Donnerstag, 26. Juni 2025

Der Hassautomat: Je härter, desto Hetze

Die wirkliche Welt ist kein rechtsfreier Raum, doch wer solche Plakate unter dem Schutz der Anonymität klebt, muss kaum Konsequenzen fürchten.

Sie beschimpfen Staatsorgane, verunglimpfen Regierungsmitglieder, meckern über notwendige Maßnahmen und machen sie mit Hohn und Spott lustig über gebrochene Versprechen von Wahlkämpfern, kurzfristig zurückgezogene Entlastungszusagen und in den Stürmen der Zeit gekippter Grundüberzeugungen. Ihre Taten sind nur Worte, doch das macht sie nicht weniger gefährlich, wie schon der frühere Bundesjustizminister Heiko Maas festgestellt hatte. Wer spricht, der schießt auch. Wer meckert, der mordet.

Eine Erfolgsgeschichte 

Der Kampf gegen Hass im Netz hat keine lange, aber eine überaus erfolgreiche Geschichte. Erst vor zehn Jahren gingen Beamte beim ersten "Bundesweiten Aktionstag gegen Hasspostings im Netz" gegen ein Milieu vor, das der Ansicht ist, das Internet sei ein rechtsfreier Raum. Jener erste Aktionstag unter dem Motto "Entschlossen gegen Hass und Hetze" war ein voller Erfolg, auch wenn sich im Netz keine Spuren der bundesweiten Durchsuchungsaktion des Jahres 2015 erhalten haben. 

Doch sie begründete eine schöne deutsche Tradition: Seit jenem Jahr 2016 gehen Behörden immer wieder gegen strafbare Hasspostings und Hasskriminalität im Netz vor. Rituell werden im frühen Morgengrauen mutmaßliche Täter aufgesucht, Wohnungen durchsucht, Rechner und Smartphones beschlagnahmt und Pressemitteilungen über den jeweiligen harten Schlag gegen die Hassszene verbreitet.

"Hetze im Internet aller Art" 

Der Erfolg gibt der Strategie recht. Schon beim  zweiten "Bundesweiten Aktionstag zur Bekämpfung von Hasspostings"  im Jahr 2017 gingen den Fahndern von Bundeskriminalamt (BKA) und den 23 eingesetzten Polizeidienststellen 36 Beschuldigte ins Netz. Die Akteure, "überwiegend aus dem rechten Spektrum" bekamen am frühen Morgen Besuch. Wohnungen wurden durchsucht, Computer beschlagnahmt, erste Vernehmungen vorgenommen. Die Botschaft war klar: Das Internet ist kein rechtsfreier Raum, "Hetze im Internet aller Art dulden wir nicht", verdeutlichte der bayrische Innenminister Joachim Herrmann, dass selbst die Grammatik nicht im Wege steht, wo es um deutliche Signale geht.

Der Kampf war seitdem ein ungeheurer.  Immer wieder rückten die Fahnder aus, um der Hassszene ihre Grenzen aufzuzeigen. Das gemeinsame Vorgehen gegen Hass im Netz, bundesweit koordiniert und auf bestimmte Aktionstage konzentriert, zeigt im achten Jahr der morgendlichen Razzien Wirkung: Wurden 2017 in den Fallzahlen zur Politisch motivierten Kriminalität (PMK) noch 2.270 Fälle von Hasskommentaren gezählt, meldete das BKA als federführende Behörde schon 2024 eine Vervierfachung der Zahl der Fälle auf nun über 8.000. Zugleich konnte der Kreis der Verdächtigen ausgeweitet werden: Aus den 36 Beschuldigten des Jahres 2017 waren jetzt 70 geworden, der Hass im Netz musste bereits mit "130 Maßnahmen" zugleich zurückgedrängt werden.

Effektiver Hassausbau 

Die Zahlen, die offiziell zu mehr oder weniger strafbaren Hasspostings vorgelegt werden, sprechen eine deutliche Sprache. Mit jedem einzelnen Aktionstag und jeder morgendlichen Razzia ist die Anzahl der aufgeflogenen Hetzer gestiegen. Auch der parallel verfolgte Ausbau der Meldestellen für Hass und Hetze ist effektiv. Allein die hessische Anlaufstelle für besorgte Bürger konnte die Zahl der entgegengenommenen Hinweise auf mutmaßlich hassenthaltende Einträge im Netz in nur sechs Jahren von nicht einmal 700 auf mehr als 19.000 steigern. Auch mehr wäre drin, doch die derzeit knappe Personalausstattung mit nur acht Vollzeit- und sieben Teilzeitstellen setzt dem Engagement der vom Land Hessen mit einer Million Euro finanzierten zivilgesellschaftlichen Überwachungsstelle Grenzen.

