F.: Dann kommst Du an die Grenze zurück: Miese Verhältnisse, ein Tisch, ein Stuhl, musst halb im Sitzen den Zettel ausfüllen und wirst dumm angeredet. Vor meiner Frau wurde eine Rentnerin angemiest, weil die den Zöllner nicht gesehen hatte – genau so, wie die Leute in der DDR von der Obrigkeit behandelt werden. In Westberlin dagegen: Alles freundlich, vom Busfahrer über den Zeitungsverkäufer – alle. Dieses Graue, Triste an der Grenze. Warum können wir unsere Eingangstür nicht besser machen?

M.: Es geht nicht nur um die Eingangstür. Ich war im Grenzort Wendehausen, mit einem französischen Schriftsteller, der dort als Kind zeitweise lebte. Ein erzkatholisches Nest. Der Schützenverein und die Feuerwehr haben alles in der Hand. Saubere Häuser und Straßen, die Kirche – alles neu gemacht. Gaststätten – sehr sauber, private und Genossenschaft. Ich hatte auch mit der Sicherheit gesprochen, damit bei Einfahrt in das Grenzgebiet alles in Ordnung geht (das DDR-Grenzgebiet durfte nur mit besonderer Genehmigung betreten werden; Anm. HK). Die haben das gleich anders überdreht: Schlagbaum oben, keine Kontrolle. Habe dann später gemerkt: Die hatten alle umgekleidet, die entsprechenden Leute als Förster verkleidet (gemeint sind Stasi-Observationskräfte; Anm. HK). Kam eine auf dem Moped als Förster – die guckte schon so komisch. Dann einer mit der Waffe, oben am Wald, als wenn er zur Jagd geht. So haben sie dort gemacht.

F.: In unseren Dienstleistungsbereichen – Gaststätten zum Beispiel – hätte schon früher alles in Privathand gehört.

M.: Die Leute müssen aber nicht so hoch besteuert werden.

F.: Habe bei mir in Weißensee einen Malermeister, der sein Gewerbe in Pankow hat. Wurde der doch vor kurzem mit 400 Mark Strafe belangt, weil er außerhalb von Pankow gemalert hat.

M.: Gibt es denn so was! Das sind die Dinger, wo die Leute auf die Barrikaden gehen, wo uns die Optik versaut wird. Der hätte ein Dankschreiben kriegen müssen.

M.: Ich habe gelesen: 18 Millionen Bürokraten, 15 Millionen Parteiarbeiter. Das sind die Schräubchen, Ämterchen, Pöstchen, wo sich was dreht oder nicht. Ich habe durch die Westpresse die ganzen Reden und so gelesen – diese Korruptionsfälle und alles...

F.: Und gibt es das nicht auch bei uns? Wo mal aufgeräumt werden müsste? Wir decken doch alles zu… Auch die Probleme mit den Skinheads, mit der Zunahme von Kriminalität.
 
F.: Die sind doch alle durch die Pioniere, FDJ, Arbeit und NVA gegangen – und entwickeln sich so? Die Skinheads von der Zionskirche (gemeint ist ein Überfall von Skinheads auf die Ost-Berliner Zionskirche im Oktober 1987; Anm. HK) haben Karate in der GST (Gesellschaft für Sport und Technik; Anm. HK) gelernt. So ist das.

M.: Wir haben es uns oft zu einfach gemacht und alles auf die Westmedien geschoben. Die Ursachen sind auch bei uns selbst. Da wird formal gelehrt, und da berauscht man sich, wenn die richtigen Antworten für die Zensuren gegeben werden. Emotional ist überhaupt nichts da. Nur auswendig gelernt. Einige kriegen im Elternhaus schlimme Sachen vorgelebt…

F.: Sie sind mit der Doppelzüngigkeit aufgewachsen: Zu Hause wird in die West-Röhre geguckt – in der Schule anders geredet. Diese Scheuklappenpolitik hat nochmal schlimme Konsequenzen…

M.: Bedauerlich, dass wir das nicht offen ansprechen.

F.: Wenn ich unsere Zeitung aufschlage, da wird mit Zahlen mir etwas vorgemacht, oder ich muss zwischen den Zeilen lesen. Wir sind nicht in der Lage zu sagen, das und das ist Sache. (…)
 
M.: Heinz, ich hoffe, wir lernen es noch.

F.: Ich werde immer sarkastischer. Mir nimmt es keiner übel, ich habe Kredit. Ich werde immer vorgeschickt, wenn es brenzlig ist. Wir wollten einen Staat bauen, in dem es gerecht zugeht, wo es allen gut geht, wo alles seine Ordnung hat. Was haben wir erreicht? Unsere Hoffnungen sind alle enttäuscht worden.

M.: Der ganze Sozialismus zeigt Schwächen, die ich so nicht für möglich gehalten hätte. Wir sind in der DDR noch am weitesten vorangekommen, aber – da wir es allein nicht schaffen – müssten wir unseren Standpunkt neu formulieren. Wir produzieren für den BRD-Markt, aber niemand traut sich das zu sagen. So niveaulos sind wir!

F.: Doppelte Moral, doppelte Buchführung. Die Sektion Kriminalistik an der Humboldt-Universität kriegte einen Bauplatz am Reichstagsufer. Die gesamte Sektion in einem Neubau. Projektierung fertig, Baukapazität. alles klar, es kann losgehen. Plötzlich ist das Projekt gestorben. Kommt der Außenhandelsbetrieb Polygraph und sagt: Wir brauchen einen repräsentativen Bau in Berlin. Wir bringen Devisen. Hier sind sieben Millionen DM und 30 Millionen Mark – da flog die Sektion als Gesellschaftsbau raus. Was sagst Du dazu?

M.: Alles ist auf den Kopf gestellt. Mir hat mein Schwager erzählt: Wenn ein Staat seine Rohstoffe so verpulvert, muss man die Leiter an die Wand stellen. Das macht niemand in der Welt, außer die Sowjets. Wenn man in Westeuropa in der Chemieindustrie als Arbeiter ausgebeutet wird und abends ausgepowert nach Hause kommt, hat man aber Geld in der Tasche und weiß, dass man was dafür kriegt.

