Donnerstag, 5. Juni 2025

Das Herz eines Boxer: Kulturkampf im Ring

Imane Khelif Boxer Genderdebatte
Vor einem Jahr war die Wahrheit klar. Mittlerweile verschwimmt sie wieder.

Die italienische Boxerin Angela Carini jammerte und beschwerte sich. Ihre deutsche Kollegin Regina Halmich nörgelte. Gerüchte, Desinformation und Hass verbreiteten sich im Netz. Die Boxerin Imane Khelif sei in Wirklichkeit ein Mann, hieß es, und wenn so etwas künftig erlaubt werde, sei das "Ende des Frauensports" gekommen. Eine "Schande für den Sport" habe erleben müssen, wer gesehen hatte, wie die Algerierin ihre italienische Gegnerin Carini aus dem Boxring geprügelt habe.  

Der  Mann ein Mann

Männer, vor allem von rechts, machten sich plötzlich für Frauen stark. Boxen dürfen sollten sie aber bitte unter sich. Und wer sich den Körperbau von Imane Khelif anschaue, der könne Grönemeyers alte Frage beantworten: Dann ist der Mann ein Mann!

Es war eine der großen Verschwörungen zur Zerstörung von Vertrauen in Olympia als Fest der Jugend der Welt, in  die Fairness des Wettbewerbs und das noch recht neue Konzept der gefühlten Geschlechter. Russland vor allem schürte Misstrauen, nicht offen, sondern verdeckt, indem es Prominente wie Halmich, die Schriftstellerin  J. K. Rowling und Elon Musk in Marsch setzte, Zweifel an der Weiblichkeit der jungen Frau aus "einem ländlichen Dorf in Algerien" (Volksverpetzer) zu wecken. 

Starke Familie 

Die olympische Familie allerdings blieb stabil und stark. Khelif gewann Gold, auch mit ähnlichen Vorwürfen überzogene taiwanesische Boxerin Lin Yu-Ting durfte ihre Goldmedaille mit gutem Gewissen mit nach Hause nehmen.

Ein Sieg des Fortschritts über die zweigeschlechtliche Kleinlichkeit, die vor allen Dingen  einer festen Front aus Faktencheckern zu verdanken war. Kaum waren die ersten Vorwürfe gegen die beiden Box-Ladys aufgekommen, warf sich die deutschsprachige Branche wie ein Mann in den Ring. Angeführt vom preisgekrönten Volksverhetzer, der unter dem Titel "Imane Khelif ist eine cis Frau" Argumente sammelte wie das, dass Imane Khelif einst davon erzählt habe, "wie sie als Mädchen in aufwuchs, und dass ihr Vater ihr anfangs nicht erlaubte, Sport zu treiben, da ihr Vater Boxen nicht für angemessen für Mädchen halte", bis zu Correctiv, dem Goldstandard der Fake News-Verbreitung, wurden sämtliche "Falschmeldungen und Gerüchte" umfassend zurückgewiesen.

Identifiziertes Geschlecht 

"Sie ist eine cis Frau – also eine Frau, die sich mit dem Geschlecht identifiziert, das bei der Geburt bestimmt wurde", betonten  und . Correctiv betonte, dass Imane Khelif hingegen sich nie als trans oder intersexuell bezeichnet, sondern schon immer als Frau gekämpft habe. Mit voller Unterstützung des algerischen Olympischen Komitees, das die Angriffe auf Khelif als verleumdend und böswillig bezeichnet habe, denn "sie beruhten auf Lügen". 

Deutschlandfunk und Tagesschau wollten da nicht hintenanstehen. Auch sie hatten Beweise: Ein angeblich Geschlechtertest, nachdem Khelif einen männlcihen Chromosomensatz habe, stamme  vom Boxverband IBA, den das IOC nach  Korruptions- und Manipulationsvorwürfen suspendiert habe. Der Sex-Test (RND) sei zudem "umstritten", denn nach den IOC-Regeln sei das im Pass angegebene Geschlecht maßgeblich für die Zulassung zu den Wettbewerben.

Kulturkampf im Ring 

Der "Spiegel" sah die Algerierin nicht im Ring, sondern in einem "Kulturkampf" faustfechten. Siegt sie, sie bekommen nach dem deutschen Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag (SBGG)  alle deutschen Boxer, bei denen es im Ring nicht zu Siegen gegen Männer reicht, die Chance, als Frau Olympiasieger zu werden. Die Misere des deutschen Boxens wäre vorüber. Neue Halmichs stünden bald in Divisionsstärke parat, tänzelnd und fintierend so manche Samstagnacht zu füllen wie weiland Schulz, Maske und Rocky Rocchigiani. Nach ihrem Finalsieg gegen die Rauner und Verleumder durfte die algerische Boxerin in einem Interview bekennen: "Ich bin eine Frau wie jede andere Frau auch".

Die "große Debatte" (Volksverpetzer) war damit beendet. "Rechtsextreme und andere Transphobe" hatten verloren, die wirklich wahren Fakten einen rauschenden Triumph gefeiert. Laschyk, dessen  Portal kurz vor dem Hetz-Skandal gegen die Boxerin die Gemeinnützigkeit entzogen worden war,freute sich, dass sich "langsam bei allen Vernünftigen durchgesetzt hat, dass die algerische Boxerin Imane Khelif wirklich eine cis Frau ist". 

Schaden für Gleichstellung 

Oder besser war, denn ein knappes Jahr nach dem endgültigen Beweis, wie der Augenschein trügen kann,  bedroht eine "neue Richtlinie zu Geschlecht, Alter und Gewicht" die alte Wahrheit vom fragwürdigen Boxverband, der einer Frau das Startrecht in Frauenwettbewerben verwehrt hat, weil er der "Gleichstellung der Geschlechter im Sport" Schaden zufügen wollte. Jetzt fordert auch der offenbar nicht fragwürdige neue Boxweltverband World Boxing einen "Nachweis des biologischen Geschlechts". Den Imane Khelif noch nicht erbracht hat. Die Olympiasiegerin darf deshalb vorerst nicht antreten.

Die Meldung ist noch frisch, weder Correctiv noch der Volksverpetzer konnten bisher eine Wahrheitskampagne starten, um die Ehre der cis Frau zu retten. Oder wie es beim Volksverpetzer heißt: "Ideologische Desinformationsverbreiter und Kulturkämpfer halten wie immer verbittert am Narrativ fest."

Millionärsmangel: Staat statt privat

Geld versteckt vor dem Staat
So lange nicht Geld vor dem Staat versteckt wird, kann der nicht ruhig schlafen.


Das letzte Hemd hat keine Taschen und das letzte bisschen Geld, das Vater Staat noch nicht hat, ist kaum mehr etwas wert. Es wird für den Haushalt gebraucht werden, den der Bund schon seit fast einem Jahr nicht mehr hat. Doch so schlecht stehen die Dinge nicht. Zwar hinkt Deutschland mit einer weiterhin stabil schrumpfenden Wirtschaft dem weltweiten Wachstum schon im dritten Jahr hinterher. Doch die staatliche Kreditanstalt für Wiederaufbau, der Name ist Programm, sieht Licht am Horizont: Mit Merz kam der Frühling, "ich habe noch nie einen so rasanten Stimmungswechsel erlebt", seufzt  Stefan Wintels, der als Chef der KfW eine der großen schwarzen Kassen des Bundes führt.

Wiederaufbau nach dem Krieg 

1948 gegründet, um Kredite für den Wiederaufbau nach dem Krieg zu vergeben, überlebte das heute als KfW Bankengruppe firmierende Institut seine milliardenschweren Spekulationen mit US-Immobilienkrediten nur knapp und auf Kosten der Steuerzahler. Die SPD-Politikerin Ingrid Matthäus-Maier musste gehen, die Bank blieb, gerettet vom Steuerzahler. Heute ist sie das drittgrößte Geldinstitut Deutschlands, unverzichtbar wie die staatlichen Lottogesellschaften, weil von der KfW vergebene Kredite so hoch sein können, wie sie wollen, sie werden trotzdem nicht dem Staat zugerechnet, der für sie bürgt. 

Eine Konstruktion, die sich bewährt hat. Wo immer Finanzminister Sonderprogramme ausrufen und private Investoren mit Fördermitteln locken wollen, kommt die Frankfurter Staatsbank ins Spiel, die inzwischen nahezu alle ihre früheren privaten Konkurrenten überlebt hat. Die Hypovereinsbank und die Dresdner Bank sind verschwunden, letztere in einem kühnen mitternächtlichen Tauschhandel zwischen Finanzminister und der Commerzbank, die das Schlachtfeld in Kürze auch verlassen wird. Geblieben sind die Deutsche Bank und die DZ Bank der Genossenschaften, dahinter folgt schon die KfW. Sie ist heute eins der zehn Geldinstitute in Staats- oder Bundesbesitz auf der Liste der größten Banken im Land.

Deutschland verstaatlicht sich selbst 

Deutschland ist bei seiner eigenen Verstaatlichung gut vorangekommen. Bis heute beschwört das Bundesfinanzministerium auf seiner Internetseite, dass "Staat und Unternehmen durch Privatisierungen Handlungsfreiheiten gewinnen": Der Bund setze damit "Reformpotenziale frei und die Unternehmen steigern ihre Effizienz, um sich im internationalen Wettbewerb zu positionieren". In nahezu allen Bereichen, in denen aus staatlichen monopolisierten Industrien wettbewerbsorientierte Märkte und eine Vielfalt des Angebots entstanden, sei das "den Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie Unternehmen zu Gute gekommen", ließ noch die frühere Ampel-Regierung wissen.

Wie ernst das genommen wird, zeigt sich an der beeindruckenden Privatisierungsbilanz. Seit dem Verkauf von Anteilen an der Deutschen Telekom an Bürgerinnen und Bürger, denen diese Anteile faktisch vorher schon gehört hatten, hat der Bund aufgehört, weitere Beteiligungen zu privatisieren.  Der "weitere konsequente Schritt auf dem Weg zur Privatisierung der Deutschen Telekom" vor 20 Jahren war der letzte in diese Richtung. 

