Donnerstag, 12. Juli 2012

Vom Ausstieg aus dem Rechtsstaat

Selten sind sie, aber hin und wieder doch noch zu hören, die Stimmen der Vernunft, die dem rabiaten Rettungsgebrüll der Schäubles, Montis und Hollandes entgegenhalten, was der Grüpndungkonsens Europas war: „Die Finanzautonomie jedes Staates ist Voraussetzung für eine Demokratie, in der die Steuerzahler die staatlichen Rahmenbedingungen ihres Lebens und ihres Wirtschaftens finanzieren und in der sie selbst, repräsentiert durch ihre Abgeordneten, über die Staatsaufgaben, die Staatsausgaben, die Steuern und die Schulden entscheiden“, schreibt der frühere Verfassungsrechtler Paul Kirchhof in einem Beitrag für die FAZ, der so ziemlich das klarsichtigste Stück Aufklärungsliteratur ist, das eine deutsche Zeitung veröffentlicht hat, seit der Euro letztmals weniger als 1,22 wert war.


Damals begann die Retterei, die sich inzwischen nur noch selbst zu retten versucht. Es ist, als ob ein Ozeandampfer beschlossen hat, den eigenen Anker um jeden Preis über Wasser zuhalten – und sei es der, die eigene Inneneinrichtung komplett als Schwimmhilfe zu Wasser zu lassen. „Mancher Interpret des Unionsvertrages begleitet diese Entwicklung mit einer überdehnenden Interpretation der Vertragsinhalte“, analysiert Kirchhoff, „das, was um der Stabilität des Euro willen ausgeschlossen werden sollte, sei durchaus erlaubt. Andere bemühen das Stichwort von der Not, die kein Gebot kenne, empfehlen für eine Übergangszeit, sich um Rechtlichkeit und Vertrauenswürdigkeit nicht sonderlich zu bemühen.“

Aber das ist natürlich alles Unfug, von den einen benutzt, die eigenen Fehler bei der Gründung der Union oder die in der ersten Rettungsphase gemachten zu vertuschen, von den anderen insgeheim begeistert begrüßt, weil die Verhältnisse beim Tanzen schon immer am besten zu lenken waren.


Doch Kirchhoff weist zurecht darauf hin: Wer einen Ausstieg aus dem Rechtsstaat fordert und sei es nur für einen Moment, der opfert mehr als tote Paragraphen. „Ohne Recht wären wir in der Finanzkrise aller unserer Schulden ledig. Der Darlehensvertrag gälte nicht mehr, seine Verbindlichkeit wäre erloschen. Doch der Preis für diese Schuldenvernichtung wäre zu groß. Der Staat verlöre sein Gewaltmonopol, der Bürger könnte beliebig Waffen tragen und einsetzen. Die Staatsgewalt wäre nicht rechtlich geformt und gemäßigt, die Freiheit nicht garantiert. Der Markt hätte keinen rechtlichen Rahmen, Staat und Institutionen keine verbindliche Grundlage. Das soziale und kulturelle Existenzminimum für jedermann wäre nicht gesichert. Ohne Recht als Voraussetzung für jede Hoheitsausübung gibt es keinen modernen Verfassungsstaat, keine Europäische Union. Ohne Recht fehlt dem politischen Mandat seine Grundlage. Rat, Kommission und ihr Präsident, Parlament und Europäischer Gerichtshof wären ohne Legitimation und rechtlich definierte Aufträge. Regierungschefs, Minister, Abgeordnete dürften öffentlich debattieren, aber nicht für die Bürger entscheiden.Diese zentralen Errungenschaften der Moderne gingen verloren.“

Wir würden zum Faustrecht, zum Kampf aller gegen alle zurückkehren. Niemand wolle das, aber viele seien bereit, „im Heute ein Stück des Weges in die weitere Illegalität voranzuschreiten, weil dieser Weg beachtliche Gewinne verheißt oder auch nur die Chance bietet, drohende Verluste auf andere zu verschieben“. Daraus folgert eindeutig: „Eine Instabilität des Rechts wiegt schwerer als eine Instabilität der Finanzen.“ Wenn also „die Autorität des Rechts nur durch einen vorübergehenden Verzicht auf Wachstum, durch eine zeitweilige Prosperitätseinbuße zurückgewonnen werden könnte, müssten wir diesen Weg gehen“.

Die Alternative ist für Kirchhof keine. „Es scheint nicht sicher, dass der Abgeordnete bei der Entscheidung über die neuen Verträge verschrobene Begriffe wie „Finanzstabilitätsfazilität“, „Stabilitätsmechanismus“ oder einen Fachbegriff wie „société anonym“ versteht, die Bedeutung der Verträge überschaut, ihre Folgewirkungen einschätzen kann. Für die Demokratie stellt sich damit die Frage, ob ein Volksvertreter, der das Volk im Wissen nicht zu vertreten mag, für das Volk entscheiden darf. Die Entscheidungsmacht verschiebt sich vom Parlament zur Exekutive.“ Die Parlamente wechseln von der Rolle des Entscheiders zum Beobachter. Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht verselbständigt sich zu einem Handlungsziel, das nicht nach der Werthaltigkeit von Arbeit und Werk fragt, das Wirtschaftswachstum nicht nach seinem Preis beurteilt, die Geldwertstabilität im Streit der Interessenten preiszugeben droht. Gesucht wird die „pragmatische Lösung“. Die Rechtsmaßstäbe weichen dem alltäglichen Kompromiss, der zum Kerngedanken der Demokratie erklärt wird. Die Relativität des Entscheidens droht über die Verfasstheit der Demokratie zu triumphieren.

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