Freitag, 31. März 2023

Es geht voran: Gut ist im Schuh

Kein Bürger der 15-Minuten-Stadt braucht 20 oder zehn Paar Schuhe. Immer mehr Händler sehen das ein.

Erst Görtz, nun Reno, davor schon Salamander und Ara und Klauser, die eher kleinen Mitspieler Hengst Footware und Bültel Worldwide Fashion nicht zu vergessen. Mit dem Neun-Euro-Ticket begann eine beispiellose Pleitewelle unter deutschen Schuhhändlern. Mit der Aussicht auf die baldige Einführung des 49-Euro-Nachfolgers nimmt sie nun nach einer kurzen Atempause wieder Fahrt auf. E-Roller und Elektrofahrräder, aber auch der erste Ausblick auf die 15-Minuten-Stadt, die lange Fußwege nicht nur obsolet macht, sondern auch Sohlenabrieb spart, geben immer mehr Fachhändler und Ketten den Versuch auf, die Deutschen zum nunmehr unnötigen Nachkauf immer neuer Fußbekleidung zu überreden.

Scham vom Schuh

Das grüne Schrumpfen, es beginnt ganz unten. Trug der damalige EU-Vorsitzende Jean-Claude Juncker im Vorkriegsnovember 2018 demonstrativ noch je einen Schuh aus zwei Paaren, um zu zeigen, dass es der unablässig steigende Wohlstand in der EU erlaubte, einen ganzen Schuhschrank voller verschiedener Modelle für unterschiedliche Gelegenheiten vorzuhalten, hat sich im Zuge von Corona-Krise, Krieg und Geldentwertung die Vernunft durchgesetzt. Galten dem Stahlarbeitersohn aus dem ehemals französischen, ehemals deutschen und ehemals niederländischen Redingen gute Schuhe noch als Zeichen eines guten Lebens, obwohl engagierte Mahner seinerzeit schon auf die umweltvernichtenden Auswirkungen der globalen Bekleidungsindustrie hinwiesen, setzt sich nun mehr und mehr der Gedanke mutiger Aktivisten durch: Das Böse braucht Stiefel. Das Gute geht barfuß.

Der Gedanke, dass Schuhhändler zeitweise keine Schuhe mehr verkaufen, ist nicht neu. Robert Habeck selbst hatte die Idee zeitweiser Bundesbetriebsferien  im vergangenen Jahr bei einem Besuch in der Talkshow von Sandra Maischberger öffentlich vorgestellt. Bäckern machte der Wirtschaftsminister den Vorschlag, ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten zunächst einzustellen und wieder aufzunehmen, wenn die Zeiten besser sind. Eine Beschränkung nur auf das backende Gewerbe sah Habeck eindeutig nicht vor.  "Bestimmte Branchen", sagte er, "könnten einfach erstmal aufhören zu produzieren und zu verkaufen."

Gewaltiges Sparpotenzial

Die anfangs verblüfft aufgenommene Anregung macht nun sichtlich Schulhe. Taten sich Ketten wie Reno und Görtz bisher ohne Rücksicht auf die endlichen Ressourcen der Erde gütlich am ewiggestrigen Glauben der Deutschen, sie bräuchten 20 Paar Schuhe im Falle von als Frauen gelesenen Personen oder wenigstens doch zehn Paar, wie Statistiker für Menschen herausgefunden haben, die sich selbst als Mann bezeichnen, beweisen die aktuellen Entwicklungen, dass ein durchschnittlichen Pro-Kopf-Verbrauch von 3,78 Paar Schuhen weder gesund für die Umwelt, noch notwendig sind, um immer mehr zu Fuß zu gehen, damit die Umwelt geschont wird. 