Zwar steht heute immer  "die regelmäßige Überprüfung der Bundesbeteiligungen" als "ein wesentlicher Bestandteil der Privatisierungspolitik des Bundes" auf dem Papier. Doch die Liste der mehr als hundert bundeseigenen Unternehmen schrumpft nicht mehr, weil es inzwischen unvorstellbar scheint, dass Werften, Energieerzeuger, Gästehäuser, Flughäfen, Filmgesellschaften oder Impfstoffhersteller in Privatbesitz sind.

Eine theoretische Grundüberzeugung 

Selbstverständlich verleiht das Haushaltsrecht des Bundes erklärtermaßen dennoch "der ökonomischen und politischen Grundüberzeugung Ausdruck, dass privater Initiative und Eigentümerschaft gegenüber einer Beteiligung des Bundes grundsätzlich der Vorrang zu geben ist und die Betätigung des Bundes als Unternehmer auf das Notwendige beschränkt bleibt". Notwendig aber ist so vieles, weil das "wichtige Bundesinteresse", das als Voraussetzung für das Festhalten an einer Beteiligung des Bundes gilt, bei jeder Überprüfung zeigt, dass "der vom Bund mit der Beteiligung angestrebte Zweck nicht besser und wirtschaftlicher durch Private erfüllt werden kann".

Was der Staat kann, kann nur der Staat, hat der frühere SPD-Vorsitzende Franz Müntefering immer wieder gepredigt, als er zum Kampf gegen "Manager" und "Spekulanten" aufrief. Formal gelten die inzwischen als begehrte Investoren, die Münteferings Nachfolger Lars Klingbeil mit einem "Investitionsbooster", kürzeren Abschreibungsfristen und damit höheren Renditen anlocken will. Sobald aber der Verdacht aufkommt, Beteiligte strichen unanständige Übergewinne ein, ruft es dort nach strengen Regeln, wo eben noch die Angst vor dem Untergang geschürt worden war, wenn es nicht gelinge, attraktiver für internationaler Geldgeber zu werden.

Untergang mit vielen Gesichtern 

Der Untergang hat viele Gesichter. Natürlich erfolgt schon lange nirgendwo im Firmenimperium des Bundes mehr eine "Prüfung auch mit dem Ziel, Freiräume für privates Unternehmertum und für Wettbewerb zu eröffnen, um damit den Wirtschaftsstandort Deutschland weiter zu stärken". Die letzte große Privatisierung war die der Telekom vor einem Vierteljahrhundert. Seitdem wird eher mehr nach Verstaatlichung verlangt, in der Linken sogar nach der Verstaatlichung staatlicher Unternehmen. 

Aktuelle Statistiken zeigen das Gegenteil: Nur zwei Branchen in Deutschland schaffen noch neue Arbeitsplätze - der Staat und das - in großen Teilen staatliche - Gesundheitswesen. 2022 waren noch elf Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland im Staatsdienst beschäftigt, 2023 bereits zwölf, 2024 werden es nicht wneiger geworden sein. Binnen eines Jahres stellten Behörden und öffentliche Verwaltungen 60.000 neue Mitarbeiter ein, im Gesundheitswesen und der Pflege waren es sogar 128.000. Gleichzeitig gingen in der Industrie und auf den Bau 350.000 Arbeitsplätze verloren.

Es kommt kein Geld ins Land 

Für eine Volkswirtschaft, die kaum darauf hoffen kann, sich in naher Zukunft mit großen Innovationen zurückzukämpfen unter die Nationen, deren Warenexporte in aller Welt begehrt sind, sind das beunruhigende Nachrichten. Wo nicht produziert wird, kann nicht exportiert werden. Wo nichts ausgeführt wird, kommt kein Geld ins Land. Es drohen fortschreitende Wohlstandsverluste, höhere Schulden und ein niedrigerer Lebensstandard. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Nach neuerer Lesart reicht der Staat allein, um Jobwunder zu wirken und sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Wachstumsschwäche zu ziehen. 

Wenn die Steuereinnahmen steigen und die Zahl der Millionäre sinkt, ist schon viel erreicht, wenn auch noch nicht alles. Geld gehört in die Hände derer, die alles ausgeben. Privates Horten ist nicht verboten, hat aber in Deutschland traditionell einen schlechten Ruf. Wer spart, etwa fürs Alter, drückt damit insgeheim aus, dass er den staatlichen Rentenversprechen nicht weiter traut, als ein Kabinett eine Haltelinie zugleich nach oben und nach unten werfen kann. Ein Rosskur für Neoliberale, die vom Irrglauben nicht lassen wollen, dass weniger Staat und mehr Markt es sind, die andere Weltregionen davoneilen und die zentraler Planung unterworfene EU zurückfallen lassen.

Wie anders alles werden muss 

Der Fortschritt auf dem alten Kontinent, er ist einer aus Beschwichtigungen, wie schlimm die Lage letztlich gar nicht sei, kombiniert mit beständig wiederholten Ansagen, wie anders alles werden muss, damit es bleiben kann, wie es ist. Zwischen Wiederaufbau und Transformation liegt meist nur eine Von-der-Leyen-Rede, mit Leidenschaft und voller innerer Überzeugung vor einem zumeist gähnend leeren Saal gehalten.

Wo eben noch alles grün werden sollte, kann heute schon olivgrün ausgerufen werden. Alles ist immer zum Besten aller. Jede Entscheidung, die ganz plötzlich von weither verkündet wird, zeichnet sich durch ihre Alternativlosigkeit aus: Ein Verbrennerverbot kann unumgänglich sein, seine Aufhebung aber ebenso. Grenzen sind sowohl unmöglich zu bewachen als auch problemlos zu kontrollieren. Das wiederum kann als nachgewiesenermaßen vollkommen zwecklos abgelehnt und - von derselben Person - als sehr effektive und nützliche Maßnahme gelobt werden.

Mehr oder weniger 

Niemand weiß, was morgen ist, denn richtig klar ist ja nicht einmal, womit wir es heute zu tun haben. Zeitgleich hat Europa nach Angaben des "World Wealth Report 2025" zuletzt sein Ziel erreicht, die Zahl der Millionäre zu senken, während nach Angaben der Bundesstatistiker die Zahl der Millionäre deutlich stieg

Nach den Daten des Statistischen Bundesamts rund 34.500 Deutsche mit einem Einkommen von mindestens einer Million Euro, im Vergleich zu 2020 ein deutlicher Anstieg von 18 Prozent, wobei nach aktuelleren Zahlen binnen Jahresfrist gut 40.000 Millionäre keine mehr sind. Diese höhere Zahl an Einkommensmillionären verdient ihr Geld zum Entsetzen gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hauptsächlich mit privaten Gewerbebetriebe und durch eigene Arbeit. 

Das Gefühl entscheidet 

Der SPD-nahe Think Tank, dessen 220 Beschäftigte mehr als ein Drittel ihres Gehaltes direkt Staat bekommen, zeigt sich besorgt über die Zahlen. Mehr Einkommensmillionäre stünden einem Zuwachs an Armut gegenüber, beklagen die Gewerkschaftsfunktionäre die Reichtumsverschiebung nach Übersee. Ist es nicht die wachsende große soziale Ungleichheit, die "Wasser auf die Mühlen derer ist", die demokratische Ordnung grundsätzlich infrage stellen", dann muss es "das Gefühl einer solchen  wachsenden großen sozialen Ungleichheit" sein. 

Und wie: 134.200 Steuerpflichtige zahlten zuletzt den Steuersatz für Extrareiche. Diese 0,3 Prozent aller Steuerzahler spendierten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes fast 16 Prozent aller Steuereinnahmen. Auf die Art geht es allen gut, sehr gut sogar. Die laufenden Geschäfte sind nicht in Gefahr, die Sondervermögen scharren schon mit den Hufen und mit Hilfe einer Übergewinnsteuer für Rüstungsfirmen, die zu großen Teilen dem Bund gehören, kann der Finanzminister sich sogar noch zusätzliche Millionen aus den Rippen schneiden. Plus all die Milliarden, die auf nachrichtenlosen Konten liegen. Und schon ist das Land saniert.

Mittwoch, 4. Juni 2025

Annalena Baerbock und die Uno: Die neue Martin Schulz

Baerbock Uno Kümram Chefin Gemälde
Erster Tag im neuen Amt, erste große Schlagzeilen. Doch wird Annalena Baerbock auch in ein paar Wochen noch als wichtige Politikerin an der Spitze der Uno gefeiert werden? Abb: Kümram, Handskizze, koloriert

Es war der November 2017, als sie plötzlich auftauchte. Annalena Baerbock, kein Name, den niemand nicht vergisst. Und doch einer, der blieb: 37 war die junge Grüne gerade, als ihre Partei sich um sie zu scharen begann. Die Trittin und Künast, Roth und Özdemir, sie waren längst zu alt und zu hüftsteif geworden. Die Katrin Göring-Eckardt und Dr. Anton Hofreiter, Nina Stahr und Werner Graf, sie hatten kein Charisma, füllten keine Säle mit ihrer Aura.  

Die Strahlende 

Auf einmal aber war da sie, die Strahlende, die einfachste Sachverhalte in komplizierter Sprache zu erklären wusste. Charme und Klugheit, Machtbewusstsein und taktisches Geschick vereint in einer Frau, der es zudem an Selbst- und Sendungsbewusstsein nicht fehlte. Gemeinsam mit ihrem ähnlich begabten Kollegen Robert Habeck legte Annalena Baerbock in nur vier Jahren einen Sturmlauf an die Spitze einer Partei hin, die genau wusste, was sie wollte, aber nicht, wie sie es bekommen könnte. 

Die zwei jungen Politiker mischten das Land auf. Sie waren das Gesicht der Sehnsucht nach Klimagerechtigkeit, der Angst vor den Kipppunkten und des Willens, alles schnell hinter sich zu lassen, was den Energieausstieg und die große Transformation hemmt und behindert. Nicht einmal als es zwischen ihnen um die Kanzlerkandidatur ging, drang Krach nach draußen. Die alten Rollenbilder funktionierten. Habeck ließ der Dame den Vortritt. 