F.: Warum soll bei uns jemand Überstunden machen? Er kann sich doch nichts kaufen!

M.: Wenn man wüsste, für 1000 Mark kann ich einen Videorecorder kaufen. Aber kein Auspuff in ganz Berlin ist zu kriegen. Wir brauchen ein neues System, eine völlig neue Preisgestaltung – umfassend: von Tarifen, Renten, Industriepreisen, Löhnen, Infrastruktur. Seit drei bis vier Jahren müssten bei uns Spezialisten sitzen, die das durchgerechnet und dann vorgelegt haben – wenn wir ein richtiger demokratischer Staat wären. Dann zwei Jahre öffentliche Debatte. Die Leute würden in die Versammlungen kommen, wenn es um ihr Geld geht. Grundprinzipien durchsetzen: Jeder nach seinen Leistungen. Aber da geht ja keiner ran, die Subventionen bleiben. Um uns herum wird es gemacht: Verdoppelte Preise, Lohnausgleich – bei uns findet nichts statt.

M.: Heinz, wir bleiben die Alten.

F.: Wir bleiben die Alten.

Strom aus dem Asphalt: Billionen für rollende Ladeschalen

Electreon empowert deutsche Autobahnen. das projekt soll die Klimawende retten helfen.

Es hat lange gedauert, ewig lange. Und es war zu klein gedacht. Fünf Jahre dauerte es, um die Mammutanlage zu errichten: Ein Dach, beinahe frei schwebend. Obendrauf hochmoderne Solarpaneele, gehalten von nachhaltig geernteten Stahlstreben, die auf Trägern ruhen, die deutsche Ingenieurskunst einbetoniert hat in den Grünstreifen an einer typisch deutschen Autobahn. Volle 14 Meter lang zieht sich die kühne Konstruktion, die mehrere Meter hoch aufragt, um auch größere Lieferfahrzeuge wie Lkws problemlos passieren zu lassen, über eine Straße an der Rastanlage Hegau-Ost an der A 81.  

Der stolze Demonstrator 

Sie nennen sie den "Demonstrator", um das alles auf die Beine zustellen, holten sich die besten Forscher Deutschlands Hilfe aus Österreich und der Schweiz. Es war noch der später standhaft in seinem Amt verbliebene Verkehrsminister Volker Wissing, der herbeieilen konnte, um die Anlage freizugeben: Das erste Solardach nicht nur über einem Stück deutscher Autobahn, sondern womöglich das erste der Welt. Deutschland, das sich selbst oft kleiner macht, als es seit den Gebietsabtretungen im Osten ist, war damit Vorreiter bei Solaranlagen über der Autobahn. 

Die Forschungsanlage, von Wissenschaftler als das "Jülich der Autobahnenergie" bezeichnet, bewies: Bei ausreichender Witterung kann die mit einer einer Millionen Euro finanzierte Fläche bis zu 40.000 kWh Strom im Jahr liefern - das entspricht der Leistung von mehr als sogenannten 130 Balkonkraftwerken, die beim Einkauf durch private Besitzer etwa 80.000 Euro gekostet hätten. Ein starker Beitrag zur Erreichung des Zieles der Bundesregierung, die Treibhausgasemissionen in Deutschland bis 2030 um mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 1990 reduzieren. 

Verkehr mit Bringeschuld 

Der Verkehrssektor hat hier eine Bringeschuld, bisher erreicht er seinen geplanten substantiellen Beitrag zur Reduktion der Treibhausgasemissionen nicht. Private Pkw-Fahrer weigern sich, auf Elektromobilität umzusteigen. Die EU hat günstige chinesische Elektrofahrzeuge durch hohe Zölle drastisch verteuert und das bereits beschlossenen eigene Verbrennerverbot aufgehoben. Die Logistikbranche beklagt, dass auch der geforderte Umstieg auf Elektro-Trucks daran scheitert, dass deren Kosten doppelt so hoch sind wie die gewöhnlicher Lastkraftwagen. Bis zum Zielzeitraum müssen noch fünf von sechs Diesel-Lastkraftwagen ausgetauscht werden. Bei Bussen sind es drei von vier. 

Es wird Fördermittelbillionen brauchen, um die Motivation hochzuhalten und die Preise für Endverbraucher so tief, dass denen nach getaner Arbeit wenigstens genug Geld übrig bleibt, die höheren CO2-Abgaben stemmen zu können. Und es braucht weitere Innovationen, um den Umbau der Verkehrsinfrastruktur so zu gestalten, dass sie selbst zukünftig energieeffizienter wird, verstärkt erneuerbare Energien nutzt und sie möglichst direkt vor Ort zur Verfügung stellt. 

Zurück in die Vergessenheit 

Nach dem Pilotprojekt an der A 81, das nach seiner feierlichen Einweihung schnell wieder allgemeiner Vergessenheit anheimfiel, war klar, dass Deutschland größer denken und sich bei der Prüfung der sogenannten "Potenzialabschätzung zur Treibhausgasemissionsminderung" nicht mit der Überdachung von Straßen, insbesondere von Autobahnen mit sehr schnellfließendem Verkehr, begnügen kann. 

Hier sind dem Gesetzgeber durch den Gesetzgeber enge Fesseln angelegt. Es gibt vergleichsweise hohe Sicherheitsanforderungen, die beachtet werden müssen. So unterliegen Überdachungen von Autobahnen mit Photovoltaikanlagen denselben Vorgaben bezüglich Stand- und Verkehrssicherheit wie alle Bauwerke an Bundesfernstraßen, zum Beispiel Brücken und Tunnelbauwerke.

Ab einer Länge von 80 Metern ist jedes Dach im Sinne des geltenden Baurechts als Tunnelbauwerk anzusehen - umgehend sind Aspekte der Belichtung, der Fluchtwege, des Brandschutzes und der vorgeschriebenen permanenten Überwachung unter Berücksichtigung der entsprechenden Regelwerke des Tunnelbaus nachzuweisen. Das gilt auch, wenn wenn die Seitenwände des solaren Tunnels offen sind. 

