Dienstag, 21. Mai 2024

Polit-Barock mit Ricarda Lang: Inszenierung einer Illusion

Wie von Kümram gemalt: Grünen-Chefin Ricarda Lang (30) mit ihrem Verlobten Florian Wilsch. Abb: Kümram, Öl auf Regenwaldholz

Ein Moment der Stille, der Entspannung, des Innehaltens. "Kurz mal Kraft tanken zwischen vollen Tagen auf Wahlkampftour, ❤️", fasste Grünen-Chefin Ricarda Lang ihre Empfindungen zusammen, nachdem ein nicht genannter Begleiter ein Schnappschuss von ihr und ihrem Verlobten gelungen war, der so ganz anders ist als die üblichen Auftritte der womöglich jüngsten politischen Schwergewichts der Transformationsrepublik.  

In enge Bänke gepresst

Der Betrachter des wie von Kümram komponierten Gemäldes sieht Lang in eine der engen Bänke der Deutschen Bahn gepresst, ein Nothammer an der Waggonwand über ihrem Kopf verrät glühend rot, wie kritisch die Situation jeden Moment werden kann. Für Jesus war es das Kreuz, bei Lang ist es die Marter der Zweiten Klasse. Draußen fliegt grün eine Landschaft vorbei, die dem unausweichlichen Ende zugeht. Und trotz des reichlich verschmierten Weichzeichners: Auf dem Tisch präsentiert Ricarda Lang in diesem Augenblick, in dem sie sich unbeobachtet fühlt, die Verantwortlichen für die Malaise, in der sich die Menschheit befinden.

Ein iPhone liegt dort, dessen Kopfhörerkabelspur sichtbar direkt zur 30-jährigen Spitzenpolitikerin führt. Daneben ein Wegwerfkaffeebecher, ein ausgestellter Sündenfall, der fünf Jahre nach der Ausrufung des Klimanotstandes in Konstanz am Bodensee auf den ersten Blick ewiggestrig scheint. Ricarda Lang aber, ein politisches Jahrhunderttalent, ist eben keine aus der Kaste der abgehobenen Bionade-Elite, die dem Volk mit strenger Kasteiung beweisen wollen, dass es sich sehr gut ohne McDonalds, Kaufhäuser, Elektromobilität und 40-Stunden-Woche leben lässt. Ihre Vorstellung von grüner Politik ist es nicht, die Menschen von oben herab durch bessere Beispiele zu belehren, bis sie die Unausweichlichkeit des Wandels begreifen. Ricarda Lang steht viel mehr für ein festes Vorgabesystem, das auch Verfehlungen zulässt, gerade dort, wo Menschen sich wie sie selbst besonders für unsere Gesellschaft engagieren.

Nicht alles richtig

Lang, im politischen Berlin häufig als "LWB" verunglimpft - eine bösartige Beschimpfung, die Beobachtern zufolge für "lang wie breit" steht - zeigt, dass sie selbst eine ist, die noch längst nicht alles  richtig macht. Der Verzicht auf das Fairphone, die Unterwerfung unter die von der EU immer wieder harsch kritisierten Geschäftspraktiken eines gigantischen US-Monopolisten und der Pappbecher, der allen geltenden Vorschriften zufolge von ihr selbst hätte ersetzt werden können sollen durch einen mitgeführten traditionellen Henkelmann: Lang zeigt sich nahbar, fehlbar, ein Mensch wie manch anderer.

Dort, wo man sich der Frau, die noch so viel vorhat, schon immer nahe fühlt, entzündete das Bild herzliche Fantasien. "Auf einer Zugfahrt entspannt sich Ricarda Lang und schließt die Augen, angelehnt an ihren Partner", dichtete das frühere Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" angesichts des für die sozialen Netzwerke inszenierten Fotos. Neben solcher Art Zuspruch regt sich jedoch auch Kritik von denen, die den Grünen ihren Erfolg neiden: Wegen des Einwegbechers wird die Grünen-Chefin als Umweltsünderin angegriffen. Und wegen ihres offen auf dem Tisch liegengelassenen Smartphones als allzu vertrauensselige Person bezeichnet. "Im richtigen Leben wäre das nach fünf Minuten weg."

Inszenierung einer Illusion

Die Inszenierung einer Illusion, sie funktioniert offensichtlich auf allen Ebenen. Lang, die auf dem Bild so wenig schläft wie ihr Verlobter, wird dank ihrer für die Aufnahmen geschlossenen Augen als eine Art Schlafende wahrgenommen. Ihr Handy gilt damit, ungeachtet des Fotografen, der sich auf dem Nachbarsitz befindet und seine Augen ganz offensichtlich offen hält, als leichte Beute. Der Kaffeebecher schließlich, als Trigger in die Komposition gestellt, um Aufregung und damit eine weite Verbreitung sicherzustellen, bezeichnet der "Spiegel" wunschgemäß als "Detail, das die Grünenchefin wohl übersehen" habe.

In Hamburg halten sie die beiden Personen auf Sitz 125 und 126 für Reisende, die in einem besonderen Moment der privaten Innerlichkeit ertappt worden sind wie es auch Kevin Kühnert damals geschah, als er für die sechsteiligen ARD-Dokusoap "Kevin Kühnert und die SPD" vor der Kamera stand und immerzu rauchen musste, damit das Publikum sich an Helmut Schmidt erinnert fühlte. Das bekannte Wahlkampfmanöver, sich vermeintlich ungeschützt und echt zu zeigen, erfährt über das Nachrichtenmagazin und sämtliche anderen angeschlossenen Abspielanstalten höchste Anerkennung und bewundernde Verbreitung. 

Pärchenfoto voller Liebe

Ein "Pärchenfoto", nennt es das teilstaatliche Portal T-Online bewundernd, einen "intimen Moment" lang schaut der Kölner "Express" "mit Unterstützung Künstlicher Intelligenz" (Express) schonungslos in die traditionelle Zweierbeziehung der beiden Verlobten. Deren individuelle Verantwortung für die Klimakatastrophe mag nicht wegzudiskutieren sein. Der CO2-Fußabdruck gerade von Wahlkämpfenden gilt weltweit als außergewöhnlich groß, ihre Möglichkeiten aber, den damit verbundenen Verbrauch an unwiederbringlichen Ressourcen einzuschränken, wird begrenzt durch die Notwendigkeit, nah zu den Menschen zu kommen, um sie dort abzuholen, wo sie sind.

Ricarda Langs Presseteam ist es gelungen, diese vielen Widersprüchlichkeiten in einer Inszenierung zu vereinen. Wenn eines Tages etwas bleiben wird von der Ära der Filderstädterin, dann wird es womöglich dieses eine Bild sein, das sich eingebrannt hat in die Erinnerung einer dankbaren Nation.

Beendeter Aufstand: Nie wieder war gestern

Knapp vier Wochen dauerte der Aufstand der Anständigen gegen Abschiebung und Remigration an, der das Thema "AfD/Rechte" auf Platz 2 der deutschen Angsthitparade führte. Nun ist er vorbei.

Alle waren auf der Straße, die noch ein Gewissen hatten. Alle, die den Anfängen wehren wollten. Die bereit waren, das Land nicht denen zu überlassen, die es wieder einmal auf Befehl eines Österreichers ins Verderben stürzen würden. Die trotz winterlicher Kälte, dem heißesten Februar aller Zeiten und manch fragwürdigem Mitmarschierer nicht davor zurückschreckten, sich gleichzeitig an vielen Orten zu versammeln, um ihre Meinung kundzutun.  

Alle waren mehr

Es war Februar und alle waren mehr. Nach der Enthüllung des Meinungskollektivs "Correctiv" über eine geplante Unterwanderung von Rechtsstaat, Demokratie und Gesellschaft, die in einer Wannsee-nahen Villa in Potsdam konkretisiert worden war, war in Nachrichtensendungen und leidenschaftlichen Demo-Reportagen ganz Deutschland auf der Straße. Jung und Alt marschierten gegen Abschottung, gegen Remigration und gegen die grassierenden Selbstzweifel. War 2015 ein Fehler gewesen? Schafft man es doch nicht, alle aufzunehmen? Profitieren davon die Falschen? Steht das Land am Vorabend von 1933?