Umso mehr muss der Aktionstag abschrecken und die eines Besseren belehren, die "den Unterschied zwischen Hass und Meinung verlernt haben", wie Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul die neue Front zwischen der erlaubten Nutzung von Artikel 5 Grundgesetz und dessen Missbrauch beschrieben hat. Erstmals gab es beim Aktionstag in diesem Jahr mehr als 180 polizeiliche Maßnahmen zu mehr als 140 Ermittlungsverfahren, eine Steigerung um mehr als Drittel in nur einem Jahr. 65 Wohnungen wurden durchsucht, zahlreiche Beschuldigte demonstrativ vernommen. 

Vermuteter Hintergrund 

Ihnen werde unter anderem Volksverhetzung und Beleidigung von Politikern vorgeworfen, heißt es offiziell, bei zwei Dritteln der aufgedeckten "strafbaren Hasspostings" lasse sich ein rechtsradikaler Hintergrund vermuten. Nur einzelne Fälle kommen aus den anderen Phänomenbereichen der linken, religiösen und ausländischen Ideologie oder seien gar ohne Zuordnung.

Eine vorläufige Bilanz, die bereits klar macht: Der massive Ermittlungsdruck, das Netz neuer Meldestellen, die Demonstrativprozesse gegen Verleumder und Verhetzer und die Etablierung des von der EU vorgeschriebenen staatlich lizenzierten Systems der Trusted Flagger, sie zeigen Wirkung. Als BKA-Chef Holger Münch damals die Erwartung formulierte, dass man zwar "nicht die Einstellung der Menschen ändern" könne, die ihren Hass ins Netz und auf die Straße trügen, aber mit Strafandrohungen immerhin deren "Verhalten im Netz ändern" werde, schmunzelten viele Beobachter. 

Münch hatte recht 

Heute zeigt sich: Münch hatte recht. Immer mehr Hetzparolen im Internet missbrauchen und untergraben das Verständnis von Meinungsfreiheit und sie unterminieren die staatlichen Anstrengungen für ein sauberes Netz. Aktuelle Zahlen bestätigen die Befürchtung, dass "verbale Gewalt" (Münch) weiter ungehindert einer breiten Öffentlichkeit aufgezwungen werden kann, so lange die zuständigen Organe die "digitalen Brandstifter" (Mimikama, BKA) gewähren lassen. 

Als würden sie die regelmäßigen Aktionstage als Einladung auffassen, verstärken die Netzhasser, Delegitimierer und Hetzposter ihre Aktivitäten immer mehr. Seit zehn Jahren schon scheint der Hass im Netz unkontrollierbar zu wachsen. Je entschiedener die strengen Maßnahmen gegen die Verursacher ausfallen, desto mehr scheinen die sich ermutigt zu fühlen, ihre verbale Gewalt  auszuüben. 

Vervierfachung seit 2021 

Die Zahl der Beschuldigten in einschlägigen Verfahren hat sich seit 2017 nahezu verhundertfacht, die Zahl der mutmaßlichen Straftaten stieg laut BKA von zuletzt noch 8.000 auf 11.000. Im Vergleich zu 2021, als die Statistik nur etwa 2.500 Fälle verzeichnete, entspricht das einer Vervierfachung. Das prozentuale Wachstum von 330 Prozent in nur vier Jahren liegt nur geringfügig unter dem Stellenaufwuchs bei HateAid, HessengegenHetze und anderen zivilgesellschaftlichen Einsatzorganisationen.

Aufrüstung an allen Fronten

Doch was bedeuten diese Zahlen? Ist der Hass im Netz tatsächlich so stark gewachsen, oder sind es die Mittel zu seiner Erfassung, die ihn sichtbarer machen? Tritt die Bedrohung durch die Bekämpfungsoffensive der vergangenen Jahre aus dem Dunkelfeld? Oder sorgt der massiv erhöhte Ermittlungsdruck dafür, dass das gesellschaftliche Bewusstsein für eine Bedrohung wächst, die als "Bademantelangst" längst zum höhnisch feierten Internetmeme wurde?