Die Welt verändern 

Deren Kandidatur verlief dann nicht optimal, doch sie machte das Beste daraus. Deutsche Außenministerin. Ein Job, mit dem viele ihrer Vorgänger die Welt verändert hatten. Baerbock entdeckte sie für sich neu. Sie besuchte fremde Völker, stellte große Momente der Geschichte nach, mahnte Freude und verwarnte Feinde. Und nie vergaß sie das eigentliche Projekt: Die grüne Wende, die grüne Physik, das grüne Herz und grüne Solidarität.

Dass es dann doch nicht reichte zu einer Fortsetzung der erfolgreichen Koalition mit SPD und FDP, lag an ihr zuletzt. Baerbock hatte schon nach zweieinhalb Jahren den berühmten Genscher-Punkt erreicht:  Unabhängig davon, wer wen gerade über den Tanzboden der Innenpolitik führte und welche Musik dazu gespielt wurde, schwebte die Außenministerin in höheren Sphären. Ihr Feld war die Welt, ihr Thema der Frieden, ihr Plädoyer galt Schwerenwaffen und schnelleren Abschiebungen. Die Wählerinnen und Wähler liebten sie. Ihr kleiner Fehltritt als Buchautorin, der sich just in diesen Tagen jährt, er war vergeben und vergessen.

Der Vizekanzler schmollt 

Dass Annalena Baerbock noch längst nicht fertig ist, hat in dem Augenblick gezeigt, als es um alles ging. Die Partei hatte unter ihrem Nachfolger als Kanzlerkandidatin kräftig an Stimmen verloren und damit die Chance auf eine weitere Regierungsbeteiligung. Sie selbst musste sich wie Robert Habeck gegen Angriffen wehren, viel falsch und anderes nicht richtig gemacht zu haben. Doch während der Vizekanzler schmollte, lange in der Erwartung, die geschlagene Partei werde in der Stunde der Not nach ihm rufen, um sich wieder aufbauen zu lassen, spürte Baerbock von Anfang an, dass es Zeit war zu gehen. 

Statt wie Habeck zu hoffen, ergriff sie die einzige Chance, die sie hatte: Kurzerhand bootete sie eine Karrierediplomatin aus und ernannte sich selbst zum Kandidaten für den vakanten Posten der Präsidentin der UN-Generalversammlung, der nach Verabredungen der Weltgemeinschaft in diesem Jahr Deutschland zufällt. 

Keiner kennt die Namen 

Nun ist es so, dass dieser Frühstücksdirektorenposten in den zurückliegenden acht Jahrzehnten keinerlei mediale Bedeutung hatte. Dennis Francis, Baerbocks Vorgänger, schaffte es nicht ein einziges Mal in den "Spiegel", auch dessen Vorgänger Csaba Kőrösi wurde ignoriert und geschnitten wie zuvor schon Tijjani Muhammad Bande, Volkan Bozkır und Abdulla Shahid. Alle diese Männer präsidierten für ein Jahr. Keiner von ihnen schaffte das Kunststück, das dem späteren SPD-Chef Martin Schulz als Präsidenten des Europäischen Parlaments glückte: Eine Position ohne jede Bedeutung in eine zu verwandeln, deren Inhaber mit Ehrfurcht betrachtet wird, weil er den Eindruck zu erwecken versteht, dass er am ganz großen Rad dreht. 

Schulz' Nachnachfolgerin Roberta Metsola kann das nicht. Und wie ihr unglücklicher David Sassoli schadet sie damit dem Amt: In der "Tagesschau" kam die maltesische Christdemokratin im zurückliegenden Jahr einmal vor. Am Tag ihrer Wahl.

Abschiedsgesang auf eine Ära 

Wird es Annalena genauso gehen? Sind die Hymnen, die ihr zur erfolgreichen Wahl  durch die UN-Generalversammlung gesungen wurden, schon der Abschiedsgesang auf eine Frau, aus der wider jede Wahrscheinlichkeit Großes geworden ist? Als Präsidentin der "UN-Vollversammlung", wie die "Zeit" die UN-Generalversammlung nennt, braucht die 44-Jährige viel diplomatisches Geschick und eine sehr gute Pressearbeit, um außerhalb des Sitzungssaales gehört zu werden. Auch ihr Englisch, selbstbewusst und sehr selbstverständlich gesprochen, aber aus sich selbst heraus oft nicht verständlich, wird kaum ein Jahr lang tragen, um Baerbock die ersehnte Aufmerksamkeit zu bescheren.

Etwas muss kommen und etwas plant Baerbock schon. Sie werde "das Amt nicht nur zeremoniell als Sitzungspräsidentin" ausfüllen, hat sie angekündigt. Zudem wolle sie "die aktuelle Krise der Vereinten Nationen als Chance begreifen" und "Doppelstrukturen" abbauen, um "die Effizienz und die Transparenz der UN zu verbessern". Dies sei "harte Arbeit, aber Arbeit, die wir tun müssen", hat sie eine Welt wissen lassen, die nun gespannt wartet. 

There and anywhere 

Der erste Tag im neuen Amt brachte zumindest in Deutschland wie erwartet erste große Schlagzeilen. Doch wird Annalena Baerbock auch in ein paar Wochen noch als wichtige Politikerin an der Spitze der Uno gefeiert werden? Frank Sinatry hat Annalena Baerbock den besten Rat gegeben: "If I can make it here, I′ll can make it anywhere. Wenn ich es hier schaffe, schaffe ich es auch daheim.

Grenzschutz vor Gericht: Gekommen, um zu bleiben

Open range Refugees Europe
Mit dem Verwaltungsgerichtsurteil aus Berlin bliebt alles, wie es ist: In ist, wer drin ist.

Demonstrativ bis zur entmenschten Brutalität vergangener Zeiten. Selbstbewusst rechtswidrig selbst noch nach der Verurteilung durch ein deutsches Gericht. Und offenbar ohne jedes Schuldbewusstsein und Verantwortungsgefühl, obwohl sonnenklar ist, dass die Zurückweisungen von Asylsuchenden an der deutschen Grenze, die Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) Anfang Mai anordnete, für Rechtspopulisten im In- und Ausland ein gefundenes Fressen sein werden. Wenn Europas zentraler Vorbildstaat das tut, so wird es bei den Figos, Orbans, Fredriksens und Melonis heißen, dann müssen wir uns nicht mehr zurückhalten.

Zeitenwende vor Gericht 

Ausgerechnet die Grenzschließungen als einziges seiner zentralen Wahlkampf-Versprechen umsetzen zu wollen, stellt sich für den neuen Bundeskanzler Friedrich Merz als fatale Fehlentscheidung heraus. Seit das Verwaltungsgericht Berlin in einem Eilbeschluss auf Antrag der Organisation Pro Asyl entschieden, dass drei in Frankfurt (Oder) aufgegriffene Somalier, die illegal aus Polen eingereist waren, nicht in das sichere Nachbarland hätten zurückgeschickt werden dürfen. Die beiden Männer und eine Frau hätten das Recht auf eine Prüfung ihres Asylbegehrens, so das Berliner Verwaltungsgericht - bundesweit eines von 51 Verwaltungsgerichte, die die erste Instanz der Verwaltungsgerichtsbarkeit bilden. 

Ein Urteil wie Donnerhall. Ehe eine Abschiebung nach Polen erfolgen könne, sei ein Verfahren nach der Dublin-3-Verordnung der EU notwendig, in dem aufwendig und juristisch mehrfach  anfechtbar zunächst der EU-Staat festgestellt wird, der für das Asylverfahren zuständig ist. 

Dieser Staat muss dann förmlich um Rücknahme des Geflüchteten gebeten werden. Erklärt er sich in einem seltenen Fall dazu bereit, ist der Betroffene zur freiwilligen Ausreise aufzufordern. Weigert er sich, folgt bei Weiterzahlung der vollen Sozialhilfebezüge eine in der Regel mehrere Jahre dauerndes Verfahren zur Ausweisung, das in seltenen Fällen bis zu einer vorübergehenden Inhaftierung gehen kann, wenn ausreichend Haftplätze verfügbar sind. 

Im dritten Versuch 

Die drei "So­ma­lie­r:in­nen" (Taz) hatten es bei ihrem dritten Einreiseversuch bis nach Frankfurt an der Oder geschafft, in eine frühere Industriestadt, die heute vor allem dafür bekannt ist, zu den Gemeinden Brandenburgs mit der größten Schuldenlast zu zählen. Erstmals, berichten Medien, hätten sie bei diesem Einreiseversuch ein Asylbegehren geäußert - seit Jahren der mächtige Zauberspruch, der in mehr als 90 Prozent der Fälle zur dauerhaften Wohnsitznahme in Deutschland berechtigt. 

Unglücklicherweise aber scheint der neue Innenminister Alexander Dobrindt entschlossen, seine angekündigte harte Linie gegen Schutzsuchende dauerhaft zu demonstrieren: Am 7. Mai hatte er die Bundespolizei angewiesen, Asylsuchende an der deutschen Grenze abzuweisen, so dass sie gegen ihren Willen in dem Nachbarland verbleiben müssen, aus dem sie auszureisen versuchen. Kritiker zweifeln, dass die Personenfreizügigkeit, die dem Schengen-Raum nach dem Willen seiner Gründer innewohnen sollte, solche drastischen Einschränkungen zulässt. 

Abweisung nur außerhalb 

Allerdings befindet sich Dobrindt in solchen Fällen auf sicherem Boden: So lange ein Schutzsuchender deutschen Boden nicht betreten hat, kann er deutschen Behörden gegenüber kein Asylbegehren äußern. Das hat das Verwaltungsgericht auch im Fall der drei Somalier ausdrücklich bestätigt. Zuständig bleibt dann der Staat, in dem er sich aufhält - im Falle der drei Somalier wäre das Polen gewesen.