Ein Aufstand der Anständigen, die sich auf zwei Kernpunkte geeinigt hatten: Alle hassen die AfD. Und nie wieder ist jetzt. Die Bilder waren beeindruckend. "Menschenrechte statt Rechte Menschen" hieß es auf Plakaten, "kein Platz für Nazis", "Remigriert euch doch ins Knie" und "Hamburg steht auf". Bis dahin durchaus angebrachte Zweifel daran, ob Politik und Medien die Menschen draußen im Lande überhaupt noch erreichen und wenn ja, wie es um die Kampagnenfähigkeit des demokratischen Blocks und um die Mobilisierungskraft seiner Parolen bestellt ist, wurden von Demotickern, handgezählten Teilnehmermillionen und dem Schulterschluss aller mit allen widerlegt. Nie zuvor. Größer denn je. Ein Volk, ein Wunsch, ein Wille. 

Rausch der Demokratie

Es war Februar und es war ein Rausch der Demokratie. Selbst in Umfragen schlug sich die Leidenschaft nieder, mit der auf allen Kanälen in hoher Frequenz vor dem Untergang des Abendlandes gewarnt wurde. Trotz Inflation und Rezession, Klimakatastrophe, Krieg an der Ostflanke und der Weigerung der israelischen Regierung, guten Rat aus Berlin anzunehmen und sich mit der Terrorgruppe Hamas ins Benehmen zu setzen, gewann das Thema Rechtsextremismus im ZDF-Politbarometer schlagartig stark an Bedeutung. Die Ruder der Politik, oft verdächtigt, schon lange nicht mehr bis ins Wasser zureichen, zeigten, wie sie im Zusammenspiel mit mutigen Medienarbeitern immer noch den Kurs bestimmen.

Im Januar hatten gerade mal sechs Prozent der Deutschen verstanden, dass das Thema "AfD/Rechte" ein dringliches ist. Im Februar waren es schon 20 Prozent - die rechte Gefahr lag damit nur noch knapp hinter "Asyl/Zuwanderung/Integration" auf Platz zwei in der Hitparade der Angelegenheiten, die den Deutschen auf den Nägeln brennen.

Niedergeschlagene Bauernaufstände

Die Bauernaufstände, die eben noch so wichtig schienen, sie waren medial erfolgreich niedergeschlagen worden. Die Energiepreisdiskussion, das stille Ende des Industriestrompreises, die Verweigerung der Bundesregierung, das versprochene Klimageld auszuzahlen, die anlaufende Welle an Betriebsschließungen und Unternehmensabwanderungen - nichts davon spielte mehr eine Rolle.

Nie wieder war jetzt und das würde es bleiben, so zumindest glaubten viele in jenen schönen letzten und viel zu warmen Wintertagen. Beinahe hätte eine vom auf Hass spezialisierten Portal "Volksverpetzer" initiierte Unterschriftensammlung mit der Forderung eines Verbotes der AfD Erfolg gehabt: Prominente wie Schauspielerin Nora Tschirner, der "Ärzte"-Musiker Bela B., die Dragqueen Olivia Jones und die Moderatorin Ruth Moschner zeigten mutig Gesicht, die Satiresendung "Die Anstalt" sendete einen Promotionclip.

Endlager Staatskanzlei

Dann aber landeten die "mehr als 800.000 Unterschriften" (ZDF) im Keller der Schweriner Staatskanzlerei. Die Welle der Demonstrationen ebbte ab. Die Demoticker wurden eingestellt und selbst die engagiertesten Rundfunkräte drängten die "Tagesschau" nicht mehr, sich redaktionell unabhängig dafür zu entscheiden, den Aufmärschen der Demokraten mit Sendezeit einzuräumen. Im Politbarometer ist es nun nicht so, dass das Thema "AfD/Rechte" nach einem Rutsch auf nur noch zehn Prozent Wichtigkeit und Platz 7 der Bevölkerungsängste im März im April noch weiter abgerutscht wäre. 

Nein, nie wieder war gestern. Heute ist jetzt. Das Thema "AfD/Rechte" ist deshalb rückstandslos aus allen Tabellen und Grafiken verschwunden.

Montag, 20. Mai 2024

Polemik gegen das Bürgergeld: Weniger ist mehr

Ein Arbeitsmann, der fleißig ist, verdient immer mehr als ein Stubenhocker auf Stütze.

Beim "Zustrom" nach Angela Merkel war es sofort nachweisbar. Es gab ihn einfach nicht, den "Pulleffekt", den Deutschlands ohnehin sparsame Sozialleistungen für Neuankömmlinge aus aller Welt bereithält. Weder die Seenotrettung für Schutzsuchende, die über das Mittelmeer kommen, noch die unbürokratische Aufnahme von Kriegsflüchtlingen hat einen Einfluss auf die Attraktivität Deutschlands als Fluchtziel. 

Migrationsexperten wiesen die häufig von Fremdenfeinden verbreitete Theorie aus den 60er Jahren schon früh und sehr entschieden zurück. Geflüchtet werde nach Deutschland nachweislich wegen zahlreicher anderer Faktoren. Nicht aber wegen der ausgeprägten pekuniären Willkommenskultur, wie es rechte Vorbeter wie CDU-Chef Friedrich Merz predigten.

Rückkehr einer leidigen Diskussion

Doch kaum war die leidige Diskussion mit einer Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) beendet und beerdigt, instrumentalisierten dieselben fragwürdigen Kreise das neue "Bürgergeld", um in dieselbe Kerbe zu schlagen. Angeblich hinderten die gewährten Leistungen Betroffene daran, eine "anständige Arbeit" (CDU) aufzunehmen. 

Mit spitzem Bleistift wurde sogar versucht, Bürgergeldhaushalte reich und Arbeiterfamilien arm zu rechnen. Schnell konnten unabhängige Faktenchecker aber nachweisen, dass ein Vollzeit arbeitendes Paar mit zwei Kindern, das zusammen auf ein Erwerbseinkommen von 4.310 Euro (Kindergeld inklusive) kommt, am Monatsende über rund 1.400 Euro mehr verfügt als ein Paar auf Bürger- und Kindergeld.

Pullfaktor: Vollzeit an der Werkbank

Dafür lohnt es sich schon, 320 Stunden im Monat an der Werkbank zu stehen oder hinter der Kasse und in einem Büro zu sitzen. Fast 4,40 Euro beträgt der Netto-Stundenlohn, den das arbeitende Paar einstreicht, so dass diese Familie Miete, Rundfunkgebühr, Kassenbeiträge und Heizkosten leicht selbst tragen kann. Ein Vorteil, mit dem das Bürgergeldpaar nur mit Freizeitausgleich abgefunden wird. "Wer arbeitet, hat immer mehr Geld als ohne Arbeit", lieferte das Bundesarbeitsministerium eine abschließende Bewertung.

Die hatte Bestand, die Zweifel am sozialpolitischen Kurs wichen, der gesellschaftliche Konsens schien damit wiederhergestellt, ähnlich wie beim "Pullfaktor". Bis nun eine neue Welle an Versuchen aufschäumte, die Versuch, Zweifel am Kurs der Bundesregierung zu wecken. Geschossen wird aus Stellungen, die bisher nicht im Verdacht standen, populistischen Positionen eine Plattform zu geben. 

Bediente Vorurteile

Die Süddeutsche Zeitung bedient Vorurteile mit Texten, die behaupten, Bürgergeld senke den Anreiz,  zu arbeiten, der "Tagesspiegel" macht Menschen, die noch nicht länger hier leben und noch keine Stelle gefunden haben, verantwortlich für die Verdreifachung der Sozialausgaben in den vergangenen 30 Jahren auf mittlerweile rund 1.179 Milliarden Euro.

Und das, obwohl deren Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist wegen des gleichzeitigen Wirtschaftswachstums im gleichen Zeitraum in weit geringem Ausmaß gestiegen ist - von 26,3 auf 30,5 Prozent. Der Südkurier schürt gezielt Sozialneid. Die Stuttgarter Nachrichten schwurbeln von einer "Mehrheit der Bürgergeld-Empfänger in Deutschland", die "über einen Migrationshintergrund" verfüge.

Angriff mit Statistiken

Und die Wissenschaft liefert die Munition: Mildere Sanktionen führten dazu, dass weniger Empfänger einen Job beginnen, die Bundesagentur für Arbeit (BA) flankiert den Angriff mit Statistiken, die zur Spaltung beitragen und versuchen, die Bundesregierung unter Druck zu setzen. Im politischen Berlinliegen die Nerven inzwischen blank. Hubertus Heil hat schon nach rechts geblinkt, und alle Hoffnungen auf eine Erhöhung der Bürgergeldleistungen im kommenden Jahr zerstört. Der Bundeskanzler verkündete sogar, dass eine "kräftige Erhöhung des Mindestlohns" Vollzeitjobs wieder lohnender machen werde. 