Es ist auch viel sparsamer. Verglichen mit 110.000 Tonnen Reifenabrieb, die mehr als 43 Millionen Kraftfahrzeuge und 81 Millionen Fahrräder Jahr für Jahr in die Luft verstäuben, summieren sich die 109 Gramm Schuhsohlenabrieb, die jeder Deutsche pro Jahr produziert, nur zu knapp 10.000 Tonnen Mikroplastik. Zudem füllt der Rückzug der Schuhhändler die Brieftaschen der Bürgerinnen und Bürger, die bislang  Jahr für Jahr Schuhe im Wert von knapp 100 Milliarden Euro gekauft hatten, obwohl die alten Treter in vielen Fällen durch aus noch gut waren

Es geht also im wortwörtlichen Sinne vorwärts, wenn auch noch ein wenig langsam. Was von wirtschaftsnahen Auguren als schwere Krise des Schuhhandels in Deutschland bezeichnet wird, nur weil binnen eines Jahres 13 Prozent der zuvor etwa 10.000 Schuhläden ihre Türen schlossen, ist zweifellos eine große Chance für eine transformierte Gesellschaft mit kurzen Wegen, deren Mitglieder sich vorzugshalber mit ÖPNV, E-Roller oder Lastenrad fortbewegen.

Doku Deutschland: Mein Leben für die neue Heizung

Der alte ist noch nicht abbezahlt, da steht für Mathelehrer Uwe schon der Abschluss eines neuen an.

Ich war mein Leben lang Mathelehrer, habe ich zu den beiden gesagt. Aber ich will ehrlich sein, habe ich gesagt: Nicht aus Liebe zu den Kindern, sondern aus Liebe zu den Zahlen! Ich liebe sie, ich liebe sie richtig. Sie müssen wissen, dass es bei so einer langen Fahrt wichtig, ist, eine Atmosphäre ins Auto zu bekommen. Schnell muss es gehen, Offenheit, Vertrauen, Stimmung, das entscheidet sich bei so einer Mitfahrgemeinschaft nach meiner Erfahrung in den ersten fünf Minuten. Das ist dann nicht immer schön, aber als Mathematiker weiß ich, dass es keinen Ausweg gibt. Wer bei den Preisen heute reisen muss, der hat auch nach dem jüngsten Ampel-Wumms zu schauen, wie sich das finanzieren lässt.

Drei Wochen Strand

Ich hatte also diese beiden jungen Leute hinten drin sitzen, Sie Ende 20, blond, aber nicht Natur, ein bisschen zu wohlgenährt für meinen Geschmack. Er langhaarig, länger als sie, hatte das, was ihr zu viel auf den Rippen lag, zu wenig auf den Knochen. Wollten nach Kiel, von ganz im  Osten bei Ahlbeck aus, wo ich eine kleine Auszeit genommen hatte. Kur für Überarbeitete, drei Wochen Strand und Meer und frische Brise. Sie steigen zu, ich brachte meinen Mathelehrerspruch, den bringe ich immer, denn der funktioniert in der Regel. Schmunzeln. Freude. Haha, Kinder, das kennen wir alle.

Erst auf Höhe Greifswald bekomme ich mit, worüber die beiden wispern. Die Heizungspläne der Regierung! Das war ja nun gerade mein Lieblingsthema, weil da alles zusammenkommt. Die Mathematik, das eigene Schicksal, das Alter, der Blick auf die Gesellschaft. Ich sperre also die Ohren auf, höre sie von straffer Umsetzung und Haltung gegen die Liberalen reden, von erhoffter Unterstützung durch die EU und den globalen Süden, der auf Deutschlands Vorreiterrolle beim Klima hoffe.

Leider Hausbesitzer

Leider bin ich Hausbesitzer. Ziemlich weit draußen am Stadtrand von Friedland hat mir mein Vater ein kleines Häuschen hinterlassen. Sechs Zimmer auf zwei Etagen, 140 Quadratmeter, Garage, Ziegeldach, gepflasterter Hof. Baujahr 1949, kein Keller. Vor sechs Jahren haben wir von Ölheizung auf Gas umgestellt, gab damals gerade eine große Fördermaßnahme der Bundesregierung zur ökologischen Sanierung. Und der Ölbrenner war von 1991, den hatte mein Vater gleich nach der Wende installieren lassen, weil er dann doch nicht mehr mit Kohle feuern wollte. Nach 25 Jahren ist genug, habe ich zu meiner Frau gesagt, wir machen das jetzt richtig, dann haben wir bis zum Schluss unsere Ruhe.