Sieben Jahre Aufbauarbeit 

Dieser Weg, das ist nach sieben Jahren Aufbauarbeit und knapp einem Jahr mutmaßlichem Wirkbetrieb klar, lässt sich nich tin großem Maßstab weitergehen. Die letzten Meldungen aus Heglau-Ost stammen zwar aus dem Dezember 2023. Möglich wäre es, dass dort unerkannt ein Solarwunder stattfunden hat.  Doch die Kostenprojektion spricht dagegen: Würden die übrigen knapp 500.000.000 Quadratmeter über den 13.500 Kilometern Autobahn im Land mit entsprechenden Solardächern versehen, kostete das den Steuerzahler etwa drei Billionen Euro. Geld, das trotz aller Dringlichkeit des klimaneutralen Umbaus im Verkehrssektor im Rüstungsbereich dringender gebraucht wird, weil es ohnehin an allen Ecken und Enden fehlt.

Bayern setzt deshalb auf eine andere, noch deutlich innovativere Methode, den rollenden Verkehr zukunftsfähig zu machen. Auf einer Teststrecke auf der A6 in Bayern testen Autobahn GmbH und Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg seit einigen Monaten erfolgreich das Laden von E-Autos während der Fahrt. Diese teuerste und zugleich ineffizienteste Methode, Elektrofahrzeuge zu laden, gilt als besonders herausfordernd, weil in Deutschland derzeit nicht einmal ausreichend Parkplätze zur Verfügung stehen, damit LKW-Fahrer nach Ablauf der gesetzlich vorgeschriebenen Lenkzeiten ihre gesetzlich vorgeschriebenen Ruhezeiten einhalten können. 

Endlose Fahrten statt Parkplatzpausen 

Gebraucht würden rund 120.000 Stellplätze, vorhanden sind nur 80.000. Die Beantragung des Baus neuer Parkplätze gilt jedoch als schwierig, der Bau als teuer, die neue Bundesautobahn GmbH als nicht ausreichend durchfinanziert als dass sie neben den hohen Vorstandgehältern auch noch solche Sperenzchen aus ihrem Etat pressen könnte. 

Könnten die Lkw während der Fahrt geladen werden, müssten sie nicht mehr anhalten, dieser Gedanke steckt hinter der Bayrischen Vision für die Elektromobilität, die das Reichweitenproblem von Elektroautos lösen soll: Autos, die auf der einen Kilometer langen Teststrecke fahren, werden während der Fahrt kontaktlos geladen wie ein auf die Ladeschale gelegtes chinesisches Handy. 

Dafür sorgen Ladespulen, die unsichtbar im Straßenbelag verborgen sind. Sie übertragen den Strom, der beispielsweise auch aus einer innovativen Solarüberdachung stammen könnte, an das darüberfahrende Fahrzeug – eine Idee, die wie Science-Fiction klingt, aber tatsächlich funktioniert. Das Auto muss entsprechend ausgestattet sein. Es darf nicht zu schnell fahren. Und der Fahrer darf nicht nach  der Effizienz der Technologie fragen, die vom Start-up Electreon stammt.

Kupferspulen unterm Asphalt 

Das israelische Unternehmen leistet weltweit Pionierarbeit dabei, Kupferspulen in den Asphalt einzulassen, die ein magnetisches Feld erzeugen, das von einer Empfängerspule am Fahrzeugboden aufgenommen wird. Der Strom fließt induktiv, ohne Kabel, ohne Stecker – direkt in die Batterie. Auf einer ein Kilometer langen Teststrecke können unter Idelabedingungen 0,37 Kilowattstunden an das Fahrzeug übertragen werden. Auf zehn Kilometer Länge wären das 3,7 Kilowattstunden - allemal ausreichend, umd as Auto immer weiter und weiter faren zu lassen.

Bayerns Wissenschaftsminister Markus Blume hat den  auch begeistert von einem Wirkungsgrad "über 90 Prozent" und "völlig ungeahnten Möglichkeiten" gesprochen. E-Auto-Fahrer müssten nie mehr anhalten. Ihre Batterie füllt sich wie von Zauberhand oder sie wird zumindest nie leerer. Perspektivisch, wenn erst alle Straßen so ausgestattet sind, könnten E-Autos sogar auf eine Batterei verzichten und wie Straßenbahnen betrieben werden, nur eben nicht mit Ober-, sondern mit Unterleitung. Sparen würde auch die Natur: Weniger Lithium, weniger Kobalt, weniger Gewicht – ein Gewinn für Umwelt und Geldbeutel. 

Ein  revolutionäres Konzept 

Ein revolutionären Konzept, das überzeugt. Um einem Mittelklasse-Elektroauto wie einem VW ID.4, das 20 kWh pro 100 Kilometer verbraucht, zusätzliche zehn Kilometer Reichweite zu schenken, braucht es derzeit nach Angaben von Electreon nur etwa 5,38 Kilometer Ladestrecke. In diesen 5,38 Kilometern fließen bei 80 km/h und 35 kW Ladeleistung etwa zwei kWh in die Batterie – genug, um die Batterie voller sattt leeren zu machen.

Doch Innovation hat ihren Preis. Allein die Teststrecke kostete stolze acht Millionen Euro – für gerade einmal einen Kilometer. Die zur Aufladung für zusätzliche zehn Kilometer notwendigen 5,38 Kilometer Strecke schlügen mit rund 43 Millionen Euro zu Buche. Und bei einer flächendeckenden Umsetzung im gesamten Autobahnnetz lägen die Kosten ohne Komplettneubau aller Strecken bei mehr als 100 Milliarden. 

Der Preis des Fortschritts

Etwa genauso viel würde der notwendige Umbau der Fahrzeuge kosten: Eine Empfängerspule kostet etwa 2.500 Euro pro Auto. Für den deutschen Gesamtbestand wären Kosten von mehr als 100 Milliarden Euro zu stemmen. Geld, das trotz aller Dringlichkeit des klimaneutralen Umbaus im Verkehrssektor im Rüstungsbereich dringender gebraucht wird, weil es ohnehin an allen Ecken und Enden fehlt, um eine flächendeckende Ladeinfrastruktur aufzubauen.