Mit einem neuen Minimallohn von 14 Euro stiegen der Einkommensabstand zwischen einem vollarbeitenden Paar und einem Paar, das auf Bürgergeld angewiesen ist, von 1.400 Euro auf 1.800 im Monat. Das hilft auch dem Staat, die knappen Kassen zu füllen: Statt knapp 5.000 Einkommenssteuer werden darauf dann rund 6.800 Euro fällig.

Schuldenbremse: Noch mal richtig krachen lassen

Mit derselben Vehemenz, mit der die Schuldenbremse gefordert wurde, wird 15 Jahre später ihre sofortige Abschaffung  verlangt.

Das Geld fehlt fast überall, kein Loch kann mehr so schnell gestopft werden wie nebenan das nächste aufreißt. Die ist zu kurz, der Bund zu eng, die Beine fehlen, das Gesäß durchgewetzt und die Reißverschlüsse so verrostet, dass selbst die Wirtschaftsweisen nichts mehr retten können. Der Bäcker, der nicht backt, wird demnächst wohl auch keine Steuern mehr zahlen. Der Verteidigungsminister aber meint, er könne nicht mit Steinen nach dem Russen schmeißen. Dann ist da noch das Klima, das mit der Kommunalen Wärmeplanung auf die lange Bank geschoben wurde, aber immer noch am gleichen  Problem krankt: Der Bund gibt 500 Millionen. Kosten aber wird es - Stand heute - 600 Milliarden.

Nun ist es auch egal

Genaugenommen ist es angesichts solcher Lücken doch nun auch egal. Der private Schuldner, der weiß, dass er sowieso nie irgendwas zurückzahlen können wird, reagiert rational auf die bedrückende Situation, an der er ohnehin nichts ändern kann. So lange er noch eine Bank findet, die etwas rausrückt, nimmt er, was er kriegen kann. 

Dadurch geht ja beinahe niemandem etwas verloren. Das Geld hat immer nur ein anderer, darunter eben auch er selbst, bis er es ausgibt. Und daran krankt Deutschland ja gerade: Es wird zu wenig konsumiert, zu wenig verbraucht, dadurch fehlt es an Steuereinnahmen, so dass es unmöglich ist, die große Klimatransformation aus den Steuereinnahmen zu finanzieren. Denn die sind in den zurückliegenden fünf Jahren zwar von 713 auf 916 Milliarden Euro angestiegen, ein Plus von 28 Prozent, das leicht über der Steigerung bei Löhnen und Gehältern liegt, die im gleichen Zeitraum nur stagnierten. Doch das Geld reicht nicht, weil es nie reicht, vollkommen unabhängig davon, wie viel der Staat einnimmt. 

Warum sollte der Staat sparen?

Ausgeben wird er immer mehr, nur die Gründe variieren, warum das gut so ist. Warum also soll ausgerechnet der Staat sparen? Er, dem die größten Banken die Kredite auf dem Silbertablett servieren?Niemand weiß es. Der Finanzminister verweist auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das der Bundesregierung im Herbst alle Waffen der Menschheit im Kampf gegen den Klimawandel aus der Hand geschlagen hatte. Auch bei anderen Ordolibertären gilt die Schuldenbremse als heilige Kuh, obwohl sie in einem Rinderoffenstall steht, dem das Dach leckt, die EU-Auflagen zu schaffen machen und die Silage ausgeht.

Erst langsam, ganz langsam wendet sich das Blatt. "Weg mit der Schuldenbremse!" fordert nach den Grünen, der SPD, der Linken und Teilen der Union nun auch die Taz, die in der bei Einführung von Grünen, SPD, FDP und CDU gefeierten grundgesetzlichen Vorschrift einen "Hemmschuh" sieht. An der Seite der Ökonomiker aus Berlin steht die GEW, das ND, die Frankfurter Rundschau, die IG Metall und der Bundesverteidigungsminister. Der von der SPD erdachte und am 1. August 2009 von 418 Bundestagsabgeordneten in Kraft gesetzte Artikel 109 (3) Grundgesetz mit der fatalen Formulierung "Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen" soll weg, verschwinden, Raum schaffen für Wummse und Doppelwummse ohne Zahl und in ganz nueer Dimension.

Geld in die Hand

Die Argumentation ist kaum zu widerlegen. Niemand kann richtig durchregieren, wenn er nicht richtig "Geld in die Hand nehmen" (Angela Merkel) kann. Keine Regierung kann es sich leisten, bei Investitionen im Kampf gegen die Erderwärmung zu knausern, bei der Verteidigung darauf zu schauen, was finanzierbar ist oder beim großen Umbau der Gesellschaft samt Wirtschaft und Alltagsleben Rücksicht auf Haushaltslagen und Steuereinnahmen zu nehmen. Marcel Fratzscher, der einzige deutsche Ökonom mit eigenem Verb, hat alle Vorschriften, nur so viel auszugeben, wie ein Gemeinwesen sich leisten kann, als schädlich verworfen: Kluge Schulden seien der "Wohlstand von morgen". Je mehr davon, desto besser.

Der Staat müsste also dürfen können, spätestens jetzt, wo es so dermaßen "fünf vor zwölf ist, dass jetzt geklotzt werden muss, will man die Klimaziele erreichen und nicht für Jahrzehnte ins Hintertreffen geraten" (Taz). Für wen denn auch der ganze Geiz? Nachkommende aus der Generation Greta wissen zumeist Dispo nicht von Disco zu unterscheiden.

Nichts leichter als das

Nichts ist leichter, als ihnen 100, 600 Milliarden, 1.000, 2.000 oder 9.000 Milliarden Euro zusätzlicher Schulden unterzujubeln. Weder werden sie es bemerken noch werden sie sich wehren. Ganz im Gegenteil: Wer kommenden Generationen zusätzliche Lasten aufhalst, darf sich auf deren Applaus freuen, denn nichts glauben die Kinder mehr als an die Macht der großen Zahl und den Zauber, der bewirkt, dass sich mit Geld jedes Problem lösen lässt. Und mit viel, viel, viel mehr Geld sofort.

Die - derzeit - 600 Milliarden Euro zu erzeugen, die der Staat "allein in den kommenden zehn Jahren in die Hand nehmen" (Taz) muss, "um die öffentliche Infrastruktur zu erneuern und fit für die klimaneutrale Zukunft zu machen", ist keine Raketenwissenschaft. Das Geld ist da, sobald es jemanden findet, der für den Kredit unterschreibt. Die Nachschuldner sind willig und bereit, jede Zahl zu akzeptieren, die als Überschrift über einem neuen "Sondervermögen" für Klimaschutz stehen wird. Die Klimakrise sei eine Begründung zur Aussetzung der Schuldenbremse, hat die Fridays-for-Future-Vordenkerin Luisa Neubauer schon vor Monaten argumentiert, um die viel Älteren an den Schalthebeln der Macht zu überzeugen, allen viel Jüngeren noch mehr Schulden zu hinterlassen.

Nachschuldner in Baumhäusern

Die werden nicht einmal bemerken, was ihnen da aufgeladen wird. In ihren Baumhäusern bei Tesla, im Wahlkampf zum EU-Parlament und mit TikTok vor der Nase, tragen sie eine Last, die fürs Erste nichts wiegt. Eine Aufgabe, die niemandem wehtut, den Hiesigen, Heutigen aber die Bewahrung von Fortschritt und Wohlstand verspricht, zumindest noch eine Zeit lang. 

Obwohl das Bruttoinlandsprodukt dieses Jahr nur um 0,1 oder 0,2 Prozent "wachsen" wird, ein Wert, der im Bereich der statistischen Wahrnehmungsunschärfe liegt und ebenso ein Minus vor der Null tragen könnte, gibt es zweistellige Lohn- und Gehaltserhöhungen, mehr Mindestlohn und mehr Bürgergeld, damit es allen gut geht und die Stimmung vor den anstehenden Wahlen nicht ganz in den Wutkeller sackt. Rein rechnerisch ist das vollkommen unmöglich, zumal dadurch nach hinten heraus keineswegs ein Wachstumspotential entsteht, das eines Tages genug abwerfen wird, die Vorschusslorbeeren zu finanzieren. 

