Wir sehen, glaube ich, die Presse- und Meinungsfreiheit in Deutschland nicht eingeschränkt.
Samstag, 16. August 2025
Zitate zur Zeit: Dementi von der Deponie
Geschäftsmodell Partei: 39.900 Prozent Rendite
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Früher galt die Gründung einer Religion als profitträchtiges Geschäftsmodell. Parteien aber stehen dem nicht viel nach, zumindest in Deutschland |
Die einen schwören auf Gold, die anderen auf Kryptowährungen. ETFs sind in Mode, High-Tech-Aktien sowieso. Und manche kleine deutsche Rüstungsbude lieferte dank der zweiten Zeitenwende im dritten Jahr mehr Rendite als mancher Meme-Coin. Oft vergessen wird dabei, dass das Geschäftsmodell für perfekte Gewinnmaximierung in Deutschland schon seit Jahrzehnten existiert.
In aller Stille haben es die Mütter und Väter des Grundgesetzes in die Verfassung geschrieben. Vier dürre Sätze in Art 21 Grundgesetz reichen: "Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben."
Nur wenige Vorgaben
Selten ist eine Geschäftsidee im Land der "überbordenden Bürokratie" (Die Welt) mit weniger Vorgaben ausgekommen. Die Parteien haben ihre Freiheit genutzt, aus der "Mitwirkung" an der Willensbildung des Volkes ein Geschäftsmodell zu machen, das außerhalb der organisierten Religionsbetriebe kaum seinesgleichen findet.
Ein Beispiel illustriert das: Bei jeder Wahl, bei der sie antreten, zielen Parteien nicht nur auf Wählerstimmen, sondern mit jeder einzelnen Wählerstimme auch auf die sogenannte Wahlkampfkostenrückerstattung. Die funktioniert ganz einfach: Investiert die Partei beispielsweise 15 Millionen Euro in Wahlwerbung, erstattet ihr der Staat davon die Hälfte, wenn sie auch nur ganz niedrige Schwellenwerte beim Stimmenanteil überschreitet.
Parteisteuer von Profiteuren
Behalten darf sie die gewonnenen Mandate. Was einige Parteien nutzen, um per sogenannter Mandatsträgerabgabe, oft als freiwillige Gabe ausgegeben, bei denen zu kassieren, die mit ihrer Hilfe in Lohn und Brot gelangt sind. Hier kommen weitere Millionen zusammen, weshalb zumindest theoretisch alle Satzungen aller Bundestagsparteien die Verpflichtung zur Entrichtung von Mandatsträgerbeiträgen vorsehen. Die größte Einnahmequelle der Parteien sind immer staatliche Mittel, die über alle Farben 36,7 Prozent der Gesamteinnahmen ausmachen. Erst an zweiter Stelle folgen mit knapp 30 Prozent die Mitgliedsbeiträge, gefolgt schon von den Mandatsträgerbeiträgen mit 14,3 Prozent.
Was die Verbindlichkeit der Verpflichtung zur Zahlung dieser Parteisteuern angeht, unterscheiden sich die Bestimmungen der Parteien erheblich. Bei einigen wird ausdrücklich von freiwilligen Leistungen gesprochen, um die Illusion der grundgesetzlich garantierten "Freiheit des Mandats" zu behaupten. Bei anderen führt die Nichtleistung zum automatischen Verlust der Mitgliedschaft und damit bei nächster Gelegenheit zum Verlust des Jobs.
Sonderform der Staatsfinanzierung
Diese Sonderform der Staatsfinanzierung der Parteien durch die Hintertür ist vielfach infrage gestellt worden. Schon 1975 hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem "Diäten-Urteil" festgelegt, dass die Höhe der oft "Diäten" genannten Abgeordnetenentschädigung so bemessen sein muss, "dass sie den
Abgeordneten eine der Bedeutung ihres Amtes angemessene Lebensführung gestattet". Wäre das noch möglich, nachdem zum Zweck der Mitfinanzierung der Partei, der der Abgeordnete angehört, Geld abgezweigt wurde, spräche alles dafür, dass die Entschädigung zu hoch ist.
Parteien wesenseigen aber ist, dass sie es sind, die am Ende definieren, in welchem Umfeld sie ihr Geschäft betreiben. Anders als bei einer hypothetischen Firma im echten Geschäftsleben sind ihre Einnahmequellen ausschließlich Spenden, staatliche Zuschüssen und, im Falle der SPD, die ein eigenes Medienimperium betreibt, Ausschüttungen der Parteifirmen. Spenden und Dividenden werden gern genommen, reichen aber nie. Die staatlichen Zuschüsse sind deshalb von den Parteien selbst als sprudelnder Quell erschaffen worden, der alles Leid lindert. Je größer die Partei, desto mehr profitiert sie. Zwar gehen in Deutschland jährlich 200 Millionen an fast zwei Dutzend Parteien. 192,7 Millionen davon aber landeten bei den Parteien, die im Bundestag vertreten sind.
Weil das nie reicht
Weil das trotzdem nie reicht, haben die Schonlängermitregierenden Tochterfirmen gegründet. Die sogenannten parteinahen Stiftungen entstanden, nachdem das Bundesverfassungsgericht dem direkten Griff der Parteien in die Staatskasse ein Ende gemacht hatte. Statt selbst zuzugreifen, dürfen die Töchter hinlangen. Und wie. Sie erhalten sie ihre Einnahmen hauptsächlich aus dem Bundeshaushalt - im Jahr 2023 beliefen sich die Zuschüsse auf etwa 697 Millionen Euro.
Auch diese Schattenfinanzierung endete wiederum in Karlsruhe. Doch das spezielle Geschäftsmodell der Parteien erlaubt es ihnen, Verbote rechtssicher zu umgehen. Seit die alte Methode der Selbstbedienung nicht mehr funktioniert, wird die jeweils benötigte stolze Summe einfach ins Haushaltsgesetz geschrieben. Damit das recht ruhig vonstatten geht und das Thema nicht groß diskutiert wird, gilt wie bei der Diätenerhöhung ein Automatismus.
Ein ausgeklügelter Verteilungsschlüssel wirft den fälligen für jede Stiftung aus - für jede außer der der AfD. Als Berechnungsgrundlage dienen die Ergebnisse der letzten vier Bundestagswahlen. Ausgehend von einem einprozentigen Sockelbetrag des Gesamtbetrags gibt es dann Geld für jede förderberechtigte Stiftung, weil sie alle, so das Karlsruher Gericht, etwas tun, wovon "die Parteien in erheblichem Umfang profitieren".
Einzigartiges Monopol
Wenn das nicht reicht, wird aufgeschlagen. Wenn das schiefgeht, nachjustiert. Die einzigartige monopolistische Marktstellung und die langfristige Geschäftserfahrung erlauben es den Parteien, sich ihr Geschäftsfeld selbst zu gestalten. Was nicht passt, wird passend gemacht und dann läuft der Laden.
Daraus resultiert eine Gesamtrendite, die sich sehen lassen kann: Setzt eine Partei heute beispielsweise 15 Millionen ein, um in den Bundestag einzuziehen, erhält sie nach einem erfolgreichen Wahltag, der 120 Mandate einbringt, 7,5 Millionen vom Staat zurück. In den darauffolgenden vier Jahren der Legislaturperiode verbuchen die Abgeordneten der Partei etwa 30 Millionen Euro Einnahmen in Form von Diäten, Kostenpauschale und Mitarbeiterpauschale. Der Ursprungseinsatz bringt also satte 300 Prozent Gewinn.
Dazu sitzen die Gewählten jetzt auch noch an den Schaltstellen, von denen aus die politische Landschaft gepflegt wird. Verdiente Genossen bekommen hübsche Posten. Nichtregierungsorganisationen können mit Milliarden gepäppelt werden und 551 Fragen ins Leere laufen. Nicht einmal ein Regierungswechsel vermag das ändern. Das Eigeninteresse der Beteiligten an der Aufrechterhaltung der Umstände, von denen alle profitieren, ist größer als ihre Bereitschaft, etwas zu ändern, das auch sie selbst benachteiligen würde.
Ordentliche Gesamtrendite
Daraus resultiert eine ordentliche Gesamtrendite über vier Jahre hinweg hin, die dank einer größtenteils staatlich garantiert Finanzierung zudem deutlich sicherer ist als das Spekulieren am Kapitalmarkt. Kein Wunder. Die monopolistische Stellung des Betreibers, der es 1959 erstmals wagte, sich selbst schmale fünf Millionen D-Mark als "Zuschüsse zur Förderung der politischen Bildungsarbeit der Parteien" zuzuschustern, ist seit einem halben Jahrhundert unumstritten.
Das ermöglicht es dem von einer Brandmauer streng abgeschirmten Kartell der Beteiligten, seine Gewinne selbst zu bestimmen und Marktbarrieren zu errichten, die weitere Nutznießer ausschließen. Zuletzt sprachen die Parteien sich rückwirkend weitere sechs Millionen Euro mehr an staatlichen Zuschüssen erhalten könnten, wobei die Empfänger selbst über die Verwendung entscheiden, obwohl selbst die eingeworbenen Spendengelder vom Steuerzahler durch eine Verrechnung mit der fälligen Steuerpflicht zur Hälfte staatlich - also von Wählerin und Wähler, die keineswegs nach ihrer Meinung dazu befragt wurden - gefördert wird.
Ein Meilenstein in Sicht
In diesem Jahr ist ein neuer Meilenstein bei der staatlichen Finanzierung des demorkatsichen Parteilebens in Sicht. Erstmals könnte die kombinierte Ausschüttung an Parteien (250 Millionen Euro) und parteieigene Stiftungen (760 Millionen Euro) die magische Grenze von einer Milliarde Euro übersteigen. Seit dem ersten Zuschuss zur "Förderung der politischen Bildungsarbeit" vor 65 Jahren haben die Parteien damit eine jährliche Rendite von 10,9 Prozent erzielt. Die Gesamtrendite über den kompletten Zeitraum liegt bei atemberaubenden 39.900 Prozent Return on Investment (ROI).
Besser geht es nicht. Und billiger schon gar nicht. Jeden Einwohner zahlt derzeit nur schmale zwölf Euro für den Unterhalt seiner Parteien, auf jeden Steuerzahler entfallen Abgaben von um die 25 Euro. Damit finanziert er ein überchaubar komplexes Brot-und-Butter-Geschäft: Verkauft werden leere Versprechen, verpackt in politische Botschaften. Geliefert zuverlässig Enttäuschungen, gut begründet durch unabsehbare jähe Wendungen, die eine Erfüllung der Zusagen immer wieder verhindern.