Kein guter Ort, um schwarz zu sein, erst recht nicht nach der Wahl vom Sonntag. Um also nicht wieder vor dem Grenzübertritt abgewiesen zu werden, begaben sich die Schutzsuchenden unerkannt über die Grenze ins Sehnsuchtsland aller Flüchtenden. Erst im Zug nach Frankfurt wurden sie aufgegriffen und umgehend nach Polen zurückgebracht - eine Zurückweisung, ausgesprochen auf deutschem Gebiet, die nachvollziehbarerweise rechtswidrig war. Bei der Taz wird das mit der Zeile gefeiert, "die Zurückweisung Asylsuchender an der deutschen Grenze sei rechtswidrig. Näher an den Tatsachen ist die "Tagesschau", die die "Zurückweisung Asylsuchender hinter Grenze rechtswidrig"nennt. 

Keine andere Wahl 

denn zwischen "an" und "hinter" liegt ein kleiner, aber entscheidender Unterschied. Die Berliner Verwaltungsrichter, inzwischen wegen einer Nähe zu den Grünen heftig angegriffen, hatten gar keine andere Wahl, als zu befinden, dass deutsche Behörden in Deutschland aufgegriffene Asylbewerber nicht einfach abschieben dürfen. Deutsches wie EU-Recht schreibt für diesen Fall vor, dass geklärt werden muss, welcher EU-Staat nach den komplizierten und immer wieder geänderten gemeinsamen EU-Regeln für ihren Asylantrag zuständig ist.

Die zentrale Lage Deutschlands, die über Jahre ein Segen war, weil sie verhinderte, dass allzu viele  Bewerber um einen dauerhaften Aufenthalt eintrafen, sie bleibt damit der große Nachteil des Landes, das seit 2015 rund 2,5 der insgesamt 6,8 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat, die sich nach Europa aufmachten. 

Seit die Randlagestaaten an den Außengrenzen angesichts des "Zustroms" (Merkel) beschlossen hatten, neuankommende Flüchtlinge durchzuwinken, statt die eigentlich vorgeschriebenen Asylverfahren in dem Land zu starten, in dem sie zuerst EU-Boden betreten, wandert alles durch. Bis es in der Mitte ankommt. Dort, wo Deutschland liegt, das zudem mit den besten Aufnahmebedingungen aller 27 Mitgliedstaaten lockt.

8.500 Kilometer, acht sichere Herkunftsstaaten

Der Weg von Somalia nach Frankfurt/Oder ist 8.500 Kilometer lang, er führt auf kürzestem Weg durch acht sichere Herkunftstaaten und kennt doch nur ein legitimes Ziel: Deutschland gilt am Horn von Afrika, eine Region, die US-Präsident Donald Trump in seiner ersten Amtszeit unter großem Protest als Heimat von "shithole countries" bezeichnet hatte, als das gelobte Land für jeden, der schafft, es zu erreichen. Den drei Somaliern gelang das über Belorusslanddasfrühereweißrussland. Von dort reisten sie nach Litauen. Dann nach Polen. Ihr Ziel aber war Deutschland.

Hier gab es in den zurückliegenden zehn Jahren  keine zwei Handvoll Abschiebungen nach Somalia. Mehrere Kläger erreichten gar ein gerichtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5. AufenthG, weil  die "schlechte humanitäre Lage in Somalia zwar keinen Anspruch auf subsidiären Schutz" begründe, die Situation im Land auch "nicht durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung" ausgesetzt sei und selbst die "schlechte humanitäre Situation in Somalia bei einer wertenden Gesamtschau nicht dazu" führe, dass eine Rückführung "generell ausgeschlossen" wäre (Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, OVG 4 B 8/22).

Aber eben doch 

Aber nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls und der Berücksichtigung der individuellen Situation stellte sich eben doch meist heraus, dass das "erforderliche Mindestmaß an Schwere" bei einer Rückkehr nach Somalia erreicht würde. Und der Kläger demnach das Recht habe, subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 AsylG zu erhalten - keine Rückkehr nach Somalia, nie mehr. Somalier stellen heute nach Syrern, Afghanen, Türken und Irakern die fünfgrößte Gruppe an ZufluchtsuchendenNach den Angaben von Laenderdaten.info, wurden im Jahr 2025 bereits 5.301 Erstanträge auf Asyl von Somaliern in Deutschland gestellt. Im gesamten vergangenen Jahr waren es mit knapp über 6.000 kaum mehr.

In ist, wer drin ist. Auch wenn das Verwaltungsgerichtsurteil politisch missbraucht wird, um die behauptung aufzustellen, "Zurückweisungen bei Grenzkontrollen sind rechtswidrig", wie es der Grünen-Politiker Konstantin von Notz tut, ändert das nichts an der Sachlage: So lange Asylsuchende vor dem Übertreten der deutschen Grenze abgewiesen werden, steht das im Einklang mit dem EU-Recht und Artikel 16a des Grundgesetzes. Die basiert auf der Annahme, dass niemand, der sich in einem sicheren Drittstaat befindet, einen Anspruch darauf hat, in Deutschland einen Asylantrag zu stellen.

Faesers langes Sträuben 

Die von seiner Vorgängerin Nancy Faeser erst nach langem Sträuben angeordneten Grenzkontrollen, die Dobrindt verschärft hat, sollen genau solche Fälle wie den der drei Somalier verhindern: Auf eine illegale Einreise folgt ein Asylantrag. Der allein berechtigt meist zu einem jahrelangen Aufenthalt. Und selbst wenn eines Tages der Moment kommt, an dem die Richtlinie 2008/115/EG – Normen und Verfahren zur Rückführung illegal aufhältiger Nicht-EU-Bürger zum Tragen kommen müsste, findet sich der eine oder andere Weg, der "Beendigung des illegalen Aufenthalts" (EU) auszuweichen.

Die entsprechende Vorschrift des Europäischen Parlaments und des Rates stammt vom 16. Dezember 2008 und sie ist so bestimmt wie lebensfremd. In mehr als zwei Jahrzehnten seitdem haben mehrere EU-Kommissionen, mehrere EU-Parlamente und viele Dutzend Regierungen der Mitgliedsstaaten immer wieder nachgeschärfte Flüchtlingspläne und Eindämmungsstrategien vorgelegt -  von der "Mutter aller Gipfel" 2018 bis zur "durchdachten und gemeinsame Lösung bei Migration" im vergangenen Jahr.  

Weder noch 

Herausgekommen ist nichts, nicht einmal aus dem zehnten Zehn-Punkte-Plan, in dem Ursula von der Leyen im Oktober 2024 "innovative Ideen" vorstellt, um "die Zahl der in Europa ankommenden Migranten zu vermindern und abgelehnte Asylbewerber schneller zur Ausreise zu zwingen". Friedrich Merz' hatte dagegen die einfache Lösung versprochen: Wenn keine Asylsuchenen mehr nach Deutschland einreisen dürfen, muss weder ein Asylverfahren noch ein Dublin-Verfahren zur Feststellung des EU-Staats, der für das Asylverfahren zuständig ist, in Deutschland durchgeführt werden.

Zudem macht der bisherige Endabnahmestaat Deutschland Druck auf die Durchwinkeländer: Was die reingelassen haben, werden sie künftig nicht mehr los. Das Kalkül des Kanzlers ist eine Asylwende, die er am Ende nicht selbst vollziehen muss. Mehr noch als die demonstrative Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze war die Ankündigung solcher Zurückweisungen wichtig. Bedeutender noch als niemanden mehr zurückzuweisen, ist die symbolische Botschaft an fremde Länder und ferne Gestade, dass Deutschland jetzt tut, was Ungarn seit zehn Jahren macht. 

Merz und Dobrindt wird die Aufregung  um das Berliner Urteil recht sein. Sie gibt ihnen Gelegenheit, sich als harte Männer zu inszenieren, die nicht beim ersten bisschen Gegenwind umfallen. 

Dienstag, 3. Juni 2025

HateAid: Verstärkung für die Hassfront

Das System der Trusted Flagger nimmt endlich auch den Wirkbetrieb auf.

Die Ersten werden keineswegs nicht die Letzten sein, das war schon  im vergangenen Jahr klar, als die Bundesnetzagentur (BNetzA) die ersten Trusted Flagger zu Überwachung des erweiterten Meinungsfreiheitsschutzes in Dienst stellte. Mit der  "Meldestelle REspect!" gelang es dem erst kurz zuvor neugegründeten BNetzA-Department Digital Services Coordinator (DSC) gleich zum Start, eine renommierte Freiwilleneinheit zu rekrutieren. Schöner Erfolg: Bisher konnte durch die Tätigkeit der Trusted Flagger genannten Helfer der Gedankenpolizei bereits ein Rückgang des Hasses um mehr als 27 Prozent erreicht werden.

Misstrauen ist alternativlos 

Die Bundesnetzagentur hat nun endlich nachgelegt, denn die Probleme im Internet werden immer größer. Trump wurde gewählt, Minister der US-Regierung haben sich erpresserisch Richtung Gedankenfreiheit geäußert und mit den Wahlen in Rumänien, Deutschland und Polen zeigte sich, dass die verbotene Beeinflussung der Bevölkerung keine Eintagsfliege ist. Aufregung ist angebracht, Misstrauen alternativlos. Ohne mangelndes Vertrauen der Bevölkerung gegenüber kein sicheres Regieren. Meinung sind gut, aber gepflegt müssen sie sein.

Dafür sorgen sollen jetzt neben dem Bundesverband Onlinehandel und der Verbraucherzentrale Bundesverband auch die erfahrenen Meinungsbekämpfer der in Berlin und Brüssel beheimateten gemeinnützigen GmbH HateAid. Deren Trägerbetrieb Campact gehört zu den staatlich finanzierten Nichtregierungsorganisationen (NGO),  die von CDU und CSU im Vorfeld der Wahl hart angegriffen worden waren. Im Überschwang der Siegesgewissheit hatte der heutige Bundeskanzler Friedrich Merz versucht, das über Jahre sorgsam aufgebaute System der Fördermittelmelkanlagen mit Hilfe von 551 Fragen zu torpedieren, um sein konservatives Profil zu schärfen. 