Auf dem Weg zum Triplewumms

Über kurz oder lang kommt die Quittung, und wer sie bezahlen wird, ist auch schon klar. Es wird niemand von denen sein, die sich heute weigern, für "gute Lebensbedingungen für alle, einen verlässlichen Personennah- und Fernverkehr, Klimaanpassungsmaßnahmen und den Ausbau von Ganztagsschulen" noch mal richtig in die leeren Kassen zu greifen, statt am "selbst auferlegten Sparzwang" (Taz) festzuhalten. Warum es also nicht noch einmal richtig krachen lassen? Einen Triplewumms für Klima, Krieg und  Koalitionsfrieden? Alles wäre sofort leichter, wenn die Schuldenlast nur schwerer wäre.

Sonntag, 19. Mai 2024

Hakenkreuz im Spiegel: Nichts gelernt

Nach 47 Jahren hat der "Spiegel" sein Hakenkreuz-Titelbild von 1977 noch einmal aufs Cover gehoben. Diesmal geht es nicht gegen Vorurteile im Ausland, sondern um den schlimmen Zustand des Inlands.

Das Erste, was die Nazis nach der Machtergreifung beseitigten, war die Fahne. Schwarz-Rot-Gold, das galt Hitler als die Regenbogenfahne der alten Republik, die wahren Nationalfarben seien Schwarz-Weiß-Rot. Kombiniert mit dem Hakenkreuz, verschaffte sich das Dritte Reich eine Symbolwelt, die bis heute fasziniert, zumindest in Hamburg, wo das frühere Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" immer wieder auf die echten oder eingebildeten Signets der Hitlerdiktatur zurückgreift.

Alles für das D-Wort

Mal ist es die Frakturschrift, die die Nationalsozialisten zwar verboten hatten, die der Spiegel-Grafikredaktion aber als unverzichtbare Nazi-Markierung gilt. Mal ist es die Bildsprache Leni Riefenstahls, die immer wieder als Eyecatcher für den Verkaufskampf am Kiosk genutzt wird. Das Hakenkreuz kommt eher selten zum Einsatz, das öffentlich Herzeigen steht schließlich unter Strafe. Doch nach dem erfolgreichen Test mit dem verbotenen Halbsatz "Alles für Deutschland", gegen den Nutzung kein Staatsanwalt Einwände erhob, begab sich nun eine Expedition aus erfahrenen Gestaltern tief in die "Spiegel"-Archive, um dort nach einer ganz besonders gelungenen Ausgabe aus dem Jahr 1977 zu suchen. 


Über "das Bild vom bösen Deutschland" hatte das damals noch recht journalistisch orientierte Blatt seinerzeit gemurrt, weil im Ausland nur von "Berufsverbot", "D-Mark-Imperialismus" und "Isolationsfolter" die Rede war. Anlass war die Affäre um den ehemaligen SS-Mann Herbert Kappler, der 1944 ein Massaker in den Ardeatinischen Höhlen vor den Toren Roms befehligt hatte und dafür nach dem Krieg von einem italienischen Militärgericht zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Die Bundesregierung unter Willy Brandt setzte sich engagiert für eine Begnadigung des Kriegsverbrechers ein, allerdings erfolglos. Auch die Bemühungen der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Befehlshaber der Erschießung von 335 italienischen Zivilisten freizuhandeln, scheiterten. Kappler gelang dann die Flucht nach Deutschland. Die italienische Regierung tobte. Da Deutschland seine Staatsbürger damals allerdings noch nicht ins Ausland auslieferte, konnte die heute vergessene Symbolfigur deutscher Verbrechen wenige Monate später friedlich daheim in Soltau sterben.

Unvergessenes Titelbild

Unvergessen blieb in Hamburg das Titelbild, das die Ungerechtigkeit beklagte, mit der nur wegen eines einzelnen Massenmörders alle Deutschen zu Nazis erklärt wurden, obwohl Sachsen damals noch im Osten lag. Im Vordergrund sind frühe "Aktivisti" (Goethe-Institut) zu sehen, Frauen und Männer mit Protestbannern, aus denen später die Omas und Opas der heutigen Wähler*innen der "Postfaschistin Melonie" (Spiegel) werden sollten. Und um Hintergrund drückt sich das Hakenkreuz als Relief in eine Deutschland-Fahne - ein Bild, das die Grafikerexpedition in den "Spiegel-Keller bergen, polieren und für die aktuelle Ausgabe Nummer 21 des Jahrgangs 2024 noch einmal auf die Titelseite heben konnte.

"Nichts gelernt?", lautet diesmal die Frage, die Coverversion einer Überschrift von 2010, die ihrerseits eine Neuauflage eines Problemaufrisses von 1987 war. Die Antwort wird diesmal gleich mitgeliefert: "Wer glaubte, Rechtsextremismus und Judenhass seien überwunden, der hat sich geirrt", befindet Dirk Kurbjuweit, dem die "Taz" vor Jahren eine Sehnsucht nach der "Machtübernahme durch die Leitmedien" angedichtet hatte. Dazu kam es nicht. Heute werden annähernd 70 Prozent der Inhalte, die deutsche Mediennutzer konsumieren, von der Nachrichtenagentur DPA verfertigt und über Hunderte Abspielstationen verbreitet.

Nachnutzung nach 47 Jahren

Überall dort, wo noch unique gedrechselt und selbst erfunden wird, was gerade trenden soll, ist ressourcensparende Nachnutzung überlebensnotwendig. Die "Spiegel"-Abonnenten von 1977 sind heute Ende 70, eher noch älter. Keiner von ihnen erinnert sich noch an irgendetwas. Und Jüngere wie der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki sind vom Tabubruch getriggert: "Das Symbol von Völkermord, Menschenfeindlichkeit, Hass und Krieg ist mit der schwarz-rot-goldenen Flagge nicht in Zusammenhang zu bringen - es sind unüberbrückbare Gegensätze", hat sich der Querkopf unter den Liberalen wie bestellt empört. Kubicki sagt, er schäme sich, "dass im größten deutschen Nachrichtenmagazin die Sicherungen dermaßen durchgebrannt sind, dass so eine geschichtsvergessene, geschmacklose und gefährliche Titelgestaltung möglich wurde". 

Aber es ist ja nicht das erste Mal.

Der Spalter: Klingbeil im Klassenkampf

Hinter vorgehaltener Hand nennt das politische Berlin ihn auch "Die Axt": Jetzt hat Lars Klingbeil mit einem Satz klargemacht, für wessen Grundrechte der Staat künftig noch eintreten wird - und für wessen nicht. Abb: Kaltnadelradierung auf Sperrholz, Kümran

Er ist einer der Jungen, einer aus der berühmten Generation Parteiarbeiter der deutschen Sozialdemokratie. Nie hat Lars Klingbeil etwas anderes getan, als sich im Parteiapparat nach oben zu arbeiten, dorthin, wo die dicken Trauben hängen und an den großen Rädern gedreht wird. Knapp 20 Jahre nach seinem Bundestagseinzug als Ersatzkandidat, Klingbeil hatte sich damals schon durch treuer Dienste in einem Abgeordnetenbüro und diversen Parteiformationen bewährt, ist er ganz oben angelangt.  

Kanzler für Morgen

Als einer von zwei Parteivorsitzenden hat der Mann aus Soltau den Marschallstab für ein künftige Kanzlerkandidatur im Tornister. Er ist der junge Mann neben der als zickig und kantig geltenden Saskia Esken. Er ist der sympathische und dynamische Part im Doppel, ein zu groß gewachsener Junge mit dem Lächeln eines Kleinkindes, dem ein Stapel Teller "Mama, ganz von alleine!" herunterfallen ist.

Seinem Namen Klingbeil - von Skeptikern in der Partei auch viel weniger verschwiemelt "die Axt"  genannt - hat der 46-jährige Funktionär jetzt aber unversehens mit einem Satz Ehre gemacht, den er in einer Aktuellen Stunde des Bundestags aussprach, offenbar, ohne vorher groß nachzudenken. "Niemand, der sich in unserem Land für die Demokratie engagiert, darf Angst um seine eigene Sicherheit haben", formulierte Lars Klingbeil am Rednerpult, wie mit offenem Hemdkragen und ohne Binder als echter Vertreter einer Arbeiterpartei verkleidet. 