Die perfekte Geschäftsidee
Eine Partei zu sein, ist die perfekte Geschäftsidee. Operierend in einem quasi-monopolistischen Umfeld, in dem nur wenige Akteure den Markt dominieren, lassen sich die schon länger in einer symbiotischen Theaterfeindschaft vereinten Kräfte der demokratischen Mitte ihre Zuwendungen aus Spenden vom Steuerzahler sponsern. Wie Mitgliedsbeiträge und eingenommene Parteisteuern halten sie zugleich als Begründung her, sich vom Staat "fördern" zu lassen. All das Geld muss anders als bei klassischen Unternehmen nicht als Dividende ausgeschüttet werden. Die "Aktionäre" der Parteien, hier Mitglieder genannt, sind primär altruistisch motiviert. Sie sind nicht auf Renditejagd, sondern auf ideelle Ziele aus.
Diese Struktur eliminiert den Druck, kurzfristige Profite zu maximieren, und ermöglicht langfristige Stabilität. Einzig und allein die hauptamtlichen Funktionäre sind von den Parteien zu unterhalten. Die großen Parteien in Deutschland von CDU/CSU, SPD, Grünen, Linken und FDP bis AfD – unterhalten sämtlich eigene hauptamtliche Strukturen, die finanziert werden müssen, bis sie gleich den Bremer Stadtmusikanten einer Endverwendung im Schoße einer der Stiftungen zugeführt werden.
Eine ganz kleine Gruppe
Schätzungen basierend auf Parteiberichten und Medienanalysen deuten darauf hin, dass jede große Partei etwa 100 bis 200 hauptamtliche Mitarbeiter beschäftigt, darunter Büroleiter, Pressesprecher und Organisationsmitglieder auf Landesebene. Für die fünf großen Parteien der demokratischen Mitte ergibt sich damit ein Personenkreis von nur 500 bis 1.000 hauptamtlichen Funktionären, die aus der erwirtschafteten Gesamtrendite zu unterhalten sind. Die Möglichkeit, staatliche Zuschüsse als Entscheidungsinstanz in eigener Sache nach Belieben zu erhöhen, obwohl der Zuwendungszweck die eigene Partei ist, zeichnet das Parteienmodell unter allen anderen aus.
Aber auch der starke Schutzzauber, den die Parteien über diese wirtschaftliche Dimension ihrer verdienstvollen Arbeit legen. Im engen Schulterschluss mit den Medien gelingt es ihnen fast vollständig, eine Debatte um die staatliche Finanzierung von Organsiationen, die den Staat lenken und leiten, zu vermeiden. Indem Parteien sich nicht mehr nur dafür zuständig fühlen, "an der Willensbildung mitzuwirken", sondern als Service anbieten, diese Willensbildung komplett selbst zu übernehmen, wird Widerspruch gegen die sich selbst schmierende Schnittstelle von unabhängiger Politik durch staatliches Geld zum Sakrileg.
Freitag, 15. August 2025
Billigjob oder Bürgergeld: Lohnen lügt sich immer
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Mit 3,29 Euro kann die Mindestlohnarbeitende sich deutliche Vorteile gegenüber der Bürgergeldbeziehenden verschaffen. |
Es hört nicht auf, es geht immer wieder von vorn los. Es ist die Art Hetze, die in Dauerschleife läuft. Um das Bürgergeld zu denunzieren, wird einmal mehr die Mär erzählt, dass sich Arbeit nicht mehr lohne, weil Bürgergeldempfänger beinahe dieselben Einnahmen haben. Angeblich hindern die gewährten Hilfeleistungen von Armut und sozialer Ausgrenzung Betroffene daran, eine "anständige Arbeit" (CDU) aufzunehmen. Trotz des deutlich erhöhten Mindestlohnes und der schlechten finanziellen Vorbildung im Land des Sparbuchs gebe es viele Bürgerinnen und Bürger, die rechnen können und ungeachtet zahlloser Einladungen darauf verzichten, am Wiederaufbau Europas mitzuwirken.
Maschen im System
Eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der SPD-nahen Hans-Böckler-Stiftung macht nun aber Schluss mit den haltlosen Behauptungen vom süßen Leben der Millionen Nichtstuer, die sich kaum mehr heimlich über die lustig machen, die zu dumm oder zu naiv sind, sich durch die Maschen des System zu schleichen. Das WSI weist eindeutig nach: Arbeit lohnt sich immer, denn der Anstand zwischen erarbeitetem Lohn und leistungslos bezogenem Bürgergeld ist "deutlich" wie die Forcherinnen und Forschenden ermitteln konnten.
"Wer anderes behauptet, lügt ganz einfach", hat der frühere paritätische Wohlfahrtstalker Ulrich Schneider die Lage der Dinge unumwunden auf den Punkt gebracht. Um die Diskussion über Bürgergeld und Mindestlohn zu versachlichen und endlich ein Dauerthema zu beerdigen, bei dem oft behauptet wird, dass sich Arbeit aufgrund der Höhe des Bürgergelds nicht lohne, haben die Forschenden des WSI diese Behauptung mit Zahlen, Fakten und ausführlichen Berechnungen widerlegt. Erstmals zeigt die Hans-Böckler-Stiftung, dass Vollzeitbeschäftigte mit Mindestlohn deutlich mehr verfügbares Einkommen haben als Bürgergeldempfänger.
Größere Transparenz
Der hat Bürgergeldempfänger hat 1.015 Euro zur Verfügung, wenn Wohngeld und andere Hilfen zu Lebensunterhalt und sozialer Teilhabe wie die Übernahme der Demokratieabgabe durchs Amt berücksichtigt werden. Damit soll eine größere Transparenz erreicht werden. Nach der Studie kommt eine in Vollzeit mit dem heutigen Mindestlohn von 12,82 Euro arbeitende Person auf ein Bruttoeinkommen von knapp 2.200 Euro.
Davon bleiben nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben, mit denen sich jeder Angehörige der hart arbeitenden Mitte nach seinen Kräften an der Finanzierung der Gemeinschaftsaufgabe Gerechtigkeit beteiligen muss, etwa 1.546 Euro netto übrig, wie das WSI vorrechnet. Zusammen mit dem rechnerischen Anspruch auf 26 Euro Wohngeld ergebe sich ein verfügbares Einkommen von 1.572 Euro.
Deutlich mehr als im Vergleich
Das ist deutlich mehr als eine Person im Bürgergeld erhält, die mit 563 Euro Regelsatz und bei gleicher Miete 451,73 Euro für die Unterkunft auskommen muss. Zusammen wären das 1.015 Euro. Der im Mindestlohn arbeitende Mensch verfügt also über 557 Euro mehr als die Vergleichsperson - unübersehbar: Arbeiten lohnt sich. Vollzeitbeschäftigte mit Mindestlohn haben deutlich mehr Geld zur Verfügung als Bezieher von Bürgergeld. Und dafür müssen sie nichts weiter tun, als einen Teil ihrer Freizeit an einem Arbeitsplatz ihrer Wahl zu verbringen.
Um beim Einkommen auf Augenhöhe mit einem Bürgergeldempfänger zu kommen, reichen dazu 80 bis 100 Stunden, um mit fast 560 Euro deutlich darüber zu landen, ist eine Vollzeitstelle notwendig. Das gilt den WSI-Forschern zufolge für Alleinstehende ebenso wie für Alleinerziehende und Paare mit Kindern, und zwar in allen Regionen Deutschlands. Das Mehreinkommen entspricht einem Stundenlohn von 3,29 Euro. In absoluten Zahlen lässt es sich nahezu beliebig erhöhen. Wer statt 170 Stunden im Monat 340 arbeitet, erhöht den Lohnabstand zum Bürgergeld auf mehr als 1.000 Euro. Zumindest, bis Steuern und Abgaben fällig werden.
Bürgergeld ist schlechter
Zur Verdeutlichung haben die Wissenschaftlernden mehrere Fälle durchgerechnet. Eine alleinerziehende Frau etwa käme in Vollzeit mit Mindestlohn auf netto 1.636 Euro, müsste dann allerdings den Rundfunkbeitrag selbst tragen. Mit Kindergeld, Kinderzuschlag, Wohngeld und Unterhaltsvorschuss steigt ihr Einkommen sogar auf stattliche 2.532 Euro. Die Bürgergeldbezieherin wäre schlechter dran: Mit den beiden Regelsätzen für Mutter und Kind, dem Mehrbedarf für Alleinerziehende, Kosten der Unterkunft und Sofortzuschlag blieben ihr nur 1.783 Euro, also 749 Euro weniger. Daran werde deutlich, mit wie wenig Menschen im Bürgergeld auskommen müssten, so Studienleiter Kohlrausch.
Der Staat ist es, der beim Bürgergeld am meisten verzichtet. Bei der Mindestlohnarbeiterin liegt der Anteil an Steuern und Sozialabgaben, die das Finanzamt und die Sozialkassen beanspruchen, bei um die 27 Prozent. Die Bürgergeldempfängerin dagegen zahlt nur Umsatzsteuern und über die Höhe kann sie durch ihr Konsumverhalten selbst bestimmen. Ausreichend Freizeit steht ihr zur Verfügung.
Bei der Vollzeitstelle mit Mindestlohn ist das nicht immer möglich. Wer Pendeln muss, um sich als alleinerziehende Mutter die finanziellen Vorteile einer Vollzeitstelle zu sichern, dem entstehen auf dem Weg zu und von der Arbeit bei einer Kurzstrecke mit dem Deutschland-Ticket Kosten von 58 Euro pro Monat, also etwa zehn Prozent seiner Mehreinnahmen. Sein Stundenlohn sinkt damit unter drei Euro, ihm bleibt aber immer noch ein finanzieller Vorteil im Vergleich zum Bürgergeldempfänger in Höhe von fast 500 Euro.
Pendeln mindert den Vorteil
Dabei bleibt es auch beim Pendeln mit dem Pkw über eine längere Strecke. Beträgt die Entfernung zur Arbeitsstelle 40 Kilometer pro Strecke, ergibt sich dazu unter Zugrundelegung der üblichen Kilometerpauschale von 0,30 Euro pro Kilometer eine Belastung von 528 Euro. Das Einkommen liegt mit 29 Euro immer noch spürbar höher als das des Bürgergeldempfängers. Auch nach dem Abzug der 18,36 Euro für die Demokratieabgabe bleibt es dabei, auch wenn der Stundenlohn jetzt faktisch bei nur noch 17 Cent liegt.
Das zeigt, dass weite Pendelstrecken mit dem Auto nicht nur das Klima schädigen, sondern auch den finanziellen Vorteil der Arbeit erheblich schmälern können. Selbst der erhöhte Mindestlohn von 12,82 Euro reicht dann nur noch knapp, um die Aussage der WSI-Studie zu bestätigen, dass sich Arbeit finanziell lohnt, insbesondere bei Vollzeitbeschäftigung. Die Forscher betonen, dass aber selbst unter solch ungünstigen Bedingungen gesichert bleibt, dass Bürgergeldempfänger weniger Geld zur Verfügung haben als Erwerbstätige mit Mindestlohn. Damit sei die Behauptung endgültig widerlegt, dass das Bürgergeld die Arbeitsmotivation untergrabe.