Diese Details aber vermögen die bayrische Initiative nicht zu stoppen. Ja, die Technologie kämpft mit Hürden. Ja, der Luftspalt zwischen Straße und Auto macht das Laden weniger effizient als in der Garage, wo Spulen nur Millimeter trennen. Ja, es muss langsam gefahren werden, um das Magnetfeld exakt unter dem fahrenden Auto zu halten. Doch das alles ist technisch machbar. 

Gespannt sind die Initiatoren darauf, welche Wartungskosten noch nachkommen: Werden Regen, Schnee und Straßenschäden die Spulen angreifen? Wie lange hält ein Stück Autobahn, das elektrifiziert wurde? Länger als die in Deutschland üblichen sechs Monate? Und wie könnten darübergelegte Solardächer nach dem Vorbild von Hegau-Ost Umwelteinwirkungen von der empfindlichen Elektronik fernhalten?

Wie viel Steuergeld muss verschwendet werden? 

Spannend wird sein, zu sehen, wie viel Steuergeldverschwendung notwendig sein wird, um herauszufinden, dass einfachere Alternativen wie Schnellladesäulen oder Batteriewechselstationen zu günstigeren Preisen helfen können, Elektromobilität voranzubringen. Für den Nahverkehr oder Logistikflotten, die täglich dieselben kurzen Strecken fahren und zwischendurch ausreichend Zeit zum Nachladen haben, ist induktives Laden ebenso überflüssig wie für private Fahrzeugführer, denen eine Schnellladesäule in zehn Minuten mehr Strom liefert als eine Ladestrecke in einer Stunde schafft. 

Die A6-Teststrecke ist so gesehen kein Experiment, sondern eine Show, die über die Ratlosigkeit hinwegtäuschen soll, mit der die Politik dem Umstand gegenübersteht, der Gesellschaft sogenannte Klimaziele verordnet zu haben, ohne zu berücksichtigen, dass zu Zielen immer Wege führen müssen, damit sie erreichbar werden.

Montag, 1. September 2025

Großer WindbEUtel: Strategie der permanenten Versprechen

Die Verbraucherschutzorganisation "Friends of Subsidiarity" aus Dresden hofft, dass EU-Chefin Ursula von der Leyen den Preis "Großer WindbEUtel" persönlich entgegennehmen wird.

Sie schauen genau hin, die legen den Finger auf jeden Posten, schauen in jede dunkle Ecke und prüfen auch die Führungskräfte auf Herz und Nieren. Die sächsische Verbraucherschutzorganisation "Friends of Subsidiarity" (FoS) hat sich seit Jahren der kritischen Beobachtung und Analyse staatsübergreifender Institutionen verschrieben.

Anfangs an "Pegida für Bürokraten" verhöhnt, ist die ausschließlich aus privaten Spenden finanziert NGO längst anerkannt. Und wenn FoS Mitte August zur Festveranstaltung zur Verleihung des "Großen Windbeutels" ins historische Grüne Gewölbe lädt, schaut die Republik in großer Erwartung nach Dresden. Der "Windbeutel" gilt als einer der renommiertesten Preise im Bereich "Bad Government" weltweit. Potenzielle Preisträger fürchten, den Wettbewerb zu gewinnen und dadurch öffentlichem Hohn und Spott preisgegeben zu werden. 

Alles muss stimmen, des Urteil gut begründet sein, da es von den Medien meist als Verurteilung begriffen wird. Mit besonderem Augenmerk hat die FoS deshalb in diesem Jahr einen ausgedehnten Praxistest der Europäischen Union vorgenommen: Hält die Staatengemeinschaft ihre Versprechen? Hat sie sich die passenden Ziele ausgesucht? Nimmt sie die Menschen auf ihrem Weg in die Zukunft mit? 

Nicht erst nach den ernüchternden Ergebnissen der Zollverhandlungen mit den USA, in denen es Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen in mehr 100 Tagen harten Pokerns gelungen war, dieselben Zollsätze wie Afghanistan zugestanden zu bekommen, sind die Zweifel groß. Und auch die Ergebnisse der Prüfung der EU durch die FoS sprechen eine deutliche Sprache: Zwischen den glänzenden Versprechen im Verkaufsprospekt der EU und der tatsächlichen Lebensrealität der EU-Insassen klafft laut FoS eine immer größere Lücke. Die EU sie eine "Versprechensmaschine", nennt es FoS-Chefin Sabrina Kabur. Allerdings vergesse sie zuverlässig, ihre Zusagen einzuhalten. 

Viel versprochen, nichts gehalten

Als Paradebeispiel dieser Entwicklung nennt FoS die Lissabon-Strategie, einen ambitionierten Reformplan, den sich die Europäische Union Anfang des Jahrtausends auferlegte. Ziel war es, Europa innerhalb von zehn Jahren – also bis 2010 – zur wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaft der Welt zu machen. Dabei wollte man ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum, bessere Arbeitsplätze, mehr soziale Integration und einen deutlichen Schritt hin zu Umweltfreundlichkeit und Innovation schaffen. 

Nie weniger als alles erreichen zu wollen, so Kabur, sei für die EU vollkommen normal. Sie agiere stets am liebsten, indem sie fantastische Ziele ausrufe, die zu erreichen ihr sämtlich Mittel fehlen. Geradezu kontraproduktiv sei eine zweites, überlagerndes Muster, das die FoS-Prüfer entdeckten: Mit Hilfe gewaltiger Mengen bürokratischen und verwaltungstechnischen Vorgaben, den Angaben zufolge deutlich umfangreicher als jemals irgendwo anders im Verlauf der Menschheitsgeschichte, torpediere die Kommission ihre eigenen Vorhaben, indem sie jede Dynamik und alle Kreativität unter Papiergebirgen ersticke.

Ziele sind alles 

Ungeachtet der Tatsache, dass die EU drei Jahrzehnte nach ihrer Konstituierung durch die Maastrichter Verträge in sämtlichen Belangen zum Mündel Amerikas geworden ist, pflegt sie weiter das Auftreten eines Gutsherren. Aus der Phase, ihre eigenen Unternehmen zu bevormunden und in die Fesseln von zahllosen Richtlinien, Maßnahmepaketen und Erlassen zu legen, ist die EU herausgeschrumpft. Heute erhebt sie den Anspruch, dass ihre Vorgaben weltweit beachtet werden müssen. 