Die Axt am Gemeinwesen

Auch Ricarda Lang fordert geteilte Rechte.
Eine Aussage, mit der der frühere Jungsozialist, schon mit Anfang 20 als Parteireferent mit ersten Funktionärserfahrungen, im Wortsinne die Axt an das Gemeinwesen legte: Wenn nur die, die "sich in unserem Land für die Demokratie engagieren" keine "Angst um ihre eigene Sicherheit haben" dürfen, was haben dann die zu befürchten, die dieses Engagement nicht oder nicht ausreichend nachweisen können? Sind Menschen, die einfach nur ihr privates Leben führen wollen, Freiwild für alle, die vorhaben, sie zu bedrohen, zu bedrängen, verbal oder sogar körperlich anzugreifen? Grünen-Chefin Ricarda Lang sprang ihm beherzt beiseite. "Schutz und Sicherheit für queere Menschen sind nicht verhandelbar", argumentiert sie. Die für alle anderen augenscheinlich aber schon.

Bis eben noch hatte das Grundgesetz die "Würde des Menschen" für unverletzlich erklärt und dabei keinen Unterschied gemacht zwischen Menschen, die "sich engagieren", und denen, die es nicht tun. Doch was genau das Grundgesetz meint, ändert sich häufig. Mal stört dies, mal muss das weg, mal wird hier etwas umformuliert.  

Hatte das Original noch 146 Artikel auf 47 Seiten mit 12.216 Wörtern, ist die Version von heute zwar einen Artikel kürzer, doch Dutzende von Änderungen des ursprünglichen Textes haben das ehemals kompakte Papier zu einem Regelwerk aufgebläht, das auf 86 Seiten 23.231 Wörter braucht, um alles Grundlegende festzuschreiben.

Mehr Änderungen als Originaltext

Nach 75 Jahren besteht die deutsche Verfassung damit aus beinahe mehr Änderungen als Originaltext - und selbst dessen verbliebene Reste unterliegen beständigen Interpretationsveränderungen, wie die grüne Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt deutlich gemacht hat. "Die Würde des Menschen ist unantastbar", schrieb sie bei X, "so steht’s im Grundgesetz." 

Gemeint sei "die Würde eines jeden Menschen, egal wen man liebt, egal wie man lebt, egal woher man kommt" (im Original ohne Kommata). Und das schließe zumindest seit geraumer Zeit auch die Rechte von Schwulen ein, von Frauen, Alleinerziehenden und anderen Gruppen, die zuvor jahrelang vom gleiche Grundgesetz verfassungsgemäß ausgegrenzt, marginalisiert und unterdrückt worden waren.

Für Lars Klingbeil eine Selbstverständlichkeit, dass jede Gesellschaft aus wenigstens zwei Klassen besteht, die - so sagen es die Lehren des Marxismus - miteinander im Kampf um die Herrschaft über die Produktionsmittel in der Gesellschaft ringen und dabei keine Gefangenen machen. 

Spalten, Teilen, Herrschen

"Wer nicht für uns ist, ist gegen uns", der erst von der SED, dann von US-Präsident George W. Bush verwendete Satz aus dem Lukas-Evangelium ("Denn wer nicht ist gegen uns, für uns ist.") wird bei Klingbeil zu einer Erwägung über den einen Typ Bürgerin und Bürger, "der sich in unserem Land für die Demokratie engagiert" und deshalb davor geschützt werden muss, "Angst um seine eigene Sicherheit zu haben". Und jene andere Sorte, die diesen Schutz nicht verdient hat, Grundgesetz, Grundrechte und  Verpflichtungen des Staates hin oder her.

Selten nur hat ein führender Politiker so tief in sein Staats- und Gesellschaftsverständnis schauen lassen wie Lars Klingbeil. "Die Axt" tut nicht einmal mehr so, als seien ihr gleiche Rechte für alle Bürgerinnen und Bürger wichtig. Klingbeil inszeniert sich lieber als großer Spalter, ein Mann, der beim Zerstören des gesellschaftlichen Zusammenhalts auf Taschenkeil und Fällhebel zurückgreift, die Säge an die Grundrechte legt und die verfassungsmäßigen Schutzpflichten des Staates für jeden Bürger jeder Gewalt gegenüber nur noch denen in Aussicht stellt, die "sich in unserem Land für die Demokratie engagieren".

Samstag, 18. Mai 2024

Zitate zur Zeit: E-Mail-Bomben für den Cyberkrieg

 

Wenn wir angegriffen werden, beim Bundestag oder bei der Wirtschaft oder wo auch immer in Deutschland, dann wäre es doch mal sinnvoll, wenn wir eine E-Mail zurückschicken und den Server, der uns angreift, einmal ausschalten. 

Gerhard Schindler, bis 2016 Chef des Bundesnachrichtendienstes, erläutert, wie im Cyberraum mit E-Mail-Bomben Angreifer in die Knie gezwungen werden

EU-Kolonialreich: Wo die Sonne niemals untergeht

Die EU unterhält bis heute ein prächtiges weltumspannendes Kolonialreich, das bei die zuständigen Mitgliedsstaaten unter dem unverfänglichen Namen "Überseegebiete" geführt wird.
 

Es ist Ausnahmezustand, nicht irgendwo am Rande der EU, sondern mittendrin. Aber Neukaledonien ist nicht Georgien, es ist auch nicht Israel. Die Unabhängigkeitsbestrebungen der indigenen Bevölkerung der französischen Kolonie gelten deshalb in Brüssel wie in Berlin als strikt zu vermeidendes Thema.

Sie nennen es vorsichtig "Überseegebiet", auch wenn es sich faktisch um eine der verschwiegenen Kolonien der Europäischen Union handelt. Dank früherer Bemühungen der Niederlande, von Spanien, Dänemark, Portugal und Frankreich verfügt die EU bis heute über Auslandsniederlassungen auf vier Kontinenten. Ein Weltreich, über das in Zeiten des Antikolonialismus weniger gern gesprochen wird als über die Kolonialmacht Israel. Offiziell bezeichnet die EU die angeschlossenen Exklaven als "Regionen in äußerster Randlage", das allein schon offenbar einen euro-zentristischen Blick. 

Außengrenze im Indischen Ozean

Doch von Guadeloupe über Französisch-Guayana, Martinique, Mayotte, Réunion und St. Martin über die Kanarischen Inseln, die Niederländischen Antillen bis zu den Azoren leben alle recht kommod damit. Frankreich sorgte zuletzt vor zehn Jahren für eine EU-Erweiterung der besonderen Art: Mit Mayotte stieß ein tropisches Inselparadies, gelegen zwischen Mosambik und Madagaskar vor der Küste Afrikas, zur Runde der Wertegemeinschaft, die seitdem eine neue Außengrenze im Indischen Ozean hat.

In Neukaledonien allerdings brodelt es derzeit. Das französische Überseegebiet, 1774 vom Briten James Cook entdeckt und 1853 von Napoleon III in französischen Besitz genommen, liegt weiter vom Mutterland entfernt als jeder andere EU-Außenposten. 16.600 Kilometer sind es von Paris bis zur Insel, die immerhin siebenmal so groß ist wie das berühmte Saarland, das Frankreich nach einer Volksbefragung in den 50er Jahren wieder an den Nachbarn Deutschland verloren hatte. 

Entsetzte Besucher

1.500 Kilometer vor Australien leben die Nachfahren der Verbrecher, die erst die Briten und später die Franzosen auf das Eiland abschoben. Aber auch die Nachfahren der Ureinwohner, von deren Sitten und Gebräuchen die ersten Besucher aus Europa Fürchterliches berichteten.  Die Grande Nation hat ihre Eroberung im Pazifik dennoch nie hängenlassen. Sie dezimierte die Kanaken - Neukaledoniens Ureinwohner - durch eingeschleppter Seuchen, gab ihnen Kriminelle und Staatsfeinde und nahm ihnen das auf der Insel reichlich vorkommende Nickel. Die immer wieder aufmuckende einheimische Bevölkerung wurde durch ein Apartheid-ähnliches System ruhiggestellt, die Ureinwohner durften dafür aber schon im Ersten Weltkrieg Soldaten für Frankreich stellen.

Nicht allen gefiel das offenbar. Immer wieder gab es Aufstände der Kanaken, selbst noch nachdem Frankreich die Kolonie nach dem Zweiten Weltkrieg zum Übersee-Territorium erklärt und allen Einwohnern die französische Staatsangehörigkeit verliehen hatte. 1947 akzeptierte die UNO die Fremdherrschaft. 1953 erhielten die Neukaledonier die französischen Bürgerrechte und 1957 durften sie sogar ein lokales Parlament wählen, das allerdings ein Jahr später auf Geheiß Charles de Gaulle schon wieder zu einer Art Folkoreveranstaltung herabgestuft wurde.