Glück für unsere Demokratie 

Glück für die Zivilgesellschaft und unsere Demokratie: Nach der Wahl steuerte Merz um. Im Koalitionsvertrag wird die "bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen", wie sie in der Vergangenheit etwa durch Märchen, Künstler und Satiriker an der Tagesordnung gewesen war, unabhängig vom Einzelfall als "durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt" bezeichnet. Auch die "gezielte Einflussnahme auf Wahlen" etwa durch Plakate und Wahlwerbespots nennen die Koalitionäre dezidiert als "ernste Bedrohung für unsere Demokratie, ihre Institutionen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt". 

Die im Fahrplan für die kommenden vier Jahre angekündigt "staatsferne Medienaufsicht unter Wahrung der Meinungsfreiheit auf der Basis klarer gesetzlicher Vorgaben" sollen die neuen Meldestellen bei Facebook, X und TikTok durchsetzen. Es gehe darum, das Vorgehen gegen verbotene Postings auf Social Media zu stärken, hat das frühere Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" über die Verpflichtung der neuen Hassjäger geschrieben. Die neuen Meldestellen sollten helfen, "der Flut an Inhalten auf Facebook, X oder TikTok Herr zu werden", gegen die die Beamten der Hassmeldestellen des Bundesblogampelamtes (BBAA) im mecklenburgischen Warin seit Jahren vergebens angehen.

Zentrale Hassmeldestelle 

Auch der Beginn des Wirkbetriebes der Zentralen Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet (ZMI BKA) vor drei Jahren vermochte es nicht, diese Flut an Inhalten einzudämmen, Erlaubtes von Schockierendem zu trennen und Leitplanken für eine saubere, übersichtlichen Diskussionskultur zu ziehen. 

Seinerzeit waren eigens zur Abschreckung von Meinungsverbrechern Teile der dezentralen Meldestrukturen, die in den Bundesländern zur Bekämpfung von Hass und Hetze im Internet bereits bestanden, zentral zusammengeführt worden, um die von den Plattformen eingehenden elektronischen Pflichtmeldungen zu bekannt gewordenen strafbaren, zweifelhaften, unrechtmäßigen, illegalen oder nicht legalen Inhalte und deren Urhebern nachzuermitteln und die Tatverdächtigen abzustrafen.

Abschreckung von Inhalten 

Gebracht hat das wenig, selbst die öffentlichkeitswirksam vollzogenen Schauprozesse etwa gegen den "Schwachkopf"-Rentner und mehrere andere mutmaßlich schwerkriminelle Provokateure verfehlten den anvisierten Abschreckungseffekt. Die "Flut an Inhalten", die ungeprüft in die Öffentlichkeit geraten, schwillt weiter an, Kontrollorgane sind überfordert, Behörden ersticken in lähmender Verwaltungsbürokratie. 

Die Durchsetzung der EU-Initiative zur Vorabprüfung von Meinungsäußerungen scheitert bisher an der Zögerlichkeit einiger Mitgliedstaaten, gegen die selbst Ursula von der Leyens übliche Strategie "Inszenieren, emotionalisieren, die Realität ausblenden" (Der Spiegel) keine Chance hat. Statt in der gesamten Europäischen Union, ein "sicheres, vorhersehbares und vertrauenswürdiges Online-Umfeld" aus gleichartigen Ansichten ohne Widerspruch zu schaffen, das die Grundrechte schützt, indem es Verletzungsversuche unmöglich macht, treibt es selbst eingeschworene Verbündete auf die Barrikaden, die staatliche Bevormundung und Zensur wittern.

Deutschland setzt dagegen auf unabhängige digitale Deichgrafen, die die Flut an verbotenem Gedanken eindämmen sollen, um der Inhalte Herr zu werden. Die einzelnen von Amts wegen zertifizierten Trusted Flagger agieren unter dem Schutz der Anonymität. Sie durchstreifen das Internet auf der Suche nach Hetze, Hass und Zweifeln, können aber auch mutmaßlich verbotene Inhalte wie Hohn an Techkonzerne wie Meta melden. Als staatliche Beauftrage, die im vom "Digital Services Act" (DSA) der EU vorgeschriebenen engmaschigen System der Meinungsaufsichtskontrolle agieren, müssen auch US-Konzerne zertifizierte Hassmeldungen und Hinweise auf Hate Speech umgehend im Rahmen von Artikel 5 GG löschen.

Rigider Meinungsschutzes der Ampel

Für HateAid ein Glücksfall. Noch vor vier Jahren klagte die Organisation über so spärlich tröpfelnde Spenden, dass nur 13,3 Prozent der eigenen Tätigkeit selbst finanziert werden konnten. Auch später ging angesichts des rigiden Meinungsschutzes der Ampelregierung die Angst um, dass Fördermittel für nach einer Verzehnfachung innerhalb der vergangenen zehn Jahre gekürzt werden könnten und der gesamten, weltweit einmaligen Start-Up-Landschaft aus hauptamtlichen Hassbekämpfungsunternehmen das Aus drohe.

Mit der Institutionalisierung der Förderung der zuständigen Organe über die "Trusted Flagger" und deren Träger ist ihr Erhalt heute ebenso gesichert wie die staatliche Finanzierung der Eigenmittel. Dafür müssen die beauftragten Stellen laut Bundesnetzagentur einmal im Jahr einen Tätigkeitsbericht veröffentlichen, in dem unter Angabe von klug montierten Zahlen und Prozentsätzen nachgewiesen wird, dass immer mehr strafbare Inhalte "von radikalen Kräften verbreitet werden", wie HateAid-Geschäftsführerin Josephine Ballon in der Pressemitteilung zur Feier der Zertifizierung der Organisation.

Bereits u.a. bei NDR und RTL 

Die war 2018 von der "Journalistin und Sozialunternehmerin" Anna-Lena von Hodenberg gegründet worden, einer Frau die - sämtlichen Quellen zufolge - "in der Nachrichtenberichterstattung für RTL und den NDR", "bereits für RTL und NDR" oder auch "u. a. für RTL und den NDR" gearbeitet hat. Gründungspartner war damals der Gemeinnutzgigant Campact, der zuletzt Aufsehen erregt hatte mit einer Kampagne, die den Ausverkauf deutscher Interessen ins Ausland verhindern sollte. Zu den Gesellschaftern gehört heute auch der Fearless Democracy e. V. des ehemaligen Werbestrategen Gerhard Hensel, der nach einem privaten Boykottaufruf gegen Andersdenkende seinen  Job bei der SPD-Werbeagentur Scholz & Friends hatte aufgeben müssen.

Die Umsetzung des Digital Services Act in die Meinungspraxis gehen die HateAid-Aktivisten als  Versuch an, "unsere Demokratie, die EU-Mitgliedstaaten und jeden einzelnen Nutzenden gegen die Willkür der Tech-Plattformen zu verteidigen", wie Ballon sich zitieren lässt. Die Einsätze gegen Ansichten gelten offiziell nicht als Eingriffe in die Meinungsfreiheit, sondern als "eine Art Vorsortierung" (Der Spiegel) unerlaubter Inhalte, aus deren Regulierung letztlich eine neue Art Freiheit entstehen soll. 

Staatliche Schlichtungsstelle 

Was verdächtig ist, wird gemeldet. Unternehmen wie TikTok, Facebook oder YouTube müssen dann in einem zweiten Schritt entscheiden, ob gesperrt, gelöscht oder Anzeige erstattet werden muss. Nutzer, die ohne ausreichende Sach- und Fachkenntnis annehmen, dass ihre fragwürdigen Posts zu Unrecht entfernt wurden, können bei einer staatlichen Schlichtungsstelle vorstellig werden und Einspruch einlegen. Durch die zudem vom Staat gewährte Möglichkeit, in langwierigen und kostspieligen Gerichtsverfahren gegen möglicherweise falsche Entscheidungen vorzugehen, bleibt die Meinungsäußerungsfreiheit umfassend gewahrt. 

Verkehrte Wahl: Nun ist Polen doch verloren

Polen Fahle Nationalismus
Ein Nationalist hat in Polen die Wahl gewonnen. Die Demokratie ist schwer beschädigt.

Es war denkbar knapp, nicht einmal ein einziges Prozent der abgegebenen Stimmen lag zwischen der schlussendlichen Diagnose, Polen sei ein tief gespaltenes Land und der, dass Heilung und Rettung für Deutschlands östlichen Nachbarn nach diesem Wahlergebnis in greifbare Nähe gerückt seien.  

Die nicht einmal ganz 51 Prozent der Stimmen, mit denen der Rechtsnationalist Nawrocki laut Wahlkommission die Präsidentschafts-Stichwahl in Polen gewann, werden nun jedoch das Gegenteil bewirken. Wie ein fairer Verlierer hat der zuvor als Favorit gehandelte demokratische Kandidat Trzaskowski seine Niederlage. Doch es ist keine, die nur Polen allein schwer trifft, sondern das Herz ganz Europas.

Die autokratische Versuchung 

Die "autokratische Versuchung" sei zurück, ordnet die "Zeit" ein Wahlergebnis ein, das ähnlich disruptiv auf die ohnehin zerstrittenen, sich gegenseitig mit Vorwürfen, Gerichtsverfahren und Geldstrafen überziehende Wertegemeinschaft wirken könnte, wie es das in Rumänien zweifellos getan hätte, wäre das dortige Verfassungsgericht den Wählerinnen und Wählern nicht noch in letzter Sekunde in den Arm gefallen.  

Nachdem ein "aggressiver russischer hybrider Angriff" über das chinesische Videoportal TikTok die Rumänen dazu gebracht hatte, statt der angebotenen demokratischen Kandidaten den rechtsextremen, parteilosen und russlandfreundlichen Kandidaten Calin Georgescu zu wählen, musste die Abstimmung rückgängig gemacht werden. 