So sollen sich US-Firmen der speziellen Überwachungsvorschriften unterliegenden EU-Interpretation von Meinungsfreiheit verpflichten. Energie- und Warenlieferanten, ohne die Wirtschaft und Gesellschaft in der Gemeinschaft der 27 binnen weniger Tage zusammenbrechen würden, müssen sich auf Lieferkettengesetze, Digitale Serviceregeln und Schutzrichtlinien gegen den Einsatz moderner KI-Systeme verpflichten.

Immerhin können sie ausweichen, andere wandern ab. Die Unternehmen, die dazu verurteilt sind, am alten Standort weiterzuwirtschaften, quälen sich mit haltlosen Vorgaben zur Erhöhung der Beschäftigungsquote über Steigerung der Forschungs- und Entwicklungsausgaben bis hin zur Verbesserung in Bildung und Digitalisierung, der Gewährleistung eines "Rechts auf Reparatur" und detaillierten Anweisungen, wie sich Aufsichtsräte getreu der - längst verworfenen - Lehre von den angeblich nur zwei Geschlechtern besetzen lassen. 

Erreichen auf halber Strecke 

Wie die FoS nach Abschluss ihrer Prüfung betont, blieb die Erreichung eines Großteils aller Ziele, die die EU-Kommission in den zurückliegenden 25 Jahren verkündet hat, "allenfalls auf halber Strecke stehen". Sabrina Kabur, die den Subsidiarity-Tüv selbst begleitet hat, nennt diese Interpretation betont "die freundliche". Schaue man auf Details, sei das Bild deutlich erschreckender: "Zwar wurden politische Papiere en gros produziert und die europäische Kommunikation in beispielloser Weise mit Innovationsbegriffen angereichert; jedoch zeigt unser Evaluationsbericht, dass die Europäische Union im Testzeitraum deutlich hinter die USA und China zurückgefallen ist."

Auch gegenüber kleineren, unabhängig agierenden Einheiten wie Norwegen, Kanada oder der Schweiz habe die Gemeinschaft Boden verloren. "Die wirtschaftliche Leistung pro Einwohner lag im Jahr 2017 in den USA bei 53.100 US-Dollar, in den EU-Mitgliedstaaten waten es 36.800 US-Dollar", rechnet Kabur vor. 2024 kamen die Vereinigten Staaten auf mehr als 85.812 US-Dollar, die EU kam auf knapp 44.000 Dollar. "Einem Anstieg von 60 Prozent in den USA steht einer von nur 18 Prozent in der EU gegenüber." Dabei hätten weder die Beschäftigungsquoten noch die Innovationsraten das gewünschte Level erreichte, die Arbeitslosigkeit sei nicht gesunken, die Armut ebenso wenig.

Der Lack ist ab 

"Der Lack der Hochglanzstrategie der EU ist schnell ab, wenn man ehrlich Bilanz zieht", fasst Sabrina Kabur zusammen. Hier sei natürlich der Grund zu finden, warum die EU-Kommission es stets vermeide, selbst über ihre Leistungen Rechenschaft abzulegen. "Das wäre in allen Zeitebenen, in allen Branchen, in der Wirtschaft wie in der Gesellschaft einfach nur blamabel." Statt technologischer Weltmarktführerschaft habe die EU deutlich unterdurchschnittlichem Wachstum, eine anhaltende Jugendarbeitslosigkeit und eine von den aktuellen Entwicklungen abgehängte Wirtschaft herbei reglementiert."

Versprechungen im Dauerbetrieb

Alles wird immer größer, wenn es die EU verspricht, und nichts trifft jemals ein. Das Urteil der Tester ist eindeutig: "KI Act, Chips Act und Green Deal sind nur die Spitze eines in der Hitze der Wirklichkeit schmelzenden EU-Eisberges", urteilt Sabrina Katur. Ihre Strategie der permanenten Versprechens setze die EU laut Friends of Subsidiarity bis heute fort – auf gescheiterte Mega-Projekten folgt jeweils die Ankündigung neuer Megaprojekte. Das Strickmuster sei immer das Gleiche: "Auch im Artificial Intelligence Act ("KI Act"), dem Chips Act und anderen aktuellen großspurigen Ankündigungen, die als  als weltweites Musterbeispiel für intelligente Regulierung angekündigt sind, ist das Scheitern von Anfang an eingeschrieben." 

Die EU ist weder Vorreiter noch wenigstens Nachtrab, doch sie erklärt sich fortwährend zum Sieger der Geschichte. Unter dem Vorwand, Grundrechte schützen zu wollen, beschränkt sie derzeit den Einsatz von Algorithmen, sie bremst den Trend zur Automatisierung und erhöht ihre Eigenansprüche an finanzielle Mittel, die sie vorgeblich benötigt, um ihre Ziele erreichen zu können. Bei den Verbrauchern, die konkret niemals gefragt werden, was sie von bestimmten Regulierungsvorhaben halten, kommen am Ende festgetackerte Flaschenverschlüsse, fehlende Funktionen in US-Apps und Anzeigen wegen freimütig geäußerter Kritik an.

 

Informationen in Fremdsprache 

Millionen Zeilen Verwaltungsenglisch, das sei es, was die EU für  200 Milliarden Euro im Jahr liefere – obwohl die meisten ihrer Bürger kein Englisch sprechen. Im Augenblick arbeitet der monströse Apparat an neuen Vorschriften zum Altersnachweis im Internet. Dieser Digital Service Act 2.0 werden weifellos als erneute Belästigungsmasche enden wie schon die berühmte "Cookie-Richtlinie", an der die Kommission angesichts der großen Kritik mittlerweile selbst Zweifel hat. "Da es Europa an eigenen Anbietern fehlt, bleibt die tatsächliche Kontrolle digitaler Big Player immer symbolhaft." 