Schlag gegen Unabhängigkeit

Aus Deutschland, das seine wenigen Kolonien nie zu Überseegebieten erklären konnte, weil sie schon verloren waren, als diese Lösung Mode wurde, wird Frankreich um sein Pazifikparadies beneidet. Wie viel Ärger und Arbeit der Erhalt eines solches kolonialen Erbes aber braucht, zeigt sich in diesen Tagen, in denen eine geplante Verfassungsreform aus Sicht der Kanaken droht, alle künftigen Unabhängigkeitsbestrebungen zunichtezumachen.

Geht es nach der Regierung in Paris, bekommen Tausende französischstämmige Bürgern das regionale Wahlrecht - die Chance, es besser zu machen als beim letzten Referendums, bei dem 56,4 Prozent der Wähle für den Verbleib bei Frankreich stimmten, wäre für alle Zeit dahin.

Ausnahmezustand in der EU

Nach gewalttätigen Ausschreitungen, etlichen Toten und einer Lagem, die außer Kontrolle geraten war, hat Frankreich nun den Ausnahmezustand verhängt und wieder Soldaten geschickt, die die Unruhen beenden und Ruhe und Ordnung wiederherstellen sollen. Zum Glück mussten die Truppen nicht komplett aus der Heimat eingeflogen werden, Frankreich verfügt im nur 4.500 Kilometer entfernten Polynesien über eine Eingreiftruppe der Nationalgendarmerie, die zu Hilfe eilen konnte. Der Rat der Kanaken warf der französischen Regierung inzwischen vor, den Widerstand der großen Mehrheit der indigenen Bevölkerung durch Internet- und Ausgangssperren und Demonstrationsverbote unterdrücken zu wollen. Der internationale Flughafen ist derzeit geschlossen. 

Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat sich noch nicht zum Aufstand mitten in der Gemeinschaft der 27 geäußert, auch der Außenbeauftrage Josep Borrell, zuständig für "Ein stärkeres Europa in der Welt", schweigt angestrengt. Ebenso halten es Vizekommissionschefin Dubravka Šuica (Demokratie und Demografie), Didier Reynders (Justiz), Ylva Johansson (Inneres), Janez Lenarčič (Krisenmanagement), Olivér Várhelyi (Nachbarschaft und Erweiterung) und Jutta Urpilainen (Internationale Partnerschaften). Auch Berlin, wo große Sorgen um zu viel Transparenz in Georgien und den Schutz der Hamas vor israelischen "Vergeltungsaktionen" (Taz) das Tagesgeschäft bestimmen, ist bisher stumm geblieben.

Freitag, 17. Mai 2024

Joko, Klaas und der Untergang: Was wäre, wenn es die EU nicht mehr gäbe?

 

Die beiden sind das Duo Infernale des deutschen Fernsehens, eine klassenfahrtwilde Doppelausgabe des WDR-Agitatoren Georg Restle, die komplizierte Zusammenhänge auf Jux und Dollerei herunterbrechen. "Joko" und "Klaas" sind für Pro Sieben das, was Jan Böhmermann für den Gemeinsinnfunk sind: Mutige Opportunisten, die stets tapfer anerkannte Mehrheitspositionen verteidigen und dabei auf ein Publikum zielen, das im Grunde genommen nicht an unangenehmen Wahrheiten interessiert ist. Spontanität ist hier inszeniert, das ausgestellte TV-Rebellentum ein Masche, mit der Preise gewonnen und Kritiker der klimaschädlichen Sendungen zum Verstummen gebracht werden.

Fernsehspiele in engen Grenzen

Für junge Menschen, die nach Orientierung suchen, sind Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf ein ähnlich bedeutsamer Anlaufpunkt wie die ZDF-Populärwissenschaftlerin Mai Thi Nguyen-Kim oder der Naturphilosoph Harald Lesch, der im Kostüm des alten weisen Mannes erklären kann, "warum Aliens keinen Kontakt mit uns wollen", warum die Alpen bald verschwinden werden und was eigentlich los ist mit der Energiewende. Joko & Klaas spektakeln mehr, sie sind die moralisch porentief reinen Erben von Thomas Gottschalk und Günther Jauch in der tabulosen Zeit der Fernsehspiele ohne Grenzen, als Witze noch dreckig und Unterhaltung ohne Erziehungsabsichten erlaubt war.

In ihrer Rolle als Volkshochschullehrer müssen die beiden Grimme-Preisträger ihre Popularität allerdings immer mal für einen guten Zweck nutzen. Dann geht es gegen Sexismus und für Menschenrechte, gegen das iranische Regime und für gerechte Löhne in der Pflege, um die Notwendigkeit von Impfungen oder Waffen, was gerade anliegt und verkauft werden muss. Kurz vor der EU-Wahl ist das nun die prekäre Gemeinschaft der 27 Staaten, die in den Jahren der Herrschaft von Ursula von der Leyen zu einem Staatenbund geworden ist, dessen Unbeliebtheit bei den Insassen so ziemlich das einzige ist, was Griechenland mit Schweden, Portugal mit Dänemark und Deutschland mit Bulgarien verbindet. 

Rettungseinsatz für die EU

Höchste Zeit für einen Rettungseinsatz von Joko & Klaas: Im Video "Was wäre wenn es die EU nicht mehr gäbe" (ohne Komma) beschwören die beiden ernsten Komödianten einen Weltuntergang herauf, der wankende und ideologisch schwankende Jungwähler davon überzeugen soll, dass es für Europa keine Alternative zur einzigen globalen Staatengemeinschaft gibt. 

Genutzt werden für die Überzeugungsarbeit die Werkzeuge des sogenannten Negative Campaigning: Weil es offenbar an positiven Argumenten mangelt, mit denen sich die anvisierten jungen und jüngsten Wahlberechtigten von der Notwendigkeit eines Kreuzes bei den Verteidigern eines immer enger zusammenwachsenden Europa überzeugen lassen könnten, verlegen sich die beiden Influencer auf die Beschwörung eines Untergangsszenarios, wenn die Wahlbürger falsch abstimmen.

Angst um den Euro

Dann, so Joko & Klaas in einem "hypothetischen Szenario", das von einer vermutlich amerikanischen "KI bebildert" wurde, wird die Welt untergehen oder doch zumindest Europa. Der "Zerfall der EU" werden Chaos auf den Finanzmärkten auslösen, Spekulanten würden sofort ihr Geld aus instabilen Ländern abziehen und der Euro, jene Stabilwährung schlechthin, die seit ihrer Einführung vor 23 Jahren etwa 45 Prozent ihrer Kaufkraft eingebüßt hat, werde einen Kursverfall erleben. 

Aber das ist längst nicht alles. Auch die Grenzkontrollen, wie sie die EU schon seit Jahren wieder kennt,  würden zurückkehren, dazu auch Handelsbarrieren, die den freien Warenverkehr mehr noch als die neue EU-CO2-Grenzausgleichsabgabe eingeschränken würden, was zu Lieferengpässen, Preissteigerungen und einem Rückgang des Handels führe. 

EUnausweichlich stehe, das arbeiten Joko und Klaas, unterlegt mit apokalytischen Bildern einer europäischen Dystopie, liebevoll heraus, ein "Verlust von Wohlstand und Arbeitsplätzen" bevor, und das in Deutschland ganz besonders. Es käme diesmal nicht zu Bäckern, die nur eine Weile lang nicht backen, sondern "zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit und einem Rückgang des Lebensstandards", begleitet von "zunehmenden Spannungen und Konflikten", weil sich "nationalistische Tendenzen", wie sie derzeit schon zu spüren sind, "verstärken und es zu Konflikten zwischen den europäischen Staaten kommen" könne. 

Fürchterliche Schicksale vor Augen

Eine Parade der apokalyptischen Reiter, die das vorüberzieht. Europa, Joko und Klaas mahnen eingedenkt der fürchterlichen Schicksale der Schweiz, Islands, Norwegens und Liechtenstein, wären einzeln gegenüber Großmächten wie China und Russland deutlich schwächer. Niemand würde mehr auf Josep Borrell hören, den eingeschworenen Verteidiger Palästinas, der es trotz einer Verurteilung wegen Insiderhandels auf den Posten des "EU-Außenbeauftragten" geschafft hat und dort noch nachdrücklicher als Annalena Baerbock Mahnungen an Israel und tiefes Schweigen an den Iran schickt. Zudem: Jeder würde dann wohl venezolanische Präsidenten anerkennen, wie er gerade lustig ist, oder gar neue Staaten anerkennen, die benachbarte frühere Wertepartner für nicht anerkennungswürdig halten.