Demokratie im zweiten Anlauf 

Im zweiten Anlauf glückte es dann, den richtigen Nachfolger für Präsident Klaus Iohannis zu finden. Nicusor Dan ist ein Europäer, der sich im Streit um die Zulässigkeit der gleichgeschlechtlichen Ehe war vor Jahren von seiner von ihm selbst gegründeten Partei, nachdem die sich mehrheitlich für die Ehe für alle ausgesprochen hatte. Auf den aber in Europadingen Verlass sein wird, schließlich hatte er bei der später für ungültig erklärten Wahl noch nicht einmal kandidiert und erst die große Not im Land, das auf der Suche nach einem europatreuen Kandidaten war, machte den parteilosen Bukarester Bürgermeister zur ersten Wahl.

Auch das demokratische Polen hatte auf einen beliebten Kommunalpolitiker gesetzt und den Warschauer Oberbürgermeister Rafał Trzaskowski nominiert. Trzaskowski hat sich im Europäischen Parlament hochgedient, er war zunächst Berater, dann selbst Abgeordneter, schließlich Staatssekretär für europäische Angelegenheiten und Vizepräsident der Europäischen Volkspartei. Eine Bank für alle, die Europa lieben, wenn es sich im Gewand der Europäischen Kommission zeigt. 

Katastrophe für den Rechtsstaat 

Doch in Polen, einem Land, das in den zurückliegenden Jahren der Tigerstaat der maladen Krisengemeinschaft unter Brüsseler Ägide war, ist das keine Mehrheit. Die fand sich hinter Karol Nawrocki ein, einem studierten Historiker mit Spezialgebiet Verbrechen des Kommunismus, der als Museumsdirektor gearbeitet hat. So rum wird ein Schuh draus, befand Georg Restle: Das Wahlergebnis sei "eine Katastrophe für Demokratie und Rechtsstaat in Polen" und damit auch "für ein Europa, das immer tiefer gespalten ist".

So verwegen die Gedankenkette des "Journalisten über den Tag hinaus" (Restle über Restle) auch gehäkelt scheint, sie drückt das Unbehagen einer ganzen beobachtenden Klasse in Deutschland mit den demokratischen Entscheidungen in Partnerstaaten der EU perfekt aus. Wählen die Leute, was sie sollen, kann es knapp ausgehen, wie es will. Das richtige Ergebnis bestätigt stets den richtigen Kurs, es heilt Wunden und von einer Spaltung der Gesellschaft kann keine Rede mehr sein. 

Der Wille des deutschen Europa 

Anders liegt der Fall, wenn es schiefgeht und auf einmal ein Kandidat oder eine Kandidatin in ein Amt einzieht, in dem sie das deutsche Europa nicht sehen will. Die Post-Faschistin Georgia Meloni, der Niederländer Geert Wilders, Donald Trump und der Portugiese André Ventura könnten ein Lied davon singen, wie selbst noch nach dem demokratischen Votum der Wählerinnen und Wähler versucht wird, ihren Anhängern die Verantwortung dafür zuzuschreiben, dass niemand mehr eine ordentliche Mehrheit hat, um ungestört durchzuregieren. Oder aber die Falschen eine erobern konnten, so dass ein rechtsnationaler Ruck die proeuropäischen Bemühungen vorerst unzulässig ausbremst.

Zwischen richtig und falsch, gut und schlecht passt oft nur noch eine Tasse Wasser "auf die Mühlen weiter rechts stehender Kräfte". Niemand vermag das besser zu beschreiben als Georg Restle, der mit Blick nach Polen den häufig erst weitaus später verwendeten Nazi-Vergleich in die erste Runde der Totschlag-Debatte vorzog: "Auch der Sieg der Nazis in Deutschland war das Ergebnis einer Wahl und deren Folgen", argumentierte. Denn "Demokratie ist mehr als nur ein Verfahren."

Rauswurf aller Senderchefs 

Demokratie ist, wenn es Restle passt, wenn Washington spurt und in Warschau regiert, wer Berlin gefällt. Nicht einmal der Umstand, dass die demokratische Regierung von Donald Tusk es war, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk von Polen im Handstreich auflöste, nachdem es nach dem Rauswurf aller Senderchefs durch Tusk zu einem Streit mit Präsident Andrzej Duda gekommen war, vermag den Mann vom WDR zu irritieren.

"Kulturelle Errungenschaften wie Wokeness, korrektes politisches Denken und Handeln werden diskreditiert und durch rechtspopulistische Parolen ersetzt", vermerkt ein beunruhigter Leser im Kommentarkeller der "Zeit", der mit seinem Eintrag auf Parallelen zum Kinofilm "Idiocracy" hinweist.

"Wieder müssen die Menschen durch das rechte Tal der Tränen", schreibt ein anderer, dem wohl das italienische Wachstumswunder im Kopf herumschwirrt. Doch eins ist klar, dieser Kommentäter wird standhaft blieben: "Aber liebe stolze Polen, liebe stolze Ungarn, von euch Nationalidioten lass ich mir nicht die liberale europäische freiheitlich demokratische Grundordnung mit ihren Menschenrechten wegnehmen". Die EU müsse jetzt einfach "deutlich härter gegen Fake News und Hetze im Netz vorgehen".

Dünne Lippen gratulieren 

Dünnlippig haben Ursula von der Leyen und Walter Steinmeier gratuliert. Noch zwei, drei Tage, dann wird ein Tempolimit als Maßnahme gegen den Rechtsrutsch in der Debatte auftauchen und die Opposition im Bundestag Sanktionen fordern. Deutschland muss jetzt helfen, mit Rat und Tat, damit die Polen begreifen, dass Regierungschef Donald Tusk die angekündigte Vertrauensfrage im Parlament gewinnen muss. 

Die Alternative wäre für alle Europäer bedrohlich: Nawrocki hat wohl das - illegale - Ziel - die nationalistisch-konservative Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) zurück an die Macht zu bringen und der proeuropäischen Regierung Tusk ein bitteres Ende zu bescheren. Gemeinsam mit Viktor Orban in Ungarn und Robert Fico in der Slowakei dann ein sogenannter "russischer Staatenblock" in der EU entstehen, der in Opposition zur Mehrheit der anderen Staaten Europas steht, die sich an Deutschland orientieren. Dann wäre Polen doch verloren.

 

Montag, 2. Juni 2025

Ost-, Ost-, Ostdeutschland: Warum Ost-Meister nie aufsteigen

Der 1. FC Lokomotive Leipzig ist der 2003 neugegründete Nachfolger des FC Lok aus DDR-Zeiten.

Havel-was? Ein Dorf bei Hannover, keine 3.000 Seelen, ein Fußballplatz namens Wilhelm-Langrehr-Stadion, das 500 Plätze mehr hat als Havelse Einwohner. Die frühere TSV-Kampfbahn an der Hannoverschen Straße, erst vor wenigen Jahren zu Ehren eines örtlichen Bäckermeisters umbenannt, ist zum Ort der großen Niederlage des ostdeutschen Fußballs geworden.  

Mit einem deutlichen, verdienten und am Ende ein, zwei Tore zu niedrig ausgefallenen 3:0 im Relegationsrückspiel sicherte sich der TSV den Aufstieg in die 3. Liga. Der 1. FC Lokomotive Leipzig, nach eigener Lesart Ex-Meister, Ex-Pokalsieger und Ex-Europacupstarter, bleibt zurück in Liga 4.

Zurück in Liga 4 

Nicht nur geschlagen und nicht nur blamiert, sondern vorgeführt wie der gesamte Fußballosten. Dort wiegen sich Vereinsführungen, Fans und Medien traditionell im Gefühl, für Liga 4, rein technisch gesehen die oberste deutsche Amateurliga, sei viel zu schlecht für sie. Von Jena über Erfurt, Chemnitz bis Cottbus, den BFC Dynamo in Berlin, die 2003 unter dem Namen des Vorgängervereins neugegründete Lokomotive aus Leipzig, deren Ortsrivale Chemie und der Hallesche FC, überall glauben sie, dass mindestens Liga 3, eher aber doch Liga 2 als dauernder Aufenthaltsort für den eigenen Wettspielbetrieb angemessen sein.

Dass das Gros der Oberligavereine aus DDR-Zeiten heute dennoch in der vierten Liga herumdümpelt, eine Spielklasse, in der sich weiter westlich Größen wie Wiedersbrück, Rödinghausen und   Drochtersen/Assel oder Jeddeloh II tummeln, gilt als sportliche Ungerechtigkeit, die der Übermacht westlicher Verbandsfunktionäre zu danken ist. 

Obwohl im Osten der bessere Fußball gespielt wird, professionell, in fast durchweg nahezu nagelneuen modernen Stadien, mit Vollprofis als kickendes Personal und einer prallvollen Fankurve, in der Ultragruppen mit Feuerwerk, Nebeltopf und Quarzhandschuh jede irre Verwirrung nachspielen, die sich der großen Fußballbühne abgucken lässt, lasse eine Übermacht an Westvereinen den armen Osten einfach nicht hochkommen. 

Ostdeutsche Unterrepräsentation 

Keine Chance. 35 Jahre nach dem Ende des DDR-Fußballs ist die Lage schlimmer als im Bundeskabinett, schlechter als an den deutschen Universitäten, fürchterlicher als in allen Vorstandsetagen der großen Firmen. Dass mit Union Berlin und RB Leipzig nur noch anderthalb Vereine aus den ehemals neuen Bundesländern in der ersten Liga spielen, beklagte schon kaum mehr jemand. Immerhin gab es ja in der 2. Bundesliga noch Magdeburg. 

Unter den 36 besten Fußballclubs Deutschlands hielt sich der Anteil der Vertreter Ostdeutschlands damit zuletzt hartnäckig bei fast zehn Prozent, deutlich weniger als in guten Jahren, deutlich mehr als in den ganz schlechten. In der 3. Liga warteten aber mit Aue, Rostock, Cottbus und Dresden gleich vier Ostvereine auf die Chance, nach oben zu kommen. Und diesmal gelang es Dresden sogar, den Unfall von 2022 wiedergutzumachen und in die 2. Liga zurückzukehren: Den Meistertitel in Liga 3 holte sich zwar Bielefeld, ein Westverein. Doch Platz 2 reichte zum Aufstieg.