So lange dauert die Ewigkeit bis zur E-Auto-Wende
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Bei den derzeitigen Rekordwachstumsraten beim Elektrohochlauf wird die Vollendung der Verkehrswende nur noch 120 Jahre dauern. |
Die Fans sehen den Durchbruch alleweil nahen. Immer wieder gibt es großartige Anzeichen dafür, dass es so weit ist. Das Elektro-Auto, mit dem die individuelle Mobilität 1888 in Coburg durchstartete, ehe es wenig später von Verbrennern aus dem Markt gedrängt wurde, wird es im zweiten Anlauf schaffen. Der Sieg ist nahe, allen Rückschlägen durch die von Robert Habeck so brutal gekürzten Prämien für wohlhabende E-Auto-Käufer zum Trotz.
Grund zum Feiern
Gerade erst wieder gibt es Grund zum Feiern, wie der Berliner Öko-Professor Volker Quaschning deutlich gemacht hat. Schon jedes fünfte neue Auto weltweit fahre elektrisch, jubelte der Wissenschaftler. Quaschning ist nicht nur für Lehre und Forschung bei "regenerativen Energiesysteme" zuständig, er sieht seine Rolle als die eines globalen Elektro-Influencers. Als solcher gibt der studierte Elektrotechniker von der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) in Berlin auch den Herstellern immer wieder gute Tipps. Derzeit exportieren sie zwar noch erfolgreich, "doch im E-Auto-Leitmarkt Asien verlieren sie den Anschluss".
Für Quaschning kann es in einer solchen Situation nur eines geben. "Wollen wir unsere Autoindustrie retten, müssen wir endlich alle Weichen voll auf Elektromobilität stellen", empfiehlt er. Mag sein, dass Mercedes, VW, Audi, BMW und Porsche dann gar nichts mehr verdienen würden, weil Elektromobilität nicht gar so viel abwirft.
VW etwa macht mit einem ID4 gerade so keine Verluste, während die Verbrennermodelle immer noch fünf bis sieben und bei BMW und Mercedes sogar über zehn Prozent Rendite abwerfen. Aber ein bisschen Schwund ist immer und viele Länder vor allem in Afrika, Südamerika und Teilen Asiens, aber auch in Skandinavien haben gar keine Automobilindustrie. Und leben Norwegen, Schweden, Brasilien oder Australien etwa schlecht?
Insolvenz der Standortbundesländer
Wenn zwei, drei Hersteller in Deutschland schlössen, würden womöglich bald die Standortbundesländer Insolvenz anmelden. Dafür aber bliebe vielen Käufern die Qual der Wahl zwischen unnötig vielen Modellen erspart und die Elektrowende könnte endlich richtig Fahrt aufnehmen. Bisher nämlich sind selbst die Superzahlen bei genauer Betrachtung in höchsten Maße beunruhigend.
Zwar erlebte der deutsche Automarkt im Juli 2025 eine Fortsetzung des schön früher ausgerufenen Trends "zu mehr Elektromobilität mit einem deutlichen Wachstum bei batterieelektrischen Fahrzeugen und Plug-in-Hybriden". Doch obwohl allenthalben der Umstand in den Mittelpunkt der Berichterstattung gestellt wird, dass E-Autos - die überwiegend mit herkömmlichem Treibstoff betriebenen Hybriden werden wegen der besseren Propagandawirkung grundsätzlich zu den reinen Elektroautos gezählt - inzwischen einen Marktanteil von "fast 29 Prozent erreichen", bleibt die Tatsache bestehen, dass mehr als zwei Drittel der verkauften Neuwagen keine E-Autos, sondern Verbrenner sind.
Alles ist ein Erfolg
Für Volker Quaschning zählt das schon als verwertenswerter Erfolg. Das erzählt viel über den Planerfüllungsfortschritt beim Ziel der Ampelregierung, bis zum Jahr 2030 mindestens 15 Millionen Elektroautos auf deutschen Straßen zu haben. Die Nachfolge-Koalition ist von der Absicht nie abgerückt, aber die Realität. Als die Ampel antrat, gab es rund 350.000 E-Autos auf deutschen Straßen. Als sie vorfristig abging, waren 1,65 Millionen Elektro-Pkw zugelassen. Nur etwa drei von 100 Autos in Deutschland fahren rein elektrisch, mehr als 47,5 Millionen werden von einem Verbrennungsmotor angetrieben.
Viel mehr wird es auch bis zum Zieldatum 2030 nicht werden. Bei einer linearen Fortsetzung der Zulassungszahlen landet Deutschland dann bei knapp 3.3 Millionen zugelassenen E-Autos. Selbst eine Steuerung der Zulassungszahlen um jährlich 25 Prozent führt nur einem Endergebnis von unter fünf Millionen. Zwei Drittel unter dem Plan von 15 Millionen. Selbst für deutsche Verhältnisse ist das verheerend. Eine Million E-Autos bis 2020 sei "eine Illusion", hatte der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel 2017 festgestellt. Jahre später gilt das immer noch.
Es dauert 120 Jahre
Quaschning und die anderen Jubler lassen sich von Fakten dieser Art nicht beeindrucken. Ihnen ist jeder Rekord recht, um Feierlaune zu verbreiten. Auch ein Anteil von 20 Prozent Elektroautos bei den Neuzulassungen riecht für sie schon nach Triumph. Dabei wird der gesamtgesellschaftliche Fuhrpark bei einer solchen Rate während der Lebenszeit sämtlicher heute lebender Menschen niemals vollständig umgestellt. Zwar würde sich der E-Auto-Anteil nach und nach der vollendeten Elektrifizierung annähern. Doch eine komplette Umstellung, nach der wenigstens 99,9 Prozent aller Neu- und Gebrauchtwagen elektrisch angetrieben werden, braucht rein rechnerisch stolze 120 Jahre.
Donnerstag, 14. August 2025
Zitate zur Zeit: Ein Hauch von Dschungelbuch
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Originäre ostdeutsche Ureinwohner wie der berühmte Hutbürger von Dresden sollen sich bei den Grünen künftig verstanden und versorgt fühlen. |
Natürlich sind Bündnis 90/Die Grünen wie jede andere Partei in einem Land, das zu fünf Sechsteln nun einmal aus Westdeutschen besteht, westdeutsch dominiert. Also, wir haben bei uns im Bundesvorstand im Prinzip die Normalverteilung abgebildet. Aber das führt halt eben auch dazu, dass die Perspektiven von fünf Bundesländern nicht per se gleich ermaßen präsent sind.
Und das will ich ändern und das sollten wir ändern. Und das kann nicht alleine dadurch passieren, dass man jetzt über Quoten nachdenkt und sich fragt, hält man einzelne Plätze vor, sondern dann muss es doch auch die Aufgabe von Westdeutschen sein, sich ostdeutschen Realitäten, Biografien, Erfahrungen zu öffnen.
So, wie ich von weißen Menschen erwarte, dass sie sich auch mit Rassismus auseinandersetzen. So, wie ich von Männern erwarte, dass sie sich auch für Gleichberechtigung interessieren.
Grünen-Chef Felix Banaszak plädiert für größere Bemühungen seiner Partei, den Ostdeutschen wenigstens das Gefühl zu geben, jemand interessiere sich für sie.
Weshalb die Rente wackelt: Mehr leisten weniger
Sie ist selber ein Boomer, aber ein vorbildlicher. Die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer geht straff auf den gesetzlichen Ruhestand zu, redet ihrer Generation aber vorher noch einmal kräftig ins Gewissen. Die vom Institut ihres Ökonomenkollegen Marcel Fratzscher vorgeschlagene neue Rentnersteuer unter dem Namen "Boomer-Soli" befürworte sie ausdrücklich, hat die Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung jetzt gesagt.
Nicht genügend Kinder
Sie könne der Idee einer Solidaritäts-Sonderabgabe auf Alterseinkünfte "einiges abgewinnen", sagte die Professorin für Komparative Wirtschaftsforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Denn wer genau hinschaue, warum das traditionelle Umlagesystem an seine Grenzen komme, sehe: "Die Babyboomer haben seit den 70er-Jahren nicht genügend Kinder bekommen, um die Bevölkerungszahl ohne Zuwanderung konstant zu halten." Das bedeute, "dass immer weniger Menschen im Erwerbsalter für immer mehr Rentner aufkommen müssen".
Schnitzer selbst ist nahezu ohne Schuld, denn die 63-jährige Mannheimerin hat drei Töchter zur Welt gebracht und großgezogen. Damit liegt Schnitzer in ihrer Alterskohorte mit fast 100 Prozent über dem Durchschnitt: In der alten Bundesrepublik bekamen Frauen um 1985 nur etwa 1,28 Kinder pro Kopf. In der DDR waren es 1,79. Trotz aller immer wieder und immer begeisterter verbreiteten Fake News über einen vermeintlichen "Baby-Boom" und Frauen, die so viele Kinder bekommen wie seit irgendwann nicht mehr, schrumpft die Bevölkerung bedenklich.
Gelogene Geburtenrekorde
Nie in den zurückliegenden 40 Jahren reichten die Geburten im Lande zur einfachen Erhaltung der angestammten Bevölkerung mit der gewohnten Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern. Die Mathematik straft Schlagzeilen über Geburtenrekorde lügen und enttarnte die Durchhalteparolen einer heute als EU-Chefin amtierenden Familienministerin gnadenlos als Schwindel. Bei einer Geburtenrate von 1,37 Neugeborenen pro Frau schrumpft eine Bevölkerung mit 80 Millionen Köpfen in einer Generation auf nur noch 55 Millionen Menschen. Die wiederum bekommen bei gleicher Kinderzahl pro Frau nur noch 37,5 Millionen mal Nachwuchs. Über 25,6, 17,5 und 11,7 Millionen bleiben nach nur 150 Jahren gerade mal noch zehn Millionen Menschen übrig.
Die gute Nachricht dabei ist: In absoluten Zahlen ist das Schlimmste danach schon überstanden. Der Restrückstand an Längerhierlebenden zählt anno 2200 nur noch rund 5,5 Millionen Personen, anno 2300 sind es dann nur noch knapp eine Million - eine Menge, die kaum mehr ein Fünftel so groß sein wird wie das Heer der Rentnerinnen, Rentner und Pensionäre heute.