Die schrecklichen Folgen lägen auf der Hand. Die Abschaffung der gemeinsamen Umweltstandards der EU, die die EU-Kommission und das EU-Parlament eben erst beschlossen hatten, um die Bauern zu besänftigen, würde weitergehen, "was zu einer Verschlechterung der Umweltbedingungen führen könnte" (Joko & Klaas). Es gäbe Schwierigkeiten im Gesundheitswesen, weil ein "Mangel an Ärzten und Pflegepersonal" drohe. Und nicht zuletzt wäre ein Verlust der kulturellen Vielfalt absehbar: "Die EU hat zur Förderung der kulturellen Vielfalt in Europa beigetragen. Ihr Zerfall könnte zu einem Verlust dieser Vielfalt führen." Der Schuhplattler würde siegen, der Tango Deutschland verlassen. Afrikanisch inspirierte Trommelkurse würden verboten, der Jazz müsste zurück in den Untergrund.

Das Publikum ist den beiden Spaßvögeln auf ernster Mission dankbar für die Warnungen. "Viele verstehen wahrscheinlich gar nicht, wie wichtig die EU für jeden einzelnen von uns ist, auch weil man das im normalen Leben vielleicht gar nicht so spürt", schreibt einer, bei dem die Botschaft angekommen ist.  Er wird seine akute Angst vor der Apokalypse hoffentlich in ein Kreuz an der richtigen Stelle verwandeln.

Hitzewinter: Abstimmung mit dem Ofen

Eine private Firma bietet private Hitzeschutzpläne an, derzeit mit 35 Prozent Klimarabatt.

Der Februar war warm, der März hatte dann schon zu heiße Tage. I April schließlich geriet alles aus den Fugen. Es war Sommer, wie Peter Maffay weitsichtig bereits in den Siebzigern vorausgeahnt hatte. Nachdem zuvor schon der heißeste Oktober, ein heißester November, ein überaus heißer Dezember und ein viel zu warmer Januar Ströme von Angstschweiß versetzt hatten, schrillten nun die Alarmglocken. Nichts schien etwas genutzt zu haben, nicht der Atomausstieg, nicht die Solaroffensive und der beschleunigte Ausbau der Erneuerbaren oder der Hitzeschutzplan des Bundesgesundheitsministers.

Schneller als alle anderen

Europa untermauerte eindrucksvoll seinen Ruf als der Kontinent, der sich noch schneller erhitzt als all die anderen, die sich noch schneller erhitzen als alle anderen. Die Tropen rücken nach Norden, unaufhaltsam. Und kaum hatte der April 2024 sich als elfter Monat in Folge zu warm verabschiedet, stellt sich nun auch noch heraus, dass die Menschen im Land ofenbar nicht genug davon bekommen können.

Nach Berechnungen des Immobiliendienstleisters Ista auf Basis der monatlichen Heizdaten von 350.000 Wohnungen nicht nur die Heizkosten der Verbraucher im vergangenen Jahr gestiegen, weil die Kosten je Kilowattstunde im Vergleich zu 2022 im Schnitt bei Fernwärme um sieben Prozent, bei Heizöl um 34 Prozent und bei Erdgas um 44 Prozent kletterten. Sondern auch der Energieverbrauch wuchs ungeachtet der deutlich wärmeren Witterung. Der Heiz-O-Mat, mit dem das Unternehmen die Wärmewende anheizen will, zeige einen Widerspruch zwischen tatsächlichem Heizverhalten und der wachsenden Sorge vieler Menschen um höhere Heizkosten.

So warm, dass alle heizen

Und dann noch dieser Fall der "Temperaturrekorde fallen in Serie" (Der Spiegel). Keiner kennt sich mehr aus. Es war so warm, dass eine große Zahl von Bürgerinnen und Bürgern mehr heizen mussten. Eine Abstimmung mit dem Ofen, die nach Angaben von Ista in den 20 größten deutschen Städten einheitliche Ergebnisse erbrachte: Nur Mieter in Stuttgart heizten weniger als im Vorjahreszeitraum, aber auch nur ein Prozent. Dresden und München gönnten sich hingegen zwei Prozent Mehrverbrauch, Bielefeld sogar zwölf Prozent. Ganz Deutschland kam im wärmsten Winter aller Zeiten auf fünf Prozent mehr Heizleistung als ein Jahr zuvor.

Auch im Januar 2024, wissenschaftlich gründlich vermessen "der wärmste jemals gemessene Januar",  hielt sich kaum jemand an die offiziellen Empfehlungen des Klimawandeldienstes der Europäischen Union, der dem Monat ein Plus von 0,7 Grad gegenüber der Durchschnittstemperatur des Referenzzeitraumes bescheinigte. "Witterungsbedingt", heißt es im Heiz-O-Meter von Ista, sei der Mehrverbrauch im Vergleich zum Vorjahresmonat besonders deutlich ausgefallen: "Infolge der kühlen Witterung stieg der Wärmeverbrauch um 23 Prozent". 

Lag es fehlenden Tempolimit? Waren die Bauernproteste schuld? Oder fehlt es den Menschen immer noch an Einsicht in die Notwendigkeit, dass heimische Hitze doppelt bezahlt wird - mit Geld und einem verpassten Pariser Klimaziel?

Donnerstag, 16. Mai 2024

Große Sorge: Lockt die Atombombe genügend Wähler?


Einmal tauchte sie bisher außerhalb der kleinen verschwiegenen sozialdemokratischen Zirkel auf. Katarina Barley, die Spitzenkandidatin der deutschen Sozialdemokratie für die anstehende EU-Wahl ("Europa-Wahl"), forderte in aufsehenerregenden Interviews zum Wahlkampfauftakt eine eigene Atombombe für Brüssel und Berlin, um die Demokratie zur Not auch mit dem allerletzten Mittel verteidigen zu können. Das Echo war überwältigend: Barley, bis dahin als strategisches Leichtgewicht unterschätzt, war plötzlich ein echter Faktor auf der internationalen Bühne.  

Im Zeichen des Sowjetsterns

Im Zeichen des ausgestanzten Sowjetsterns im Zuschnitt der ruhmreichen Sowjetarmee schickte sich die 55-Jährige an, der bis dahin so siegessicheren Ursula von der Leyen ernsthaft Paroli zu bieten. Ein Ding der Unmöglichkeit, so hatten Beobachter eigentlich zuvor geglaubt. Um die Wahlen in den 27 Mitgliedsstaaten nicht zu verlieren, hatte sich die mit allen europäischen Wassern gewaschene Taktikerin von der Leyen schließlich zwar mit großem Pomp zur "Spitzenkandidatin" der Europäischen Volkspartei ausrufen lassen. Es aber tunlichst vermieden, selbst als Kandidatin zur Wahl anzutreten. Erstmals bei einer Wahl weltweit steht damit eine Spitzenkandidatin nicht selbst zur Wahl. Sie trägt den Titel nur ehrenhalber, um in der "Tagesschau" jeweils als "Spitzenkandidatin" vorgestellt werden zu können.

Verlieren ist für von der Leyen verboten, es ist angesichts der klug geschnittenen Ausgangslage aber auch unmöglich. Verlieren wird Katarina Barley, obwohl sie die geplante große Werbekampagne mit dem Sowjetstern unmittelbar nach den ersten Hinweisen auf die unausweichlichen historischen Assoziationen einstampfen ließ und nun einem Hauch Schulz'schen Nationalismus den Vorzug gibt. Ja, die Kommissionspräsidentin teilt mit ihrer SPD-Konkurrentin das traurige Schicksal, Berlin und die deutsche Politik einst überhastet verlassen haben zu müssen. Von der Leyen war von der eigenen Kanzlerin nach Brüssel verbannt worden, als der Boden für sie, die so lange favorisierte Thronfolgerin, in Berlin aufgrund der seinerzeit aufgeregt verfolgten SMS-Affäre zu heiß wurde. 

Per Bannstrahl nach Brüssel

Katarina Barley traf ein Bannstrahl aus der Parteizentrale: Andrea Nahles fürchtete die vergleichsweise frisch wirkende und mit ungewöhnlichen Thesen hausierende Kölnerin, die es mit Zahlen und Wirtschaft nicht so hat und dadurch immer automatisch auf Augenhöhe mit dem gesamten SPD-Vorstand argumentiert. Aus Furcht, selbst  ausgebootet zu werden, entsandte die Vordenkerin der "Guten Gesellschaft" die führende Vertreterin der "Generation Parteiarbeiter" ins ferne Europa, wo Katarina Barley wie erhofft in einem tiefen Loch aus Bedeutungslosigkeit verschwand.