Ähnliches gilt beim Chips Act der EU, der im Angesicht der Lieferengpässen während der Corona-Pandemie in heller Panik als Resilienzmaßnahme propagiert wurde. Europa sollte steuerfinanziert zu einem unabhängigen Hersteller von Halbleitern werden, um geopolitische Risiken abzufedern. Doch wie die Prüfer von FoS feststellen, fließt bisher der allergrößte Teil der Gelder entweder in langatmige Studien oder direkt zu internationalen Großkonzernen, die sich ohnehin bereits auf dem Kontinent angesiedelt haben. Dessen Standortnachteile seien zudem so groß, dass nicht einmal Angebote, bis zur Hälfe der Investitionskosten für neue Fabriken den Steuernzahlern überzuhelfen, ausreichen, Unternehmensführungen zu tragfähigen Investitionsentscheidungen zu überreden.

Dauerrückgang seit Maastricht 

Seit dem Abschluss der Maastricht-Verträge sind die Weltmarktanteile europäischer Firmen beständig gesunken. Mit ihnen sanken Wohlstand und Zufriedenheit in Europa. Das ursprüngliche zentrale Versprechen der EU, nur viele Staaten gemeinsam könnten dem alten Kontinent seinen Platz in der Welt sichern, hat sich längst als haltlose Parole entlarvt. Sowohl Norwegen als auch die Schweiz florieren deutlich besser. Die EU-Öffentlichkeit aber akzeptiere diesen Zustand inzwischen schicksalsergeben. 

"Am Ende entsteht daraus der Eindruck, dass ein großer Dampfer wie die EU sich zu schwer steuern lässt, der Wendekreis ist zu groß, das Schiff fährt zu langsam", sagt FoS-Analyst Felix Both. Nicht zuletzt trügen Fehleinschätzungen der eigenen Möglichkeiten dazu bei, immer weiter in die flasche Richtng zu laufen. "Mit dem Green Deal, der als das ehrgeizigste Klima-Großvorhaben des Jahrhunderts verkauft wurde, hat sich die EU vielleicht am schlimmsten vergaloppiert", sagt der Experte. 

Statt sich darauf zu konzentrieren, die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, sei für fernliegende Visionen von vollständigen Klimaneutralität bis 2050 Milliarden ausgegeben worde, die benötigt worden wären, um Ersatzinvestitionen in die alternde Infrastrukturund und die traditionelle Industrielandschaft zu tätigen. 

"Man verkündete eine ökologische Modernisierung sämtlicher Lebensbereiche, ohne auf die Kosten zu schauen, die selbst bei einer florierenden Wirtschaft nicht bezahlbar gewesen wären." Im Alltag vieler Verbraucher komme die Fehlallokation von Billionen Euro als Preissteigerung für Energie und Mobilität, Lebensmittel, Wohnen und gesellschafttlichen Umgang an." reagiert werde darauf mit umständlichen Förderprogramme und immer neuen Verordnungspakete, die selbstverursachte Schäden reparieren sollen. "Und schaut man genau hin, sieht man, dass die tatsächliche Emissionsreduktion, die ja als Hauptziel ausgegeben worden ist, nur noch aufgrund wirtschaftlicher Schwäche ereicht wird - und die zentralen Zielvorgaben trotzdem in weite Ferne rücken."

Verwaltung als Selbstzweck

Die Verwaltung von Not und Elend und Niedergang ist zum Selbstzweck geworden. Die FoS verweist in ihrer Analyse auf die hohen Kosten der EU-Bürokratie, die keinerlei Gewinn abwirft. Nach offiziellen Angaben der EU-Kommission verschlingt der Verwaltungsapparat etwa sechs des Gesamthaushalts. Das klinge bescheiden, ergebe aber eine Summe von astronomischen 17 Milliarden Euro im Jahr - 38 Euro pro EU-Bürger, fast 100 pro EU-Steuerzahler. FoS bezweifelt, dass diese Aufwendungen in einem angemessenen Verhältnis zum Schaden steht, den die Kommission mit ihrem Apparat anrichtet. "Dasselbe absurde Ausmaß an zentraleuropäischer Selbstbeschäftigung in Brüssel, die Innovationen ausbremst, könnte auch eine nationale Regierung liefern", so das Fazit. 

Im Zeichen fester Flaschendeckel

Beispiele, wie dieses Brüsseler Missverhältnis zwischen Aufwand und praktischem Nutzen aussieht, lassen sich laut Friends of Subsidiarity im EU-Alltag reichlich finden. Die vielleicht größte Innovation der letzten Jahre sei die Vorschrift über feste Flaschendeckel – ein Detail, das laut offizieller Mitteilung  Plastikmüll vermeiden soll.

"In Wahrheit sind die fest angeschraubten Deckel in erster Linie ein Alltagsärgernis für viele Bürger – und für die Hersteller ein Kostenfaktor, ohne dass wissenschaftlich belastbar nachgewiesen wäre, dass dadurch tatsächlich nennenswert weniger Plastik verloren geht", kritisiert FoS. Angesichts der Millionen Tonne  von Plastik, die in der EU Jahr für Jahr genutzt und entsorgt werden, würde selbst ein optimales Einsparergebnis durch die - offiziell natürlich auf Englsich - "tethered caps" genannte Deckellösung allenfalls Einsparungen im Promillebereich bringen. 

 

Nur noch schöner Schein

Friends of Subsidiarity resümiert: Die EU sei selbst eine wahre "Verpackungskünstlerin", die mit immer neuen, ambitionierten Ankündigungen, Aktionspaketen und Regelungsvorhaben den Eindruck zielgerichteter Bewegung zu erwecken versuche. Der tatsächliche Mehrwert der überbordenden Überverwaltung zeige sich jedoch nicht als Verbesserungen für den Alltag der Menschen. 

"Die Kosten des Apparats stehen aus Sicht unserer Prüfer in keinem angemessenen Verhältnis zum spürbaren Nutzen", fasst Sabrina Kabur zusammen. Für die historisch einmalige Mixtur aus Symbolpolitik, Regelungsirrsinn und mutwilliger Gängelung, die zu einem ebenso historisch einmaligen Vertrauensverlust in die Institutionen geführt habe, werde der Europäischen Kommission im Herbst bei einem feierlichen Festakt im Foyer des Straßburger Parlaments der "Große WindbEUtel" verliehen, ein eigens geschaffener nachhaltiger Preis, von dem man hoffe, dass Ursula von der Leyen ihn persönlich entgegennehmen werde.