Diese wenigen Zeitzeugen werden schuld daran sein, dass im Jahr 2450 nur noch etwa 300.000 Menschen in Deutschland leben. Ein Land, dessen Ende sich dennoch hinauszögern wird: Erst weitere 15 Generationen oder umgerechnet rund 500 Jahre später werden die letzten Deutschen endgültig verschwunden sein - in etwa 1.000 Jahren von heute an gerechnet, ist es aus, vorbei, vergangen.
Teile der Rente entziehen
Monika Schnitzers Sorgen aber gelten nicht dem Ende, sondern der Überbrückung der Zeit bis dahin. Mit einem "Boomer-Soli", der den sogenannten "bessergestellten Rentnern" mit mehr als 1048 Euro Rente im Monat Teile ihrer vom Staat zugesicherten Versorgungsbezüge entzieht, wäre ein Versorgungsausgleich innerhalb der Generation möglich, die es als erste in der deutschen Geschichte an Bettfleiß hat mangeln lassen. Die weniger Armen würden für noch Ärmere einspringen, die wenigen Jungen würden entlastet und beruhigt, bis sich schließlich herausstellt, dass auch sie zu wenige Kinder bekommen haben.
Das unter Druck geratene Rentensystem wäre für den Moment zu stabilisiert, die Bundesregierung könnte eine große Rentenreform anschieben, die nach dem Modell der Atommüllendlagersuche funktioniert: Statt sich heute die Zähne an einer Lösung für viele Seniorinnen und Senioren auszubeißen, würde der Tag der Entscheidung vertagt, bis es deutlich weniger geworden sind.
Fußabdruck der Menschheit
Doch was seiner Forscherkollegen Marcel Fratzscher und der Wirtschaftsweisen Schnitzer vorschwebt, trifft auf scharfen Widerspruch beim Herbert Haase, dem Ökoethnologen und Klimasoziografen, der am Climate Watch Institut (CWI) im sächsischen Grimma Wege zur Verringerung des ökologischen Fußabdrucks der Menschheit bei gleichbleibender Bevölkerungszahl erforscht.
Haase spricht von einer "Lebenslüge", wenn er die von Schnitzer kritiklose übernommene Begründung des vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) vorgeschlagenen "Boomer-Soli" infragestellt. In seiner Arbeit "Reducing humanity's ecological footprint while maintaining population size", die im angesehenen kanadischen Wissenschaftsmagazin "Ecology Betters" veröffentlicht wurde, weist der Forscher aus Sachsen dem DIW wie auch der Wirtschaftsweisen aus München eklatante "Betrachtungsfehler" nach, wie er es nennt.
"Blödsinn" über die Boomer
So sei die Behauptung von Fratzscher und Schnitzer, dass die Babyboomer verantwortlich für einen schrumpfende Bevölkerungszahl seien, "blühender Blödsinn". Haase verweist zum Beweis auf die nackten Fakten: So habe Gesamtdeutschland Anfang der 60er Jahre nur knapp 73 Millionen Einwohner gehabt, Anfang der 90er knapp 81 Millionen. "Heute aber ist das Arbeitskräftereservoir mit mehr als 84 Millionen Menschen deutlich größer", wider spricht er den unwissenschaftlichen Behauptungen der beiden angesehenen Wirtschaftswissenschaftskoryphäen.
Herbert Hasse argwöhnt gezielte Manipulation. "Wir alle im Wissenschaftsbetrieb wissen doch, dass heute kein Journalist mehr nachfragt, wenn ihm vermeintliche Daten und Fakten von angeblich seriösen Quellen mundgerecht serviert werden." Dieselben Medien, die neue Rekorde bei der Zahl Beschäftigten feiern, seien umstandslos bereit, Schnitzers und Fratzschers krude These zu den Ursachen der Misere des deutschen Rentensystems in die Öffentlichkeit zu transportieren.
Hanebüchene Vorwürfe
Deren Behauptung, die geburtenstarken Jahrgänge von 1954 bis 1969 gingen nach und nach in den Ruhestand und für die Kosten dieser Luxusversorgung müssten "immer weniger junge Menschen" aufkommen, die in die Rentenkassen einzahlen, hält der Sachse für hanebüchen. Alle Zahlen widerlegten die Vorwürfe der beiden Boomer-Soli-Propagandisten, die vorhaben, die Stabilisierung des Rentensystems gezielt der Gruppe aufzuladen, die ohnehin schon schwere Zeiten durchlebt hat.
"Keine Frau im Westen durfte in der 80er Jahren auf staatliche Hilfe bei der Kinderbetreuung rechnen" schildert er, "und in der angeblich so sozialen DDR mussten Familien die Sorgearbeit für ihren Nachwuchs neben der Belastung durch sozialistische Wettbewerb und vorgeschriebener Teilnahme am sogenannten gesellschaftlichen Leben stemmen."
Fassade aus Mitmenschlichkeit
Dennoch waren es die Baby-Boomer, die das Land von Mitte der 70er Jahre an weiter aufbauten. Wie sehr sie sich ihrer Versäumnisse bei der Nachwuchsgewinnung bewusst waren, zeigten sie gleich mehrfach: Anfang der 90er öffneten sie erstmals Grenzen und Arme, um die fehlenden Geburten durch Zuwanderungsgewinne auszugleichen. Als sich Mitte der 10er Jahre herausstellte, dass dieser einmalige Zustrom nicht dauerhaft ausreichen wird, leitete die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel die erste Migrationswende ein. Das "alternativlos" der Christdemokratin versteckte das handfeste wirtschaftliche Interesse der Parteien der demokratischen Mitte hinter einer Fassade aus demonstrativ ausgestellter Mitmenschlichkeit.
Wenn DIW-Präsident Marcel Fratzscher heute kritisiert, dass "unser Sozialstaat" von Jahr zu Jahr "ein Stück weniger generationengerecht", werde, ignoriert der originelle Denker einmal mehr die Realität. Fratzscher behauptet, das auf ewig für stabil erklärte Schneeballsystem könne wegen der sinkenden Zahl junger Nachschuldner nur durch "immer stärkere Umverteilung von Jung zu Alt" aufrechterhalten werden. Die Wirtschaftsweise Schnitzer stützt das mit ihrer These von den Babyboomer, die "seit den 70er-Jahren nicht genügend Kinder bekommen" hätten.
Deutlich bevölkerungsreicher
Doch die Realität zeigt: Im Jahr 1962 gab es in der Bundesrepublik Deutschland rund 23 Millionen Erwerbstätige, 2020 waren es schon 44,8 Millionen, im Juni 2025 dann nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sogar 45,9 Millionen Menschen. 1985 arbeiteten von rund 61 Millionen Westdeutschen 29 Millionen, also weniger als die Hälfte. 2024 waren es von 84 Millionen Menschen im größer und deutlich bevölkerungsreicher gewordenen Deutschland etwa 47 Millionen - deutlich mehr als die Hälfte.
Ihnen standen in den 80er Jahren 14,54 Millionen Rentner und Pensionäre gegenüber. Ein Anteil von 23 Prozent. Heute sind es 22,3 Millionen, gerade mal drei Prozent mehr. Angesichts einer Arbeitsproduktivität, die von einem Indexwert von 85,5 im Jahre 1988 auf 100 im Jahr 2015 auf etwa 107 gestiegen ist, ein Wert, der vollkommen zu vernachlässigen wäre.
Kaum ein Anstieg
Selbst der prognostizierte weitere Anstieg der Anzahl der zu versorgenden Ruheständler ist nach der Datenlage kein Problem: Auch für 2030 werden nur knapp 26 Millionen Rentnerinnen und Rentner erwartet. Ihnen stünden den Prognosen zufolge, nach denen mit einem geringen Rückgang um etwa zwei Millionen auf dann nur noch 41,5 Millionen Erwerbspersonen zu rechnen ist, immer noch ähnlich viele potenzielle Beitragszahler gegenüber wie in den 80er Jahren. Sechs Rentner kommen auf 100 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. In den goldenen 80ern, als die Rentenkasse noch als kerngesund und das Umlagesystem als in Ewigkeit unschlagbar galt, waren es fünf.
Dass das deutsche Rentensystem unter so einem immensen Kostendruck leidet, dass sich die Bundesregierung entschlossen hat, gleich irgendwann nach der Sommerpause eine weitere Kommission einzusetzten, die bis Anfang 2027 wieder einmal Vorschläge für eine "grundlegende Reform" vorzugelegen, zeigt dass die prekäre Lage keineswegs an einem Mangel an Einzahlern liegt. "Durch die dauerhaft hohe Nettozuwanderung aus dem Ausland und die Aufnahme der durchschnittlich deutlich jüngeren Bevölkerung der DDR haben die Boomer ihre Versäumnisse bei der Nachwuchsproduktion annähernd ausgeglichen", haben Herbert Haases Demografen am CWI errechnet.
Sozialneid schüren
Statt Sozialneid zwischen verschiedenen Gruppen von Ruheständlern und "Hass zwischen Jung und Alt" zu schüren, müsse die nächste große Rentenkommission sich "bis zur Mitte der Legislatur", wie es im Koalitionsvertrag heißt, auf die Suche nach dem machen, was Haase die "Löcher im System" nennt. "Wir wissen, das Geld ist da, wir wissen, dass es für alle reichen müsste", sagt er. Die Zahlen spröchen eine deutliche Sprache: "Mit 677.000 Kindern, die 2024 in Deutschland geboren wurden, und einem zusätzlichen positiven Wanderungssaldo von 400.000 Personen liegen wir beim Bevölkerungszuwachs nur wenig unter den Zahlen des Jahres 1960, als in Deutschland 1.261.614 Lebendgeborene gezählt wurden."
Deutlich zu viele, wie der errechnete Geburtenüberschuss von etwa 380.000 Kindern damals kritisiert worden war.
Mittwoch, 13. August 2025
Ritterliche Bundeswehr: Ohne Drohne auf dem Feld der Ehre
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Die Bundeswehr hat ein Weltraumkommando, aber keine Drohnenflotte. Auf moderne Kriegführung ist das neue Massenheer von Boris Pistorius nicht eingerichtet. |
Ob der drohende Frieden wirklich kommt, mit Friedhofsruhe an der Ostfront, oder ob sich die Europäer mit ihrer Forderung an den US-Präsidenten durchsetzen, das Völkerringen an der Ostflanke nicht ausgerechnet jetzt zu beenden, wo die EU beschlossen hat, die Ukrainer weiterhin bei ihrem Verteidigungskampf zu unterstützen, weiß niemand. Trump agiert ohne Absprache und Rückendeckung, seine Verbündeten müssen wie ihre Feinde Rätselraten, was genau er bezweckt und wie sie sich taktisch am klügsten verhalten, um ihn nicht zu verärgern.