Sich aus dem herauszuarbeiten, schien der amtierenden Präsidentin des Arbeiter-Samariter-Bundes Deutschland mit der Atombombenforderung kurzzeitig zu gelingen. Doch wie der nachfolgende dramatische Spannungsabfall im Wahlkampfgetümmel zeigen auch die Hilfsmittel, derer sich Barley beim Kampf um die Köpfe bedienen muss, wie verzweifelt die frühere Familien-, Arbeits-, Sozial-, Justiz- und Verbraucherschutzministerin um Wahrnehmung betteln muss. 

Hohlkammer A0

Barley gibt Kindern Interviews, sie spricht mit dem parteieigenen RND und mit dem ADAC und sie ist bereit, "EU Kandidierenden-Doppelplakate" im Format "Hohlkammer A0" (SPD) aufhängen zu lassen, die auf alle zuvor geplanten inhaltlichen Festlegungen verzichten und einfach nur "Deutschland stärkste Stimmen für Europa" bewerben. Katarina Barley hoffe damit, dass "ihr Einsatz für Demokratie in Europa endlich wahrgenommen" werde, hat der "Tagesspiegel" bei einer Autopsie der bisherigen Wahlkampfanstrengungen der SPD-Spitzenkandidatin festgestellt. Doch vergebens. 

Nicht nur, dass Barley kaum einem Wähler bekannt ist, nein, den wenigen, die bereits von ihr gehört haben, erscheint die frühere SPD-Generalsekretärin oft auch noch als Spitzenkandidatin der europäischen Sozialdemokratie. Damit allerdings verstellt Katarina Barley dem echten Spitzenkandidaten Nicolas Schmit damit die Sicht auf die Völker Europas - und dem deutschen Volk die Sicht auf den Mann, den die "Party of European Socialists", die sich aus historischen Gründen in Deutschland lieber "Sozialdemokratische Partei Europas" nennt, gern als nächsten Kommissionschef installiert sehen würde. 

Der unsichtbare Kandidat

Der 70-jährige Luxemburger, der seit 1979 auf allen Verwaltungsebenen gedient hat und derzeit als Kommissionsmitglied für Arbeit und Soziale Rechte dafür sorgt, dass alle "EU-Menschen vor den multiplen Krisen geschützt werden", wird weder plakatiert noch absolviert er Wahlkampfauftritte, der "Spitzenkandidat" kommt in deutschen Medien nicht vor, er betätigt sich seit März nicht mehr bei X, seit letzten Herbst nicht mehr bei Facebook, er betreibt keine eigene Wahlkampfseite und der eine Versuch seiner deutschen Genossin, ihn beim chinesischen Datenschutzportal TikTok jungen, fetzigen Neuwählern schmackhaft zu machen, endete vor einem Auditorium von nicht einmal 1.500 Zuschauern.

Politisch gesehen ist Mitte Mai natürlich auch schon alles vorbei. Die ersten Briefwähler haben ihre Kreuze gemacht, die schrecklichen Umfragewerte der SPD werden sich nicht mehr groß ändern. Die Schlacht und es fiel nur ein Schuss: Die verrückte Idee mit der Atombombe wird Historikern im Nachhinein vermutlich als einzig origineller Beitrag der sozialdemokratischen Verfechterin "hoher Arbeitsstandards" und einer "Migrationspolitik, die den Werten der Europäischen Union entspricht" auffallen. 

Genügend Wählerinnen und Wähler aber wird auch dieser verzweifelte Versuch, alte Fake News als neue Wahrheiten zu verkaufen, nicht überzeugen.

Selber schuld: Wer nicht hören will

Ein bisschen vom "Brunnenvergiften" steckt auch drin.

Tja. Das hätte er doch wissen können. Die Schüsse auf den slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico waren kaum verhallt, da verwandelte sich das mediale Entsetzen schon in ein achselzuckendes Aber naja. Nach dem "Attentat auf den slowakischen Premier" erklärte der "Spiegel", "wie Fico das Klima in seinem Land mit vergiftet hat". Im MDR lieferte ein Korrespondent aus dem Nachbarland Tschechien fast baugleiche Erklärungen, zur Überraschung der Zuschauer in Mitteldeutschland. Seit Wochen seien Zehntausende schon bei Protestdemonstrationen auf den Straßen, weil Fico das Land gespalten habe.

Langer Urlaub

Der Mann muss Urlaub gehabt haben, sehr lange sogar. Denn von den besagten Protesten hatte er seinen Sender und dessen Zuschauer bis dahin kein Sterbenswort wissen lassen. Aber damit war er nicht allein: Deutsche Medien behandeln das EU-Partnerland auch nicht anders als alle anderen 25. So lange keine Rechtspopulisten nach der Macht greifen, Spanien sich zu spalten droht oder Macron zu den Waffen ruft, sind Griechenland, Portugal, Dänemark, Kroatien und Malta genauso weit weg wie Chile, Malaysia oder Alaska. Ausnahmen wurde zuletzt häufiger für Polen und Ungarn gemacht, die die Rechtsstaatlichkeit verletzten. Polen ist inzwischen vom Haken. Die Auslandsberichterstattung hätte sich fortan komplett auf Schurkenstaaten wie Ungarn, Russland und China konzentrieren können.

Nun aber Fico, der Mann, der die Slowakei einst in den Schengen-Raum und die Euro-Zone führte, zuletzt aber mit seiner Ablehnung der EU-Flüchtlingspolitik negativ auffiel. Fico provozierte zugleich mit der Weigerung, Waffen an die benachbarte Ukraine zu liefern und er nannte einen angeblichen "Multikulturalismus" eine "Fiktion", die nicht funktionieren könne. 

Nachdem er erklärt hatte, dass der "Islam keinen Platz in der Slowakei" habe, exkommunizierte die "Party of European Socialists", im Deutschen lieber als Sozialdemokratische Partei Europas übersetzt, mit einem Ausschluss seiner Partei Slovenská Sociálna Demokracia⁠ aus dem gemeinsamen Non-Profit-Association auf europäischer Ebene.

Es wird dann doch "Entsetzen"

Mit jemandem, der so auffällig wird, pflegt man natürlich gern einen anderen Umgang als mit Leuten, die man gut leiden kann. Während deren Schicksal nur rührt, so sehr, dass auch in der zweiten Woche nicht einmal irgendwo gefragt wird, ob die Schläger den sächsischen Spitzenkandidaten der stolzen Socialists tatsächlich erkannt und deshalb verprügelt, oder einfach nur einen SPD-Wahlkämpfer entdeckt und ihn überfallen haben, wie irgendwer jeden Tag irgendwo Politiker angreift oder ihre Autos oder Häuser anzündet. "Ein bisschen Emotionalität, ein bisschen Verwirrtheit", heißt es im ZDF-Morgenmagazin, müsse "schon dabei sein", bei einem "mutmaßlichen Attentat" (Spiegel).

Die Schuldfrage steht nun überall. Ein "Schock mit Vorgeschichte", befindet die "Tagesschau". Nun stehe die Slowakei "am Rande des Bürgerkrieges", befindet Euronews. Robert Fico habe ja "die Demokratie gefährdet" (T-Online), der "Populist und Putin-Freund" (Tagesspiegel) darf sich nun eigentlich nicht wundern, denn wer so "muslimfeindlich und korrupt" (Morgenpost) agiert, für den gilt, dass er sich nicht wundern darf.

Robert Fico hätte sich früher überlegen müssen, was er anrichtet, wenn er trotz aller Warnungen aus Berlin und Brüssel "sein Land umbaut" (Euractiv, "The Trust Project"). Das RND hat gemahnt, denn die Sorge in der EU, dass es "Pro Putin statt pro Europa" weitergehen werde, war unüberhörbar. Die "Tagesschau" sah den früheren Vertreter der Slowakei vor der Europäischen Kommission für Menschenrechte und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte von Orban lernen. Er hat nicht hören wollen. Und nun muss er fühlen. Zumindest ein paar Stunden lang. Später änderte der "Spiegel" die Selbst-schuld-These dann doch noch auf das unverfängliche "Entsetzen in einem gespaltenen Land".