"Es könnte eine Gelegenheit sein", hofft Sabrina Katur, "zusammen in sich zu gehen und eine Rückkehr zum Subsidiaritätsprinzips zu beschließen." Entscheidungen könnetn dann wieder dort getroffen werden, wo sie praktisch wirken – und nicht im fernen Brüssel. 


Weltfriedenstag: Wie der Pazifismus zur Bedrohung wurde

Die Friedenstaube galt im kalten Krieg aus Ausweis einer verantwortlichen Haltung. Heute ist sie Merkmal von Menschen, die unsere Demokratie verraten wollen. Abb: Kümram: EU-Blau auf Rasengrün

Nicht einmal ein Hauch von Pazifismus ist übrig. Am 1. September 2025, seit 1918 der traditionelle Weltfriedenstag der Deutschen, ist die Losung "Nie wieder Krieg" verstummt. Die normative Kraft des Faktischen hat den Pazifismus zu einer Bedrohung gemacht, die sich auch nicht mehr mit Parolen schminken lässt. Mehr als hundert Jahre nach Bertha von Suttners Idee, mit einem Antikriegstag neue Schlachten zu verhindern, sind die deutschen Gedenklandschaften erfüllt von Friedenssehnsucht und zugleich von Angst der Menschen, als friedenssüchtige Kapitulanten abgestempelt zu werden.

Mahnung gegen die Gräuel 

Einst ein kraftvoller Mahnruf gegen eine Wiederholung der Gräuel des Zweiten Weltkrieges, ist der Tag heute nur noch eine Fußnote in der Geschichte. Wo alle kriegstüchtig werden wollen, ist kein Platz mehr für Relikte aus einer Vergangenheit, in der geopolitische Spannungen ausschließlich mit dem Ruf beantwortet wurden, es sei gerade jetzt Zeit zur Entspannung. Die Strategien, die in Zeiten galten, als die Weltmächte in Südamerika, Asien und Afrika Stellvertreterkriege ausfechten ließen, die dann und wann auch ihr eigenes Eingreifen erforderten, sind nicht kompatibel mit der Gegenwart. 

Heute gelten Wladimir Putin und Donald Trump als definitiv schlimmere Ungeheuer als Stalin, Mao, Lenin oder Ho Chi Minh, mit einiger Wahrscheinlichkeit, sagen berufe Instanzen, stehen auf einer Stufe mit Hitler. Die Konsequenzen dieser Lageeinschätzung sind ernst und allumfassend: Als der Kalte Krieg die Welt in Ost und West teilte und hier und da an heißen Fronten gekämpft wurde, wurden die Gesprächsfäden nie endgültig zerrissen. Washington sprach mit Moskau, Bonn mit Ostberlin und der Weltfriedenstag war ein Symbol für die Sehnsucht nach einer Welt ohne Konflikte, in der Verhandlungen die Wünsche der einen Seite so lange geduldig mit denen der anderen abgleichen, bis beide bekommen haben, was sie wollen. 

Ein Konflikt um den Friedenstag 

Schon im Ansatz ein Konzept, das auf Schwierigkeiten traf. Denn der Weltfriedenstag selbst war Auslöser eines Weltfriedenstag-Konfliktes: In der DDR wurde der Frieden am 1. September staatlich gefeiert. In der damals noch häufig als "BRD" bezeichneten Bundesrepublik feierte die - in den 80er Jahren freigiebig aus Ostberlin finanzierte - Friedensbewegung mit. Staatsnähere Organisationen wie der DGB aber begingen das Datum als "Antikriegstag", denn zusammen mit dem Feind wollte niemand gesehen werden. Schon gar nicht die Bundesregierung, die am Mitfeiern gehindert war, weil sie die  NATO-Nachrüstung betrieb, gegen die die Friedensbewegten protestierten.

Auch nicht einfach, für die Medien seinerzeit aber leicht nacherzählt. Auf der einen Seite standen die Menschen, bedrückt, besorgt und engagiert mit ihren Friedenstauben. Auf der anderen die Weltmächte, atombesoffen, berauscht von einer globalen Aufrüstungswelle, der sich der gesunde Menschenverstand beim Ostermarsch oder eben am Weltfriedenstag entgegenstellte. Von "Taz" bis "Tagesschau" gab es an der Rollenverteilung keine Zweifel. Gut war, wer für seine Hoffnung auf eine friedlichere Welt auf die Straße ging. Ein Teufel in Menschengestalt hingegen, wer Waffenlieferungen, Raketenstationierungen, Sanktionen und militärische Manöver für das richtige Mittel hielt, den Weltfrieden zu bewahren.

Kein Aufstand des Gewissens 

Verrückte Zeiten. 40 Jahre nach dem Höhepunkt des Aufstands des Gewissens gegen den Nato-Doppelbeschluss ist der Weltfriedenstag,  in Erinnerung an den 1. September 1939, als das nationalsozialistische Deutschland Polen überfiel, ist die Parole "Nie wieder Krieg" aus der Mode geraten. Nicht mehr Pazifismus und Antimilitarismus, nicht mehr Wehrdienstverweigerung und Proteste gegen die Hochrüstung gelten als probate Mittel zur Friedenserhaltung. Sondern der Ausbau der Rüstungsindustrie, die Verwandlung der Bundeswehr in eine kriegstüchtige Truppe und die Stärkung des Wehrwillens der jungen Generation.

Reden ist Silber, Schießen ist Gold. Längst ist es unvorstellbar geworden, dass diplomatische Kanäle die Frontlinien überbrücken. Jeder Versuch, vorzufühlen und an der Konfrontation vorbei Wege aus dem Jammertal des Todes zu suchen, finden sich als Verrat gebrandmarkt. Wer mit Putin spricht, ist sein Freund. Wem danach verlangt, wie vor 50, 60 oder 70 Jahren erst recht zu reden, wo die Positionen unvereinbar sind, dem wird schnell bescheinigt, dass es sich zum Idioten machen lasse.

Eingraben in der Stellung 

Die harte Kante, das tiefe Eingraben in der eigenen Stellung, sie sind alles, was derzeit als friedensschaffende Maßnahme Anerkennung findet. Russlands Angriffskrieg, begleitet von nuklearen Drohungen, hat die westlichen Staaten zu massiven Waffenlieferungen und Sanktionen veranlasst. Die Ukraine wird als Bollwerk der euro-atlantischen Welt gefeiert, ein trotziges Völkchen, dessen Deserteure man aufnimmt, während man denen, die es verpasst haben, abzuhauen, zu ihrem Mut gratuliert. 