Leben von der Friedensdividende
Es hängt viel davon ab, dass das gelingt, gerade für das alte Europa, den Kontinent, der sich darauf eingerichtet hatte, bis in alle Ewigkeit von der Friedensdividende der 90er Jahre zu leben. Keine Rüstung mehr, nur noch symbolische Armee. Die Heere in der Produktion, wo sie fleißig Maschinen, Anlagen und Markenware für die ganze Welt produzierten. Der Mechanismus der Weltwirtschaft war ein einfacher: Deutschland und China lieferten Dinge, die USA kaufen sie mit Geld, das sie sich von den beiden Lieferländern geborgt hatten, denn die verfügten dank ihrer Exportüberschüsse über jede Menge davon. China bekam im Gegenzug US-Investitionen. Europa bekam militärischen Schutz.Ein Modell, das der russische Angriff auf die Ukraine nachhaltig zerstörte, ehe es der neue US-Präsident Donald Trump in den Abfalleimer der Geschichte warf. Seine Überkapazitäten würde China, so hofften die Europäer, künftig dazu nutzen, die EU preisgünstig zu versorgen. Die eigenen aber würden umgestellt auf Waffen, Munition, Panzer und Raketen.
Im stählernen Stachelschwein
Das "stählerne Stachelschwein", das die frühere deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen als EU-Chefin zum Leitbild ausgerufen hatte, es würde ganz und gar europäisch gerüstet sein. "Re-armed", wie es die Frau nennt, die aus den seinerzeit noch kampftauglichen Resten der Bundeswehr eine Trachtentruppe gemacht hatte, die kaum mehr über zwei Bataillone in Stiefeln verfügte.
Das muss jetzt alles anders werden. Nicht seit dem russischen Überfall auf die Ukraine, sondern seit dem amerikanischen Überfall auf den ukrainischen Präsidenten im Weißen Haus ist wirklich Zeitenwende. Boris Pistorius, ein ehemaliger Gefreiter, marschiert voran. Sein Ziel ist es, die deutschen Streitkräfte bis zum erwarteten Angriff der Russen im Zeitraum 2028 bis 2030 massiv auszurüsten. Für bis zu 25 Milliarden Euro sollen neue Panzer und Fahrzeuge bestellt werden. Der Wirtschaftsdienst "Bloomberg" hat aus den Investitionssummen, mit denen Pistorius plant, die Anschaffung von 1.000 Leopard-2-Panzer und 2.500 Kampffahrzeugen errechnet.
Das Weltraumkommando zu Fuß
Mehrere neue Nato-Brigaden seien auszurüsten, sieben soll Deutschland bis 2035 stellen. Im Jahr 2021 hat Deutschland zugesagt, bis 2030 zehn Einheiten zu je 5.000 Soldaten kampfbereit zu machen. Acht sind zumindest auf dem Papier so weit, die Rumpftruppe der neunten steht in Litauen auf, sie soll ab 2027 gefechtsbereit sein.
Auf der Hardthöhe, von der aus die Bundeswehr im kalten Krieg schon ihre Beteiligung an einem denkbaren Dritten Weltkrieg geplant hatte, wird der Begriff bis heute traditionsbewusst verstanden. Das Verteidigungsministerium hat sich zwar bereits vor zwei Jahren ein eigenes "Weltraumkommando" zugelegt. Doch das muss mangels deutscher und europäischer Raumflugkapazitäten noch auf unabsehbare Zeit weiter als Kostümeinheit exerzieren.
Der letzte Versuch, 80 Jahre nach der ersten V2 wieder ein Geschoss bis ins Weltall zu bringen, war im Frühjahr tragisch gescheitert. Zuvor schon hatte sich die neue "Ariane" als Rohrkrepierer erwiesen. Boris Pistorius setzt deshalb auf Waffen, die am Boden bleiben: Leopard-Panzer und Boxer-Schützenpanzer, hergestellt von Rheinmetall und KDNS, rollen gegen den in der Ukraine zu beobachtenden Trend an, Kriege ferngesteuert mit Drohnen zu führen.
Deutschland braucht keine Drohnen
Diese unbemannten und vielfältig einsetzbaren Flugkörper haben sich an der Ostflanke als Hauptwaffe für alle Einsatzfälle entpuppt. Sowohl die Ukraine als auch Russland setzen kleine, größere und ganz große Drohnen zur Aufklärung ein, im Luftkampf und zur Bekämpfung von Bodenziele. Die billig, aber massenhaft hergestellten Flieger sind als Kamikaze-Drohnen im Einsatz und als Ersatz für Aufklärungstrupps. Die beiden kriegsführenden Seiten setzten täglich hunderte Drohnen ein, große Fabriken liefern einen nie nachlassenden Strom an Ersatzflugkörpern, die beständig verbessert werden. Ohne Drohnen, so sagen Soldaten auf beiden Seiten, wäre dieser Krieg nicht zu führen. Die Seite, die keine einsetzen würde, hätte ihn binnen weniger Wochen verloren.
Das sind Nachrichten, die im deutschen Verteidigungsministerium skeptisch betrachtet werden. Hier, wo der moderne Panzerkrieg erfunden wurde, mag sich heute noch niemand vorstellen, dass der nächste Krieg mit dem Joystick oder gar automatisch von Künstlicher Intelligenz geführt wird. Mit einem Verteidigungshaushalt von aktuell 62,43 Milliarden Euro hat sich die Bundeswehr bisher rund 600 Drohnen zugelegt. Nicht alle gehören ihr, viele sind geleast.
Unmoralischer Fernkrieg
Die meisten sind unbewaffnet, weil Grüne und SPD den ferngesteuerten Krieg für unmoralisch halten - aus Sicht der beiden Parteizentralen müssen in einem ehrlichen Kampf Soldaten Mann gegen Mann antreten, es muss Blut fließen und Menschen müssen aus Gründen von Moral und Völkerrecht zahlreich sterben.
Unter dem Druck der Frontlage sind die völkerrechtlichen, verfassungsrechtlichen und ethischen Bedenken gegen eine Kriegsführung nach der Art des 21. Jahrhunderts zwar vollkommen verstummt. Doch ungeachtet dessen halten die deutschen Kriegsplaner an der romantischen Vorstellung fest, dass der Abwehrkampf gegen die 2028 oder spätestens 2030 angreifenden Russenheere mit ihren klapprigen Restbeständen an fehlender Munition, kaputten Panzern und Rollstuhlsoldaten wie gehabt auf dem Feld der Ehre geführt wird.
Ehrlich Mann gegen Mann
Aus dem Panzer und dem Schützenloch, in der Luft geschützt von den Urenkeln des roten Barons in 35 brandneuen Kampfjets des Typs Lockheed Martin F-35A Lightning II, die planmäßig ab 2026 2027 geliefert werden, soll der Endkampf gegen den Aggressor stattfinden. Allen aktuellen Plänen zufolge sind für das kommende Jahr 82,69 Milliarden Euro an Rüstungsausgaben eingeplant, für 2027 93,35 Milliarden Euro und für das Jahr 2028 sogar 136,48 Milliarden Euro. Doch der Kampfwert von Drohnen erscheint den Pistorius' Einsatzplanern weiterhin so zweifelhaft, dass die Bundeswehr zunächst nur in kleinem Maßstab Drohnen anschaffen wird, um selbst zu testen, ob es stimmt, dass Drohnen die Kriegsführung revolutioniert haben.
Nur nichts übers Knie brechen. Und nicht einem regelrechten Hype folgen, der in einem Bereich stattfindet, in dem die Bundeswehr vor mehreren Jahrzehnten weltweit führend war, ehe die Truppenplaner beschlossen, dass deutsche Soldaten ehrlich kämpfen und "der beklagenswerte Ausstattungsstand der deutschen Streitkräfte" (hartpunkt.de) auf diesen Bereich ausgeweitet werden muss.
Allen Zeitenwenden zum Trotz
Allen Zeitenwenden zum Trotz hielt die alte und hält auch die neue Bundesregierung, bekannt geworden für die Vielzahl in kürzester Zeit gebrochener Versprechen, in diesem Bereich Kurs: Bei Waffenkäufen wird aufs Tempo gedrückt, doch um gegen die russische Bedrohung gewappnet zu sein, stattet die Bundesregierung die deutschen Verteidiger ausschließlich mit den Waffen aus, die vor 84 Jahren erfolgreich beim deutschen Vormarsch Richtung Moskau eingesetzt wurden.
Eines Tages sollen zwar "alle deutschen Soldaten Drohnen einsetzen" können. Bisher aber dienen die beiden einzigen Verträge zur Belieferung der Truppe mit sogenannten Kamikaze-Drohnen allein dem Erprobungsbetrieb - im Unterschied zu anderen Streitkräften ist die deutsche Armeeführung noch keineswegs überzeugt davon, es hier mit der wichtigsten Waffe der Zukunft zu tun zu haben.
Die technologische Revolution der Kriegsführung führt in Deutschland nicht zur Gründung einer neuen Waffengattung und nicht einmal zur Ausstattung der bestehenden Teilstreitkräfte mit bewaffneten Drohnen und Drohnen zur Drohnenabwehr.
Ritterlich in den nächsten Krieg
In den nächsten Krieg, der allen Planungen der obersten Heeresführung zufolge nur noch 36 Monate entfernt liegt, wird die Bundeswehr wie gehabt in Panzer und Schützenpanzer in die Schlacht ziehen, als hochmoderne Truppe daran erkennbar, dass diesmal keine Pferdefuhrwerke mehr eingesetzt werden. Offen und ehrlich und Mann gegen Mann, so ritterlich plant Deutschland das Abendland zu verteidigen, ohne neugierige Blicke von oben auf die eingegrabenen und verbunkerten Stellungen des Gegners und ohne hinterlistige Angriffe bewaffneter Drohnen.
Stacheldraht und Peitsche: "DDR, ich vermisse sie!"
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Als es den Bundesgrenzschutz noch gab, warnte er kurzangebunden vor einem Verlassen der damals noch BRD genannten Bundesrepublik. |
Es ist ein Tag wie jeder andere, nicht einmal rund. Das muss nicht gefeiert werden. Das Jubiläum des Mauerbaus damals in der DDR fällt diesmal ins Sommerloch. Kaum Bilder von Kampfgruppenkommandos im Kampf gegen den Faschismus. Kaum Aufregung über historische Parallelen, die nur mit einem bösartigen Blick zu entdecken sind. Der Sozialismus, zu Lebzeiten gezwungen, seine Untertanen einzusperren und mit seinem Tod zu einer der vielen abscheulichen Voodoopuppen in der Leichenhalle der Geschichte vertrocknet, hat seinen Ruf längst wieder aufpoliert.