Scheitern hat Tradition 

Lok Leipzig dagegen scheiterte in der Relegation, einer Hürde, die den Meister der heute unter dem Namen "Regionalliga Nordost" firmierenden Ex-DDR-Oberliga immer wieder am großen Sprung nach oben hindert. Zehnmal haben Vertreter der selbsternannten stärksten Staffel der 3. Liga versucht, sich in einem direkten Kräftemessen mit dem Meister einer anderen Staffel durchzusetzen. Nur fünfmal gelang es. Abgesehen von den Ligen der RLSW Regionalliga Südwest GmbH, in der ehemals große Namen wie Offenbach, Stuttgarter Kickers und FSV Frankfurt herumdümpeln, ist die Bilanz keiner anderen Liga so schlecht.

Und aus keiner anderen  kommen deshalb seit Jahren immer lauter werdende Rufe, die Relegation, in der die eigenen Vertreter so oft scheitern, gehöre abgeschafft, denn "Meister müssen aufsteigen". Dabei handele es sich um eine Art Naturgesetz, dem vom Verband zur Geltung verholfen werden müsse. Alle möchten am liebsten beides: Ganz viele Mannschaften in der 4. Liga, in ganz vielen Staffeln, damit alles schön regional beieinander bleibt. Und aus diesen ganz vielen Staffeln sollen dann auch noch alle Meister immer direkt aufsteigen, ohne dass aus der Liga drüber gleich die halbe Belegschaft absteigen muss.

Nur weil die Fußballverbände drüben im Westen mehr Mitglieder haben und es dort mehr Vereine gibt, dürften die Regionalligen jenseits der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze nicht erwarten, mehr Vertreter in den Profifußball entsenden zu können. Das sei nicht fair, heißt es von Rostock bis Aue und Cottbus bis Halle, die Ostvereine mehr Zuschauer anzögen, professioneller geführt seien und in den moderneren Stadien zu Hause.

Nur die Ansprüche sind groß

Sportlich steht die Überlegenheit auch kaum infrage. Im Gegensatz zu Jeddeloh II, einem Club aus  einer Bauerschaft Jeddeloh II in der Gemeinde Edewecht im niedersächsischen Landkreis Ammerland, der in der Haskamp-Arena mit einer Kapazität von 2000 Plätzen spielt, oder dem SV Eintracht Hohkeppel, dessen größter Erfolg bisher ein Jahr in der 3. Liga war, sind die Ansprüche im Nordosten andere. Vereinschefs jonglieren hier mit Millionenetats, Städte veranlassen ihre örtlichen Sparkassen und kommunalen Unternehmen zumeist, die sportlichen Aushängeschilder zu finanzieren. Das Treiben der heimischen Ultra-Gruppierungen gilt als Teil originärer ostdeutscher Sportkultur. Jede Prügelei, jedes fast gesprengte Spiel ist ein Argument mehr dafür, dass die provinzielle Bühne viel zu klein ist für die großen Ansprüche.

Die sind mittlerweile politisch. 17 Vereine der Regionalliga Nordost starteten Anfang des Jahres eine gemeinsame Initiative, um die vermeintliche Benachteiligung des Ostens durch die aktuellen Aufstiegsregelungen zu beenden. Eine Ligareform soll die 4. Spielkasse so neu aufteilen, dass alle Meister aus allen Staffeln aufsteigen - für den Osten wäre das ein Gewinn, für den Westen ein Minusgeschäft. Dass es so kommt, scheint damit eher unwahrscheinlich.

Schlechte Verlierer 

Und wie schon 2020, 2022 und 2023, als sich der Meister der Regionalligastaffel Nordost in Relegationsspielen gegen Meister anderer Staffeln hätte durchsetzen müssen, um aufzusteigen, klappte es auch diesmal nicht. Der FC Lok schaffte daheim ein mühsames 1:1. Im Rückspiel dann wurden die Sachsen, ausgestattet mit einem Etat von angeblich drei Millionen Euro von der Provinztruppe aus Niedersachsen förmlich vorgeführt: Die Mannschaft des TSV, der seine Saison mit 200.000 Euro finanziert hat, siegte nicht nur klar und deutlich mit 3:0. Die Lok-Elf brach auch mental zusammen, Spieler verloren komplett die Nerven und lieferten das peinliche Schauspiel eines schlechten Verlierers. 

In den Gesichtern der Männer in Blau war zu sehen, wie sehr sie selbst an alles geglaubt hatten, was ihnen erzählt worden war. Bessere Liga. Professionellere Bedingungen. Bessere Spieler. Meister müssen aufsteigen. Müssen sie nicht, zumindest nicht, wenn sie sportlich nicht die Qualität mitbringen, sich gegen andere Meister durchzusetzen. So tragisch das Scheitern in einer Relegation ist, nach zahllosen Ligaspielen, die einen Verein am Ende zum Meister gemacht haben, so wenig tröstlicher ist die Lösung, die Zahl der Meister zu reduzieren, um sie automatisch aufsteigen zu lassen. Die Chancen auf den Aufstieg werden dadurch zwar für die einen größer, dafür aber die anderen kleiner. Und insgesamt gibt es für alle weniger davon.

Koch und Kellner: Strafsteuer für Amerika

Friedrich Merz  Weißes Haus  Donald Trump  Digitalabgabe  Plattform-Soli
Wer Koch und wer Kellner ist, wird Friedrich Merz am Donnerstag im Weißen Haus sehr deutlich machen.

Kurz vor peinlich kam er endlich, der seit Wochen ersehnte Termin. Friedrich Merz wird nach Washington reisen, mit nur unmerklicher Verzögerung, verglichen mit seinen Amtsvorgängern. Die stellten sich stets auch zuerst in den Nachbarstaaten vor. Unmittelbar danach aber ging es nach Übersee - zu partnerschaftlichen Gesprächen, sagten die einen. Zur Befehlsausgabe, raunten die anderen.  

Trump zögerte lange furchtsam 

Merz, der seine erste Begegnung mit Donald Trump am liebsten gleich hatte hinter sich bringen wollen, musste vier Wochen warten, bis das Weiße Haus Zeit für ihn fand. Das ist weniger lange als Angela Merkel auf grünes Licht von Barack Obama warten musste. Und auch weniger lange als Helmut Kohl auf Kohlen saß, ehe ihn Ronald Reagan endlich vorließ. 

Doch das Bangen war groß, ob es überhaupt zu einer Begegnung kommt. Würde Trump sich trauen, den neuen deutschen Kanzler vorzulassen? Und wie lange würde er brauchen, um sich ausreichend gewappnet für eine Begegnung zu fühlen, die über Wohl und Wehe des Westens entscheiden kann?

Der US-Präsident, das wird schon am Zeitablauf deutlich, hat Respekt vor dem neuen starken Mann Europas. Wenn Friedrich Merz am Donnerstag eintrifft, dann landet das kein lauer, vom Winde verwehter Verwalter europäischer Interessen in der US-Hauptstadt. Sondern ein selbstbewusster Wahlsieger, der einer Bundesregierung vorsteht, die in vier Wochen schon mehr geschafft hat als die Vorgänger in drei Jahren. 

Kein Bittsteller 

Merz hat dementsprechend schon vorab klargemacht, dass er als erster Bundeskanzler seit immer nicht auf Knien gerutscht kommt: Er komme nicht als Bittsteller, hat er signalisiert. Und Nachhilfe in Sachen Demokratie brauche Europa schon gar nicht. Selbstbewusst und ruhig will der Sauerländer dem gefürchteten US-Präsidenten in seinem Büro entgegentreten, im Rücken ein "Europa mit 500 Millionen Konsumenten", das "für viele US-Unternehmen der zweitgrößte Markt nach den USA selbst" sei. 

"Machen wir uns nicht kleiner, als wir sind", rückte der Kanzler die Verhältnisse zurecht, die gerade von den Amerikaner neuerdings immer gern geleugnet werden. Der Koch, der wohnt in Europa. Die Kellner, das sind die Amerikaner. Mögen deren aktuelle Anführer auch darauf verweisen, dass 340 Millionen US-Bürger ein Bruttoinlandsprodukt erzeugen, das ein Drittel über dem liegt, das 440 Millionen EU-Europäer zusammenbringen, so weiß Friedrich Merz doch, dass die Vereinigten Staaten mehr von der EU abhängig sind als umgekehrt. 

Der Hemmschuh USA 

Gelinge es nicht, sich zu einigen, hatte er Trump vor dem ersten persönlichen Treffen wissen lassen, dann müsse die deutsche Wirtschaft entscheiden, wie weit sie noch in den USA investieren wolle. "Und wir müssen politische Entscheidungen darüber treffen, wie wettbewerbsfähig wir sein wollen, notfalls auch ohne Amerika." Der Hemmschuh USA, der der EU wie ein Bleigewicht um den Hals hängt, er fiele dann weg. Ein Lastabwurf, der die Europäische Union endlich in die Lage versetzen würde, all die großen Ziele zu erreichen, die in der Vergangenheit immer wieder knapp verpasst worden waren.

Option eins ist das nicht, denn aus sentimentalen Gründen würde der erfahrene Atlantiker Merz gern weiter gemeinsam mit den Vereinigten Staaten dafür sorgen, dass klimagerechtes Wachstum überall mehr nachhaltige Gerechtigkeit erzeugt. Doch nicht um jeden Preis. Die Instrumente, um der US-Regierung klarzumachen, wer hier wen, hat Friedrich Merz demonstrative bereits auf den Tisch legen lassen. Noch vor der Bestätigung des Audienztermins ließ er seinen neuen Kulturminister Wolfram Weimer die Einführung einer neuen Strafsteuer für große Tech-Konzerne ankündigen, mit der die großen amerikanischen Tech-Konzerne künftig zur Kasse gebeten werden sollen. 