Die Medien haben die Seiten gewechselt: In den 80er Jahren galt alle Sympathie den Friedensbewegten, die am Weltfriedenstag gegen eine globale Ordnung aufstanden, die von militär-strategischen Überlegungen geprägt war. Heute ist die vierte Gewalt zuverlässig dort zu finden, wo sich erste, zweite und dritte versammelt haben: Die ersehnte friedliche Weltordnung brauche Schutz und Trutz, die frommen Wünsche der Friedfertigen ließen Gewalt und Konflikte nun mal nicht aus der Welt verschwinden, der russische Angriff auf die Ukraine zeige, dass Europa aufrüsten, abschrecken und auf eine militärische Auseinandersetzung vorbereitet sein müsse.

Wiederbewaffnung statt Diplomatie 

Die Wiederbewaffnung einer Bundeswehr, die über Jahrzehnte als eine Trachtentruppe gehalten wurde, hat nicht nur Vorrang vor Diplomatie, sie ersetzt jedes Bemühen, trotz aller Konflikte im Gespräch zu bleiben. Mit Sätzen wie Putin wolle doch nicht und Putin habe doch gar kein Interesse wird die Frage abmoderiert, warum im Unterschied zum kalten Krieg heute gar nicht mehr miteinander geredet wird, während man hier und da aufeinander schießt. Wenn doch mal jemand einen Versuch unternimmt, wird er umgehend zum Paria erklärt.

Strafe einen, erziehe hundert. Medial und politisch findet der Weltfriedenstag kaum mehr statt, weil er der Erziehung zur Kriegstüchtigkeit entgegensteht. In deutschen Medien dominieren Berichte über Waffenlieferungen, Sanktionen und geopolitische Strategien, während Friedensinitiativen wie Chinas 12-Punkte-Plan für die Ukraine marginalisiert und Donald Trumps Versuche, zu irgendeinem Ende zu kommen, verhöhnt werden. Tagesschau und ZDF sprechen dann von einem "sogenannten Friedensplan", der im Westen auf Skepsis stoße. Trump wird immer wieder eine Parteinahme für Russland unterstellt und ein Verrat an der Ukraine. 

180-Grad-Wende 

Diese Art Berichterstattung ist das komplette Gegenteil der wohlwollenden Begleitung der Dialogpolitik der 70er Jahre und der Friedensproteste der 80er Jahre. Die Abkehr vom Glauben, eine Friedenskultur, wie sie der Weltfriedenstag einst herbeiprotestieren wollte, könne den Frieden retten, ist nirgendwo deutlicher zu sehen als in der neuen Schkagseite der Schlagzeilen: Nicht Ab-, sondern Aufrüstung wird als notwendige Antwort auf globale Bedrohungen dargestellt, während der Pazifismus als naive reaktion der Furchtsamen abgetan wird. Die politische Landschaft zeigt ein ähnliches Bild. Parteien quer durch das Spektrum unterstützen die militärische Aufrüstung. Nur am Rand existieren Kleinstparteien, die stoisch Abrüstung und Entspannung verlangen. Dafür aber als "umstritten" eingeordnet werden.

Der Konsens, dass Frieden durch nur durch militärische Stärke, Aufrüstung, Druck, Sanktionen und beharrliches Schweigen erreicht werden kann, hat sich nach dem Februar 2022 recht kurzfristig eingestellt, bisher aber dreieinhalb Jahre fortwährenden Scheitern der zugrundeliegenden Strategie schadlos überstanden. Der Friede muss bewaffnet sein, allein Abschreckung mit einer überlegenen militärischen Kraft hat ihren Preis: Nur eine Weltordnung, in der militärische Macht und zumindest die Androhung von Gewalt die Regeln bestimmen, ist eine, die Stabilität verspricht.

Deutschlands Wandel 

Deutschland, einst dermaßen Vorreiter des Pazifismus, dass die Entsendung von 15 Bundeswehr-Sanitätern "out of area" ins ferne Kambodscha eine wochenlange Diskussion bis in den Bundestag auslöste, diskutiert inzwischen sogar die Teheraner LösungBraucht das Land von Otto Hahn und Fritz Straßmann endlich eine eigene Atombombe? Wer sich der neuen, bellizistischen Logik nicht anschließen mag, dem wird vorgeworfen, er ignoriere die Realität einer Welt, in der das Böse nun mal keine Rücksicht nehme auf pazifistische Träume. Entspannung, Diplomatie, Abrüstung, alles gut und schön, aber nicht hilfreich.

Der unauffällig verpuffende Weltfriedenstag ist so auch im Jahr 2025 wieder ein Mahnmal für eine verblasste Idee, deren Zeit abgelaufen ist. In einer Welt, die von Kriegen, Aufrüstung und geopolitischen Rivalitäten geprägt ist, hat er seine Anziehungskraft selbst bei der jüngeren Generation  verloren, deren idealistischer Geist ihn in einer lange vergangenen Ära der Illusionen zu einer friedfertigen Kraft gemacht hatte. 

Die Medien haben sich von der Idee verabschiedet, nie wieder Kireg sei durch demonstrative Wehrlosigkeit  am besten zu erreichen. Die politischen Parteien haben erkannt, dass das Versprechen der Wiederherstellung militärischer Stärke nicht weniger anziehend auf Wählerinnen und Wähler wirkt als die Zusage, auf Diplomatie und Vermittlung zu setzen.

Ewiggestrig ist heute nicht der Mann in den Knobelbechern, der zum Vergnügen auf den Schießplatz pilgert, sondern der, der keine Stiefel und keine Uniform tragen will. Die Zeitenwende, die Olaf Scholz ausrief, als Wladimir Putin seine Truppen in die Ukraine hatte einmarschieren lassen, sie hat eine Weile gbraucht, ist aber jetzt manifeste Realität, zu sehen unter dem Brennglas der verschwundenen Beachtung des Weltfriedenstages.