Der Sozialismus, Deine Welt
Nur ihm allein, so heißt es bis in die Kreise, die sich selbst zur demokratischen Mitte ihrer Demokratie erklärt haben, sei zuzutrauen, dass er alle Probleme lösen könne. Gerechtigkeit und Glück, Geld genug für jeden, Klima, Gleichheit, Kredite, was auch immer. Wenn der Sozialismus im nächsten Anlauf zu einem großen Menschenversuch endlich richtig umgesetzt werden, kläre sich alles von selbst. "Alles allen, bis alles allen ist", war eine Forderung der jung verstorbenen Bewegung der Klimakinder. Eigentum ist Diebstahl. Nur offene Grenzen für jedermann können bewirken, was die geschlossenen Grenzen damals nicht vermochten.
Wer war schuld, wer hat's verbrochen? Wer hat sein Volk eingemauert und sich selbst aus der Gemeinschaft der Demokraten ausgeschlossen? Der Sozialismus, diese noch etwas mühselige Vorstufe des Kommunismus, war es jedenfalls nicht. Ihm innewohnend ist ein großes Maß an Souveränität, denn er muss nicht mehr mühsam produzieren, Technologien entwickeln und nach Besserem streben, weil er das Bessere ist. Gesine Lötzsch, eine der Altvorderen der heutigen Linkspartei, hat es vor Jahren schon beschrieben: "Bildung, Gesundheit, Pflege, Kultur sind die wichtigsten Beschäftigungsmotoren der Zukunft und die Basis einer modernen Volkswirtschaft". Selbstbeschäftigung wird großgeschrieben, Warenhandel möglichst klein.
Ein taktischer Fehler
Wer braucht das noch. Es war damals ein taktischer Fehler der DDR-Führung, als sich Walter Ulbricht gegen den Rat aus Moskau durchsetzte und die Mauer um sein Volk herumbaute. Erst geschützt vor schädlichen Einflüssen, vor Hetze, Hass und über die Medien gestreute Fake News und Zweifel konnte im Schatten der Mauer am richtigen Sozialismus gebaut werden. Familien wurden getrennt, Genossen standen vereint. Es gab ein böses und ein besseres Deutschland.
Hüben turnte Ulbricht, ein Mann aus dem Volk. Drüben war Willy Brandt zu sehen, mit gefurchter Miene, gebeugt unter Last der Geschichte. Kennedy, ausgetrickst von seinen kommunistischen Gegenspielern, die ihn vorher informiert hatten, er aber nicht seine Freunde in Bonn. Ein verwirrendes Geschichtskapitel, das mehr Schachspiel um die Macht in Mitteleuropa war als Armdrücken am Checkpoint Charlie. Im Rückblick schrumpelt alles auf zwei Sätze zusammen: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen" und "Ich bin ein Berliner".
Schaut auf diese Stadt
Nie wird mehr gelogen als vor dem Krieg und nach dem Ende einer Beziehung. Ulbricht hatte die Absicht und Kennedy war nie Berliner. Ernst Reuter rief: Völker der Welt, schaut auf diese Stadt! Und was ihm seinerzeit hoch angerechnet wurde, wäre heute Ausweis einer rückwärtsgewandten völkischen Ideologie. Völker? Was soll das sein? Der moderne Interessenstaat kennt nur noch eine Bevölkerung.
In Berlin, der Hauptstadt des Bevölkerungstaates, kam es am 13. August 1986, der heute auch kein rundes Jubiläum hat, zu einer denkwürdigen Begegnung zwischen Ost-Offizieren und West-Abgesandten. Nach "provokanten Ausschreitungen ehemaliger DDR-Bürger gegenüber Ostberliner Grenzsoldaten" hatte die DDR-Seite die West-Polizei zur Entgegennahme einer Protestnote an den Mauerstreifen geladen. Niemand wusste so richtig, ob man einander und wenn ja, wie man sich begegnen sollte. Jeder Handschlag hätte wie Verbrüderung gewirkt. Jeder Blick roch nach Augenhöhe.
Blut in Bernau
Ein Offizier, der in einem kurzen Beweisfilm des längst vergessenen historischen Ereignisses aussieht, als hätte ihn der große deutsche Regisseur Dieter Wedel auf der Castingcouch für ein Doku-Drama mit dem Titel "Stacheldraht und Peitsche - Blut in Bernau" entdeckt, liest empört, aber flüssig, eine dringende Mahnung vor, dass es so nicht weitergehen kann. Der Westberliner Polizist, den ein gnädiges Schicksal in diese und nicht in die andere Uniform gesteckt hat, lauscht aufmerksam und liest dann seinerseits ohne Stocken und Betonung vor: "Ich weise Sie darauf hin, dass dieses Treffen rein technischer Natur war."
Bei Youtube hat ein Nutzer unter das bizarre Filmchen "DDR, ich vermisse sie!" geschrieben, ein Hilfeschrei voller Sehnsucht nach etwas, das es nie gegeben hat. Auf die Mahnung eines Spätergeborenen, dass die Mauer gar nicht existiert habe, wenn aber doch, nicht so schlimm gewesen sei, versetzt ein anderer "Ich wusste es doch, ein Wessi, der seine Bildung nur aus den Medien hat. Deine Südfrüchte kannste behalten und Steine und Mörtel hab ich noch. Bin schon fleißig am Bauen. Schönen Abend noch und bitte bleib auf deiner Seite."
An der Youtube-Grenze
Lässt man sich weitertreiben, entlang der flimmernden Youtube-Grenze, bekommt das Leiden ein Gesicht. "Leise erklingt ein Lied im Grenzgebiet", jodelt ein singender Grenzssoldat zur Gitarre. Grün war seine Waffenfarbe, groß ist nun die Sehnsucht nach schlechten alten Zeit.
Hubertus Knabe, ein West-Folklorist, der sein Auskommen nach dem Ende der Mauer mit Hilfe der DDR fand, hält es schon lange für höchste Zeit, ein bisschen DDR auch im neuen, schöneren Deutschland zu pflegen. Dass sich Menschen in DDR-Uniformen auf dem Pariser Platz zurechtstellen, um sich gegen Geld von Touristen fotografieren zu werden, müsse schleunigst unterbunden werden, urteilte er vor Jahren, angewidert von einem Zustand, der die DDR-Diktatur zu einer Folkloreveranstaltung machte. 50 Jahre nach dem Mauerbau sei es an der Zeit, dass die Bundesregierung "dieses geschmacklose Treiben" verbiete, erklärte Knabe, denn er "kenne kein anderes Land, in denen man in den Uniformen einer gestürzten Diktatur auf der Straße frei herumspazieren kann."
Zwar ist das sowohl in Russland als auch in den USA möglich, auch Ungarn, Polen, Frankreich und Spanien gehen nicht gegen Träger von Diktaturuniformen vor und China verlangt von seinen Soldaten sogar, sie im Dienst zu tragen. Doch Knabe hält es da mit den anderen Diktaturvergleichern, die stets zur Stelle sind, um Parallelen zu entdecken, wenn es passt. Nie aber, wenn es Parallelen zu entdecken gibt. Zweifellos wäre es zum Schutz der Demokratie notwendig, ein Gesetz vorzulegen, dass die rechtlichen Voraussetzungen für ein Verbot des öffentlichen Tragens von DDR-Uniformen schafft.
Die Bundesregierung, geplagt von allerlei Bewerbchen, könnte damit deutlich zeigen: Größere Sorgen haben wir nicht.
Es war nicht alles schlecht
Mauerfall: Wir feiern raus
Tanz an der tragenden Wand
"...konnten wir manche ökonomischen Gesetze nicht einhalten"
Pissen verboten: Neues vom Unrechtsstaat
Hurra, sie ist wieder da: Pilgern zur Pappmauer
Mielkes miese Mauerdrähte
Die DDR ist größer als der Rest der Welt
Triumph der Republik, die sie DDR nannten
Aderlass im Anschlussgebiet
Ja, so schön ist Panama
Weil heute Dein Geburtstag ist
Dienstag, 12. August 2025
Sie ist wieder da: Die beste aller Bundesrepubliken
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Sie ist wieder da: Das beste aller Deutschlands ist auch die beste aller Bundesrepubliken. |
Wenn es kein anderer tut, muss man es eben selber machen. Das ZDF ihre deutsche Börsenreporterin Sina Mainitz in Marsch gesetzt, um zum Kern der Dinge vorzubohren. Dominik H. Enste, ein Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftsethiker, der als Leiter des Clusters Verhaltensökonomik und Wirtschaftsethik an Marcel Fratzschers Institut der deutschen Wirtschaft in der Durchhaltparolenproduktion tätig ist, liefert bei solchen Anfragen prompt und passgenau. Positivismus ist Enstes Fachgebiet, seine rosarote Brille legt der 58-jährige Illusionskünstler aus Arnsbach niemals an.
Augenzu und durch
Den anhaltend schlechten Nachrichten von der Wirtschaft, aus der gespaltenen Gesellschaft und aus dem westlichen Bündnis setzt Enste ein klares Augenzu und besser woanders hinschauen entgegen. Schon vor Jahren, als Deutschland erstaunt auf sich selbst schaute und plötzlich bemerkte, welche verheerenden Schäden die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie angerichtet hatten, tröstete der Ökonom neuen Typs. Deutschland stehe im Vergleich sehr gut da, "sowohl was den Zusammenhalt angeht als auch das Vertrauen in die Politik oder Wirtschaft", hatte Enste herausgefunden. "Das ist auch das Ergebnis von 75 Jahren positiver Wohlstandsentwicklung."
Die ist seitdem beendet, aber die Mission des Wirtschaftsvoodoopriesters nicht. Wie alle bei ZDF und ARD hat auch Sina Mainitz Enstes Nummer unter "Besser geht's nicht" abgespeichert. Immer, wenn Schlagzeilen aus einer Parallelwelt gebraucht werden, in der Deutschland nicht abschmiert, auf die Inflation keine Rezession folgt, die Lage nicht ausgerechnet für die einst so stolze Exportnation besonders düster ist und die Renten-Krise mal wieder zum Wohlstandsverlust für alle führen muss, wird Dominik Entse angerufen.
Kein Grund zum Meckern
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Egal, wie es ist, es ist sehr gut. |
Man müsse sich doch nur umschauen, um die Wahrheit zu sehen. "Wir sind immer noch eines der Länder mit der besten Gesundheitsversorgung weltweit", sagt Enste und er betont das "noch". Aus der Hoffnung, dass das noch eine Weile so bleiben könne, könne Hoffnung ziehen, wer an Märchen glaubt. Vertrauen ist die Grundlage von allem, und wem könnte das Volk mehr vertrauen als dem nächsten Kanzle, der ein neues Wirtschaftswunder verspricht, sich zumindest öffentlich grundlos optimistisch zeigt und bei seinen seltenen Auftritten im Inland regelrecht entkoppelt von der Realität wirkt?