Fakt ist: Die Zahl der Polizeibeamten, die an den bundesweite  "Aktionstagen gegen Hasspostings im Netz" gezielt an die Haustüren Verdächtiger klopfen, hat sich verdoppelt. Waren 2017 noch einige hundert Beamte involviert, sind es 2025 mehrere tausend. Unterstützt von der Vielzahl der zivilgesellschaftlichen Anlaufstellen für virtuelle Gewaltopfer und der Zentralen Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet (ZMI) ist der Hochlauf der Erfassung Kurs auf die "circa 250.000 Meldungen, aus denen sich rund 150.000 Ermittlungsverfahren ergeben könnten", genommen, die BKA-Chef Holger Münch vor drei Jahren vorhergesagt hatte. 

Zentraler Feiertag 

Der "Tag gegen Hasspostings" ist der zentrale Feiertag der medienwirksamen Darstellung der staatlichen Entschlossenheit, die Öffentlichkeit für ein Problem zu sensibilisieren, dem der Großteil der Bürgerinnen und Bürger im Alltag kaum jemals begegnet. Was früher mit einem Kopfschütteln abgetan wurde – ein beleidigender Kommentar, ein grenzwertiger Post, eine unhöfliche Entgegnung  – wird heute ernst genommen und als Versuch bekämpft, die gesellschaftliche Spaltung zu vertiefen. Was früher im digitalen Rauschen verschwand, allenfalls bemerkt von vier, fünf Facebook-Lesern oder Twitter-Followern, landet heute in der bundesweiten Hassstatistik.

Auch, weil es gelungen ist, einen definitorischen Wandel durchzusetzen: Die Schwelle dessen, was als "Hass", "Hetze" oder "Zweifel" gilt, ist gesunken. Neben strafrechtlich schon immer relevanter Beleidigung und übler Nachrede zählen auch Hohn und Widerspruch zu Äußerungen, die das Spannungsfeld der zulässigen Meinungsfreiheit verlassen haben und auf eine sensibilisierte Gesellschaft strafbar wirken.  

Freiheit nicht zum Nulltarif 

Dass damit auch die Zahl der erfassten Fälle wächst, unabhängig davon, ob am Ende tatsächlich strafbare Hetze oder ein Ausbruch an "Hass" nachgewiesen werden kann, ist ein Kollateralschaden des notwendigen Kampfes gegen das Internet als rechtsfreier Raum. Altkanzlerin Angela Merkel hat früh davor gewarnt, dem Irrglauben aufzusitzen, man dürfe in Deutschland nicht mehr sagen, was man denke.  Das sei falsch, richtig hingegen sei, dass es Meinungsfreiheit nicht zum Nulltarif gebe. Wer sich im Ton vergreift, der muss zahlen, mit Geld und gutem Ruf. In einer freiheitlich-demokratischen Ordnung könne es eben "keinen regulationsfreien Raum geben", hat Merkel eben erst wieder bekräftigt. 

Dass die Begriffe "Hetze" und "Hass" im Strafgesetzbuch nicht auftauchen, regulatorisch also bislang nicht erklärt sind, ist kein Versehen oder Versäumnis. Der ungewisse Zustand schafft erst die Basis für die Aktionstage als Paradebeispiel für Symbolpolitik: Das BKA betont, dass die tatsächliche Hetze im Netz wächst. Der Verfolgungsdruck wird erhöht. Mehr mutmaßliche Täter gehen den Fahndern ins Netz. Und so bestätigt sich immer wieder die Diagnose, dass die Hetze im Netz wächst.

Der Hassautomat 

Ein perpetuum mobile, das nicht nur durch eine polarisierte gesellschaftliche Debatte, durch einen Verlust an guter Erziehung und eine Verachtung für traditionelle Höflichkeitsrituale befeuert wird, sondern auch durch die durch die breite Medienbegleitung gesteigerte Sichtbarkeit. Aus den Großredaktionen gesehen ist das Internet ein Hassautomat, dem Vater Staat nur mit noch mehr Durchsuchungen, Festnahmen und Pressekonferenzen beikommen kann. 

Die tatsächlichen Zahlen bleiben bei dieser Betrachtung sicherheitshalber außen vor. 67 Millionen Deutsche sind im Netz unterwegs. Sie unterhalten mehrere hundert Millionen Konten bei sozialen Netzwerken. Dort hinterlassen sie Tag für Tag so viele Milliarden Posts, dass es unmöglich ist, den Anteil der mutmaßlich hassenthaltenden Einträge in Prozent anzugeben. 


1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Hashtag Hasstag.

Warum nur ein Tag?
https://de.wikipedia.org/wiki/Hass-Woche

Hass-Woche ... ist der Name einer Propagandaveranstaltung in George Orwells Roman Nineteen Eighty-Four. Zweck dieser Form der Hasspropaganda ist es, den Hass auf den politischen Gegner der Partei so weit wie möglich zu verstärken, ...