Niemand wer mehr zahlen müssen 

Diese "Digitalabgabe nach österreichischem Vorbild" würden etwa die Google-Mutter Alphabet und der Facebook-Konzern Meta treffen würde. Weimer drohte den US-Konzernen damit, dass eine entsprechende Gesetzesvorlage bereits vorbereitet werde. Sie ziele nicht nur auf Google, sondern "generell" auf "Plattform-Betreiber mit Milliardenumsätzen". Die neue Steuer ist wegen Merzens Versprechen, dass es keine Steuererhöhungen geben werde, von der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in Berlin auf den Begriff "Plattform-Soli" getauft wurde, soll bei zehn Prozent vom gesamten Umsatz der Unternehmen liegen. Das sei "moderat und legitim" hat Weimer errechnen lassen.

Und lukrativ wäre es auch: Die Umsatzrendite bei der Google-Mutter Alphabet liegt etwa bei 20 bis 25 Prozent bei Meta bei 30 Prozent, Amazon kommt auf zehn Prozent. Würde Deutschland, das wie die gesamte EU über keinen bedeutsamen großen Internet-Player verfügt, nur die im Land anfallenden Gewinne besteuern, ließe sich mit den Einnahmen kaum eine ordentliche Panzerdivision aufstellen. Eine Steuer auf den gesamten Umsatz hingegen verspricht ein ordentliches Stück vom Milliardenkuchen.

Doppelter Abgabesatz 

Vorbild ist Weimer zufolge Österreich, wo große Online-Plattformen schon seit fünf Jahren verpflichtet sind, eine "Digitalsteuer" in Höhe von fünf Prozent aller Umsätze aus der Werbevermarktung an den Staat abzuführen. Im Nachbarland liegen die Wachstumsraten der Wirtschaft noch hinter den deutschen - beide Staaten liegen sich in der EU auf Platz 26 und 27. Das deutsche Modell verdoppelt den österreichischen Digitalabgabesatz deshalb, vermeidet aber wegen Merz' Absage an Steuererhöhungen den Begriff "Steuer". Zwar wäre die Einführung einer neuen Steuer faktisch keine Erhöhung, doch die Bundesregierung will den Eindruck vermeiden, dass Kunden der großen Plattformen am Ende zahlen müssten. 

Ausdrücklich hat Merz "Beauftragter für Kultur und Medien" deshalb versichert, dass Nutzer von Google, Meta-Diensten und anderen Internetangeboten nicht zur Kasse gebeten würden. Zwar verrät die vorsichtige Formulierung, die Abgabe habe in Österreich "keine relevante Preisveränderung für Nutzer mit sich gebracht", dass es durchaus eine Preisveränderung gegeben hat, mit der die Konzerne die Mehraufwendungen an ihre Nutzer weiterreichen. Doch wie die frühere Außenministerin Annalena Baerbock mit ihren Vorschlag von "zehn Cent für jedes Apple-Update" zielt Weimar darauf, "viel Geld" (Baerbock) einzuspielen, ohne dem Einzelnen so viel wegzunehmen, dass er es in der Brieftasche spürt.

Zustimmung von Millionen 

Mit der Ankündigung, dort zuzugreifen, wo das Geld sitzt, kann sich die Bundesregierung der Zustimmung von Millionen sicher sein. Wichtig sei, dass die "Konzerne endlich einen kleinen Steuerbeitrag für die Gesellschaft leisten, also ihre gewaltige Marge etwas sinkt." Eine Steuer in Höhe von zehn Prozent des Umsatzes wäre für Deutschland deutlich lukrativer als die Körperschaftssteuer auf Gewinne in Höhe von 21 Prozent, wie sie die USA erheben.

Bereits 2021 meldete Google für Deutschland einen Umsatz von 11,3 Milliarden Euro, Amazon liegt bei über 30 Milliarden, Meta komme auf etwa fünf Milliarden. Für den deutschen Fiskus ergäbe sich mit der Einführung des Plattform-Soli eine zusätzliche Einnahme von mindestens fünf Milliarden Euro.

Mit den Plänen zur Durchsetzung einer solchen Vorschrift, im politischen Berlin intern "Multimediamelkmaschine" genannt, setzt Weimer einen Arbeitsauftrag aus dem Koalitionsvertrag von Union und SPD um. Dort heißt es unter der umsichtig formulierten Überschrift "Medienvielfalt stärken - Meinungsfreiheit sichern", dass man die Einführung einer Abgabe für Online-Plattformen prüfen werde, "die Medieninhalte nutzen". Damit gemeint sein kann alles und jedes Unternehmen, von ARD und ZDF bis hin zu Kinoketten, Radiosendern und Internetanbietern. 

Erlöse für den Medienstandort 

Auch das Versprechen, die "Erlöse" sollten "dem Medienstandort zugutekommen", verrät nicht, was genau CDU, CSU und SPD mit dem anvisierten Milliardensegen planen. Sicher ist nur: Im angespannten transatlantischen Verhältnis und inmitten des Zollstreits mit den USA wird die Ankündigung der neuen Steuer für US-Konzerne zu einer weiteren Verschärfung des aktuellen Konflikts führen. 

Ganz im Sinne von EU-Chefin Ursula von der Leyen, die zuletzt schon deutlich gemacht hatte, dass die EU bereit ist, als Vergeltungsmaßnahme im Zollkrieg auch eine neue EU-Steuer für digitale Dienste zu erheben, prescht Merz kurz vor seinem Besuch in Washington vor. Einziger Unterschied: Der neue Kanzler setzt auf einen nationalen Alleingang, der Geld in die klamme Bundeskasse spülen soll. Die Kommissionschefin  hingegen hatte eine europäische Lösung anvisiert. Die Einnahmen aus der Digitalsteuer, wie sie Mitte April noch genannt wurde, sollten einen EU-Fonds speisen, mit dessen Hilfe die bewährten EU-Vorschriften für die Pflege der Meinungslandschaft gegen Angriffe aus dem Ausland verteidigt werden könnten.  

Aufrecht bis zur Abschaltung 

Knicke die US-Regierung von Präsident Donald Trump nicht dankbar ein, sei eine Strafsteuer für US-Konzerne eine von "vielen möglichen Gegenmaßnahmen", sagte die Deutsche der "Financial Times". Der Gefahr, den Zugang zu den Diensten von Google, Microsoft, X, Facebook und den anderen im Netz dominierenden Konzernen zu verlieren, schaut die EU-Kommission dabei gelassen ins Auge. 

Um keinen Preis werde man die weltweit als vorbildlich geltenden EU-Vorschriften für digitale Inhalte und Marktmacht, die Trump-Beamte heute schon als Sondersteuer für US-Big-Tech-Unternehmen ansehen, zurücknehmen. Sondern eher noch neue Lasten aufsatteln, um die eigene Verhandlungsposition zu stärken.

Merz' Münsteraner Eröffnung hat den Traum der Kommissionspräsidentin von jahrelangen Verhandlungen auf dem Weg zu europäischer Einigkeit allerdings über Nacht zunichte gemacht. Vor allem aber hat sie Merz als mächtigen Gegenspieler Trumps etabliert: Der deutsche Kanzler kommt nicht mit leeren Händen, sondern mit einem ganzen Sack schmerzhafter Konsequenzen für Amerika. Um Schaden von der US-Wirtschaft abzuwenden, muss Donald Trump ein Angebot machen, das Merz gnädig stimmt.

Widerstand gegen die Strukturen 

Wolfram Weimer sieht das ähnlich. "Es muss sich jetzt etwas ändern", hat der frühere Journalist auf Deutschlands derzeit noch so fatale Abhängigkeit von der technologischen Infrastruktur der Amerikaner hingewiesen. "Wenn Google den Golf von Mexiko auf Druck von Donald Trump eigenmächtig in "Golf von Amerika" umbenennt und aufgrund seiner enormen Deutungsmacht in der globalen Kommunikation das einfach dekretiert, dann erkennen wir, welche Probleme in den derzeitigen Strukturen lauern." 

Trump setze solche Änderungen im Alleingang durch, handstreichartig, weil er auf seine Tech-Verbündeten vertreuen könne. Die weltweite Bekanntgabe deutscher Umbenennungen hingegen würden wie bei der Neubenamung der Berliner Mohrenstraße in Sirimavo-Ratwatte-Dias-Bandaranaike-Straße verzögert und verschleppt. Ein digitaler Soli könnte auch dieses Problem schnell aus der Welt schaffen.

Hoffnung auf Neuanfang 

In Kürze wird es so weit sein. Betrieben die großen Plattformen bisher mit Hilfe von willfährigen Steuerparadiesen "geschickte Steuervermeidung" (Weimer), die nationale und europäische Behörden immer zwang, sich über langwierige Gerichtsverfahren einen Anteil an den erwirtschafteten Gewinne zu holen, wächst jetzt die Hoffnung auf einen Neuanfang. 

Strategisch geschickt hat Merz die Ankündigung der deutschen Gegenmaßnahmen kurz vor seinen Besuchstermin in Washington gelegt. Was wie ein brüsker und ungeschickter Angriff auf Amerika aussieht, könnte den US-Präsidenten zur Besinnung bringen. Die digitale Drohung wird ein demütigendes Debakel verhindern, wie es der ukrainische Präsident Selenskyj und der südafrikanische Staatschefs Ramaphosa vor laufenden Kameras im Oval Office erlebt hatten. Bewaffnet mit der Zusatzsteuer, kommt Merz als starker Mann nach Washington, eine Führungsgestalt der EU, die beinhart verhandeln wird. "Zugewandt, aber selbstbewusst", wie der Bundeskanzler seine Strategie selbst beschrieben hat.

Einen  guten Draht zu Trump wird sich der Mann aus dem Münsterland nicht erbetteln. Auf einen groben Klotz wird er einen groben Keil schlagen und zeigen, dass Deutschland gut auch ohne Amerika kann, ein großer Handelskonflik für das Weiße Haus aber deutlich schwieriger durchzuhalten sein wird.