Tiefes Misstrauen
Eine Mehrheit der Menschen hielt schon den Umgang der Ampel mit der Wirtschaftskrise für inkompetent, teils sogar undemokratisch. Eine noch größere Mehrheit spricht der aktuellen schwarz-roten Koalition die Fähigkeit ab, das Richtige zu tun. Aus den hohen Umfragewerten der AfD sind noch höhere geworden, die ein tiefes Misstrauen gegenüber der Arbeit der Regierung bezeugen.
Das ZDF als eine jener "Institutionen, die mit öffentlichen Mitteln arbeiten", wie Kulturstaatsminister Wolfgang Weimer die staatsnahe Institution beschrieben hat, sieht sich in der Verantwortung dafür, die Lage schön zu zeichnen. Und jemand wie Dominik Enste ist erste Adresse, wenn es darum geht, mit Durchhalteparolen gegen die Realität zu argumentieren.
Besser als gut
Am Fratzscher-Institut haben sie zu diesem Zweck schon das Recht auf Wohnen zu einem Recht aus urbanes Wohnen für alle abgeleitet. Sie haben der Generation X ins Stammbuch geschrieben, dass sie die "positiven Effekte einer Haushaltshilfe unterschätzt" und sich besser umgehend eine zulegen. Und sie haben den 40 Prozent der Deutschen, die sämtliche Alternativen zum Umbau der Alterssicherung als ungerecht empfinden, nachgewiesen, dass dabei einem "entscheidungstheoretisch gut nachgewiesenem Trugschluss" unterliegen, "dass man die Wahl hätte zwischen der sicheren Alternative, den Status Quo beizubehalten, und einer unsicheren Zukunftsalternative".
Gar nicht. Dominik Enste knüpft an Angela Merkels Zusicherung von 2015 an, dass "unser Deutschland das schönste und das beste Deutschland, das wir haben" ist. Mag das Land, "in dem wir gut und gerne leben" auch als einiges von wenigen weltweit seit fünf Jahren kein Wirtschaftswachstum mehr vorweisen können, mag es auch gesellschaftlich tiefer denn je gespalten sein und zerfressen vom Neid zwischen Ost und West, Jung und Alt und Rechts und Links.
Teure Billigtarife
"Wir zahlen weniger Geld für Handytarife als noch vor vielen Jahren, fliegen verhältnismäßig günstig in den Urlaub, haben ein Riesen-Angebot an Musik oder Filmen, die wir kostengünstig streamen können", hält Dominik Enste den Skeptiker entgegen, für die jedes Glas immer nur halbleer ist.
"Nie gab es eine bessere Zeit zu leben als heute", sagt der Forscher und er erinnert die Bürgerinnen und Bürger damit an eine längst vergangene Zeit als eine beim Weltwirtschaftstreffen in Davos vorgestellte Studie die Sache auf den Punkt brachte: Eine einzigartige Mischung aus "guter Führung, starkem Mittelstand und hoher Lebensqualität" machten Deutschland damals zum unumstritten "besten Land der Welt". Ein einfach nur perfekter Staat mit hochgerüsteter Moral, der mächtigsten Frau der Welt an der Spitze und dem Willen, als Leuchtfeuer für die andere Völker an beiden Enden zu brennen, bis die gesamte Menschheit am deutschen Wesen genesen ist.
Völker der Welt, schaut auf diesen Staat
Völker, ruft Dominik Enste heute, schaut auf diesen Staat! Es sind doch nicht nur die gesunkenen Handytarife, bei denen Deutschland nach wie vor zu den teuersten Ländern gehört, selbst im Vergleich mit anderen EU-Partnerstaaten. Der Preis für ein Gigabyte Datenvolumen liegt hier bei einem Euro oder 50 Cent, während es in Italien nur acht Cent sind, in Frankreich bei 19 und in 35 Cent. Doch hierzulande, betont Enste, "können "Kleinkinder früher in frühkindliche Bildungseinrichtungen geschickt werden und auch im Rhein kann man heute schwimmen, weil er sauberer ist als noch vor 20 Jahren".
Wie überzeugend das Agument ist, zeigen Zahlen, die die ZDF-Meisterwerkstatt für Mediale Manipulation (MMM) vor einem Jahr einer staunenden Öffentlichkeit präsentiert hatte: Längst gehöre Deutschland zu den "Top 5 der attraktivsten Arbeitsländer". Statt nach Norwegen, Dänemark, in die Schweiz, nach Schweden, in die Niederlande oder die traditionellen Einwanderertraumziele USA, Australien und Kanada zu ziehen, entscheiden sich immer mehr Leistungsträger aus aller Welt, das Land mit der "kaputtgesparten Infrastruktur" (Lars Klingbeil), mit den marodierenden Nazibanden, dem mangelnden Wohnraum und der fehlenden Breitschaft, auf E-Mobilität umzusteigen, zu ihrem neuen Lebensmittelpunkt zu machen.
Die Liste des Guten
"Die Liste des Guten", sagt Dominik Entse, "könnte man noch länger fortsetzen". Doch der Forscher weiß: Es würde nichts bringen. So wie Neid nur das Blumenbeet sieht, aber nicht den Spaten, sieht der Deutsche die Servicewüste, die hohen Baupreise, den starken Anstieg bei Steuern, Abgaben und Lebenshaltungskosten und die schwache Regierung, die eine schwache Vorgängerregierung mit markigen Sprüchen abgelöst hat, deren Politik aber seitdem konsequent fortsetzt.
Es fehle "bei vielen Deutschen an innerer Zufriedenheit", hat Enste ermittelt. Statt wie er gleich "acht Arten von Kapital" heranzuziehen, um angesichts der wachsenden Zahl von Armen, Arbeitslosen und Bürgergeldberechtigten auf ermutigende Zeichen für einen grassierenden Wohlstandszuwachs zu kommen, schauen die Traditionalisten nur auf Brieftasche, Beruf und die Lage im Bekanntenkreis. Überall sieht es mau aus, Depression ist der Normalzustand und Hoffnung auf Besserung rar.
Einfach mal zufrieden sein
Es war der von Haus aus wenig fantasiebegabte Olaf Scholz, der angesichts der aussichtslosen Situation schon vor Jahren vorgeschlagen hatte, sich beim Wohlstand nicht mehr mit Schwergewichten wie den USA, der Schweiz und Norwegen zu vergleichen. Inspiriert von einer großen Relotius-Reportage über Bhutan, das bettelarme "einzige klimaneutrale Land der Erde" (Spiegel) müsse der Begriff "grüne Glückseligkeit" an die Stelle der vergeblichen Jagd nach mehr Einkommen, ein besseres Auskommen und größerer Wettbewerbfähigkeit treten, wie sie die EU sich vom früheren EZB-Chef Mario Draghi ins Stammbuch hatte schreiben lassen.
Dominik Entse hat sich eine Reihe von Indikatioren ausgedacht, bei denen das technologisch abgehängte Deutschland nicht nur mit neuen Rekordschulden und cleveren Haushaltstricks glänzen kann. Stolz verweist er auf die industrielle Basis, die immerhin immer noch da sei. Dazu "kommt Sozialkapital, ein gesellschaftlicher Zusammenhalt, Familie, Freunde".
Abbröckeln ignorieren
Ebenso wichtig sei Humankapital, also Wissen und Bildung, die zwar fortwährend abbröckeln, aber in Spuren noch zu erahnen sind. Für das Wohl eines Landes sei es überdies entscheidend, dass es auch kulturelles Kapital gebe. "Dazu gehören Museen, Religionen und Bauwerke." Zusammen mit dem "körperlichen" und dem spirituellen Kapital, also der physischen und psychischen Gesundheit und dem Geist einer inneren Zufriedenheit bilde das Naturkapital die entscheidende Grundlage eines Wohlbefindens, dem sich niemand verweigern könne.
Nur Kleingeister und Feinde unserer Demokratie schauen auf Statistiken, Zahlen und ernüchternde Daten. Nur Schwarzmalen, Zweifler und Hetzer quengeln über eine Bevölkerung, die ihrer eben erst gewählten Regierung mehrheitlich ablehnend gegenübersteht, über die vielen Risse quer durch Land und die zunehmenden Mangelerscheinungen selbst bei den Waren täglichen Bedarfs. "Demokratie erhöht das Wohlbefinden", hält Entse dagegen.
Den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verteidigen
Die seit Jahren schrumpfende Wirtschaft könne man doch auch mal für ihr "minimales Wirtschaftswachstum" loben und behaupten, dass sich "die allermeisten Dinge hierzulande doch gut entwickelt" hätten. Dass eine Mehrheit im Land Umfragen zufolge skeptischer denn je auf öffentliche Institutionen aller Art schaut, veranlasst Enste zu einem überschwänglichen Lob. "Weil sich die meisten Menschen hier wohlfühlen und Vertrauen in die Institutionen haben." Den wichtigen Beweis dafür, wie gut es letztlich läuft, schiebt Dominik Enste am Ende nach: Wir sind ein Rechtsstaat, wir müssen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verteidigen und die Demokratie."
AfD im Umfragehoch: Land der zwei Geschwindigkeiten
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Am Ende der Brandmauer-Debatte steht der nächste Aufschwung der AfD. Es ist nur noch einen Monat hin, und auf einmal ist sie wieder da. Die AfD, durch die bockstarken ersten Auftritte einer zu allem entschlossenen neuen Bundesregierung in ihrem Aufstieg gestoppt, hat nicht lange gebraucht, um auch die jüngsten Rückschläge im Kampf für sich zu nutzen. In den neuesten Umfragen hat sich die zeitweise in Gänze als gesichert rechtsextremistisch bezeichnete Partei wieder an die führende Union herangeschoben. Bei Forsa liegt sie gar wieder gleichauf mit der Merz-Partei. |
Ende der Brandmauer
Die Folgen des Endes der großen Brandmauer-Debatte sind überall zu sehen. Verzweifelt versuchen die Grünen, sich zum Teil delegitimierende Regierungskritik lieb Kind bei abtrünnigen Wählerinnen und Wählern zu machen. Der atemberaubende Aufstieg der Linken, die vorübergehend zur beliebtesten Partei der Medien geworden war, scheint beendet. Das BSW stagniert weit unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde. Die SPD kann machen, was sie nicht will und Geld ausgeben, das sie nicht hat. Ihrem Zuspruch bei den Bürgern nützt es nichts. Er geht weiter zurück.
Und aus einem lange Zeit auf die entleerten Flächen Ostdeutschland begrenzten Rechtsruck droht nun ein gesamtdeutscher zu werden. Immer schon hatten die Rechtspopulisten in den erfahrenen Demokratien der elf westdeutschen Länder mehr Wähler als im Osten, der erst seit 35 Jahren von den geschenkten Vorteilen der freiheitlichen Demokratie profitiert. Zuletzt aber stiegen die Beliebtheitswerte der ursprünglich von westdeutschen Professoren gegründeten eurokritischen Protestpartei hüben unübersehbar. Die AfD hat sich auch in Baden-Württemberg, Bayern und Hessen. Zwölf Jahre nach ihrer Gründung - damals in Oberursel im Taunus - droht die AfD zu einer fest etablierten politischen Kraft auch im Westen zu werden, die nicht mehr nur im abgehängten Ostdeutschland erschreckende Wahlergebnisse erzielt.
Der Westen hinkt hinterher
Unabhängige Experten der Amadeu-Antonio-Stiftung hatten es schon lange vermutet. Der Westen hinke dem Osten bei der AfD-Zustimmung nur knapp vier Jahre hinterher, hieß es Anfang des Jahres in einer Analyse, die aufzeigte, dass die ehemaligen Rechtspopulisten "die stärksten Sprünge in den Bundesländern", machten, "in denen sie bislang am schwächsten waren". Bis zur stärkten politischen Kraft, werbewirksam weniger durch spezielle Inhalte als durch das Alleinstellungsmerkmal der einzigen Partei auf der anderen Seite der Brandmauer, ist es noch ein Stück Weg. Doch bundesweit legte die Partei in den zurückliegenden zwölf Monaten fünf Prozent zu.
Einen ähnlichen Mobilisierungserfolg schaffte nur die Linkspartei, der allerdings ein einziger Sprung im Februar half, als die als "Ostmulle" geschmähte Heidi Reichinnek den deutschen Politikbetrieb auf dem Höhepunkt der drohenden Machtübernahme der Rechtsfaschisten mit einer Wutrede auf den Kopf stellte. Seitdem geht es seitwärts, das Wählerpotential der Linkspopulisten scheint ausgeschöpft. Die Sehnsucht nach einer Rückkehr zum Sozialismus teilen trotz Bildungsmisere wohl wirklich nur höchstens 15 Prozent der Wahlberechtigten.
Mit Schwankungen aufwärts
Bei der AfD dagegen geht es unter geringen Schwankungen aufwärts. Kein Mittel, kein Werkzeug und keine Waffe hat daran bisher etwas ändern können. Ob Ausschluss aus der Diskussion oder Verbotsdiskussion - in den Ostländern sind die Rechten als stärkste Kraft fest etabliert. Allmählich aber zeigt sich auch im Westen ein bemerkenswerter, wenn auch längst vorhergesagter anhaltender Aufstieg. Die Pariapartei schickt sich an, ihre beeindruckende Erfolgsgeschichte aus dem Osten im Westen zu wiederholen: Erreichte sie auf dem Gebiet der Ex-DDR bereits bei der Bundestagswahl 2017 überraschende 22 Prozent der Stimmen, liegt sie heute in mehreren westdeutschen Flächenländern schon in der Nähe dieser Marke und in Bayern sogar exakt darauf.
Eine Fast-Verdopplung in nur acht Jahren. In Sachsen und Thüringen dauerte es nach 2017 nur noch vier, bis die AfD zur stärksten Kraft wurde. Und im gesamten Osten nur sieben, bis die jüngste Partei im Bundestag die CDU in den ostdeutschen Ländern mit durchschnittlich 34 Prozent hinter sich ließ, mit Spitzenwerten wie 38,6 Prozent in Thüringen und 37,3 Prozent in Sachsen. Diese Zahlen spiegeln eine mittlerweile eingeübte Gewohnheit wider, es "denen da oben" und ihrer elitären Auffassung von "unserer Demokratie" mal so richtig zu zeigen. Bis sie nicht nur sagen, dass sie verstanden haben. Sondern tun, was ihnen gesagt wird.
Nicht mehr nur Protestpartei
Nur stundenweise sieht es immer mal so aus. Dann aber setzt sich die politische Routine des Politbetriebes in Berlin durch. Dies geht nicht, das darf nicht, hierfür gibt es keine Mehrheit, dafür braucht es eine Kommission. Als beste Wahlkämpfer für die Feinde der Demokratie entpuppen sich Mal um Mal des besten Demokraten.
Studien zeigen zwar, dass die AfD nicht mehr nur als Protestpartei wahrgenommen, sondern auch ihre Lösungsvorschläge angesichts des Scheiterns der zaghaften Versuche der Wettbewerber auf immer mehr Zustimmung treffen. Kaum jemand aber zweifelt daran, dass der AfD-Aufschwung an dem Tag beendet wäre, an dem eine andere Partei beginnen würde, Politik nicht mehr hauptsächlich für sich selbst, sondern für die Bürgerinnen und Bürger zu machen.
Dass die AfD, eine Partei mit überwiegend drittklassigem Personal, der Hebel ist, die anderen in Bewegung zu versetzen, diese Erkenntnis setzt sich im Westen Deutschlands langsamer durch als im Osten, wo die Menschen ihren Brüdern und Schwestern die Erfahrung des Zusammenbruchs der DDR voraushaben. Ostdeutsche erinnern sich, dass kein System bleiben kann, wie es ist, wenn eine kritische Masse der Bürger es infrage- und sich demonstrativ auf die Seite seiner größten Feinde stellt. Im Westen gibt es solche Erinnerungen nicht. Hier ist alles, wie es immer war. Seit Helmut Kohl sein Amt antrat, hat sich am mehr und mehr ritualisierten Vollzug der Demokratie nichts geändert.
Von elf auf unter 20
Der von den elf auf knapp unter 20 Prozent beinahe verdoppelte Zuspruch der Westdeutschen zu ausgerechnet der Partei, die fast die Hälfte aller ostdeutschen Abgeordneten im Bundestag stellt, ist umso beunruhigender als ihr Wachstum bis 2021 stagnierte. In Schleswig-Holstein, home of the brave Robert Habeck, scheiterte sie 2022 sogar am Wiedereinzug in den Landtag. Doch seit 2023 zeigt sich ein grundlegender Wandel, der vom Verlieren der Geduld bei denen erzählt, denen ein Langmut mit der politischen Klasse mit den ererbten Häusern, Bankguthaben und etablierten Verbindungen in Köln, Stuttgart und München zufällt.
Bei den Landtagswahlen in Hessen holten AfD-Abgeordnete 18,4 Prozent und Bayern 14,6 Prozent. Bei der Bundestagswahl reichte es zu 17,6 Prozent im Westen. Aktuelle Umfragen unterstreichen diesen Trend. In Rheinland-Pfalz und Hessen kämen die Blauen derzeit auf jeweils 19 Prozent, selbst in bisher schwachen Regionen wie Niedersachsen und Schleswig-Holstein reicht es zu 17,8 Prozent und 16,3 Prozent.
Eine beschleunigte Dynamik ist unübersehbar, die Parallelen zur früheren Entwicklung im Osten zeigt. Eine Analyse von Wahlergebnissen und Umfragewerten legt eine zeitversetzte Kongruenz zwischen Ost- und Westdeutschland nahe: Der Aufstieg der AfD im Osten begann etwa mit der Bundestagswahl 2017, als die Partei in den neuen Bundesländern durchschnittlich 22 Prozent erreichte. Im Westen werden ähnliche Werte erst jetzt erreicht.
Ein Abstand von sieben Jahren
Die Daten deuten auf einen zeitlichen Abstand von etwa sieben Jahren hin, nicht vier. Die Dynamik der Zuwächse verstärkte sich dabei in nachlassenden Schüben: In Ostdeutschland verdoppelte die AfD ihre Stimmenanteile zwischen 2013 und 2017 von 4,7 auf 22 Prozent. Danach folgte ein Anstieg um ein Drittel auf heute über 30 Prozent. Im Westen vollzog sich in der verspäteten ersten Phase zwischen 2021 und 2025 eine ähnliche Verdopplung: Aus acht Prozent wurden um die 17.
2025 ist in NRW, Baden-Württemberg und Hessen, was 2017 für Sachsen, Thüringen und Brandenburg war. Die AfD scheint im Westen nun jenen Wachstumspfad zu beschreiten, den sie im Osten bereits hinter sich hat, denn die damals nur im ärmeren, ausgegrenzten und allenfalls schiefangeschauten Ostdeutschland maßgeblichen strukturelle Faktoren wirken jetzt auch jenseits der früheren innerdeutschen Grenze.
Alarmrufe sorgen für Harthörigkeit
Wirtschaftliche Unsicherheit, Zurücksetzungsgefühle durch die hohe Zuwanderung, Vertrauensverlust in die Institutionen und ein Gefühl der politischen Entfremdung gegenüber Politikern, die jedes Maß in jeder Hinsicht verloren zu haben scheinen, greifen nun auch im Westen Raum. Aktuelle Krisen wie der Ukrainekrieg, die Inflation und die sichtliche Hilfslosigkeit aller jemals an einer Bundesregierung beteiligten Parteien tun ein übriges. Alle Bemühungen der inzwischen vom Staat auskömmlich finanzierten Zivilgesellschaft verpuffen. Die andauernden Alarmrufe der Medien haben zu Harthörigkeit geführt. Selbst Hitlervergleiche und Weltuntergangsbeschwörungen kommen bei den Adressaten einfach nicht mehr an.
Die AfD lebt von der Ausgrenzung, sie gedeiht am besten unter Sonne der Ablehnung derjenigen, die sie ablehnen. Im Westen war die Partei lange auf urbane und strukturschwache Regionen wie das Ruhrgebiet beschränkt gewesen, weil es ihr an Personal fehlte, das bereit war, die öffentliche Verdammung zu tragen, fasst sie jetzt Fuß in ländlichen und konservativen Gebieten von Bayern oder Baden-Württemberg. Jede Ankündigung, ihre Mitglieder aus dem öffentlichen Dienst zu werfen, jeder Lauschangriff und jeder Bürgermeisterkandidat, der zum Schutz des Gemeinwesens schon vort dem Wahltag aus dem Rennen genommen wird, hilft der Partei bei der Mobilisierung.
Verzögerter Westeffekt
Im Westen wirkt dieser Effekt verzögert, weil die etablierten Parteien hier bisher keinen Grund hatten, die AfD als ernsthaften Mitbewerber zu fürchten. Doch die letzten vier, fünf Generaldebatten um Migration und innere Sicherheit, um Trusted Flagger und Meinungsaufsicht und eine hasserfüllte Medienkampagne gegen eine Bundesregierung, die vermeintlich "Verbrechen gesprochen" haben soll, haben die Partei auch im Westen gestärkt. Ein Land, zwei Geschwindigkeiten: Die AfD hat in Ostdeutschland eine Zukunft hinter sich, die im Westen noch vor ihr liegt. Während die Partei im Osten bereits als stärkste Kraft etabliert ist, wird sie es im behäbigeren Westen vermutlich erst in etwa sieben Jahren sein.