Wir sind beide 62 Jahre alt, ich Lehrer, wie gesagt, meine Carola arbeitet im Amt in Stargard. es geht uns gut, aber wir sind nicht reich, wie Sie vielleicht denken. Den Umbau von 2017, an dem zahlen wir immer noch ab, den Kredit meine ich. Das haben wir nicht bar herumliegen. Und nun sollen wir schon wieder, habe ich den beiden hinten im Fond zugerufen. Wie denken Sie sich das? Woher nehmen und nicht stehlen?

Früher nie etwas gesehen

Erst war Ruhe da hinten. Dann kamen die Jaaber und die Trotzdem und Esmussdoch. Dann verrate ich Ihnen mal was, habe ich gesagt, ich bin nämlich Mathelehrer, und wenn es gut läuft, bin ich das noch vier, fünf Jahre. Dann fängt die Rente an, dann wollen meine Carola und ich auf Reisen gehen, so lange wir können. Wir haben nämlich die ersten 30 Jahre unseres Lebens nichts gesehen von der Welt, habe ich gesagt, nichts als Ungarn und die Tschechei. Weil da doch, Sie wissen es vielleicht nicht, diese Mauer war. 

Fangen Sie nicht davon an, sagte sie. Was hat das miteinander zu tun, fragte er. Die Zahlen, habe ich gesagt, die Zahlen! Ich bin ja Mathelehrer und in meinem Kopf addiert und substrahiert es immer automatisch. Lese ich von einer Berliner Wohnungsgenossenschaft, die stolz verkünden lässt, sie habe 800 Wohnungen für 100 Millionen vollökologisch saniert, dann steht vor meinem inneren Auge die Zahl 125.000, das ist nämlich, was das pro Wohnung kostet. Vor Zinsen aber nur. Bei den vier oder fünf Prozent, die mich ein Kredit inzwischen kostet, komme ich in 20 Jahren auf 270.000 bis 320.000 Euro, die ich abzuzahlen habe. Der Mathelehrer in mir weiß, dass das 1.250 bis 1.500 Euro im Monat sind.

Das Geld rinnt durch die Finger

Ja und, sagt er. Das ist alles, sage ich. Das Geld brauche ich ja nicht für Nebenkosten, Essen, Grundsteuer und so weiter. Sondern zusätzlich! Um die Solaranlage anzuzahlen, die Fußbodenheizung, die Dämmung, die Hausbatterie und die Wärmepumpe. Alles feine Sachen, meiner Meinung nach. Aber ganz ehrlich - wir zahlen noch immer 99 Euro im Monat für den Gasheizungskredit. Und werden das auch noch neun Jahre lang tun müssen, auch wenn sie uns den schicken Vaillant-Kessel dann schon wieder rausgerissen haben.

Wie bitte soll das funktionieren?, habe ich nach hinten gerufen. Rechnen Sie mit, habe ich gerufen: Unsere normalen Wohnkosten liegen im Moment bei 500 Euro im Monat plus Nebenkosten, das sind etwa 300 Euro, obwohl wir seit Jahren nur ein Zimmer und das Bad heizen. Dazu sollen nun noch 1.500 Euro kommen, die wir für die ökologische Sanierung drauflegen? Wenn wir eine Sparkasse oder Bank finden, die uns einen Kredit gibt? Den wir nur komplett abzahlen können werden, wenn wir wenigstens unser 83. Lebensjahr noch komplett absolvieren und nicht vorher abtreten?

Rettung durch harten Verzicht

Wer ein bisschen  rechnen kann, sieht ja schon, woran das Ganze selbst in diesem Fall krankt. Mal angenommen, wir bekommen den Kredit, werden wirklich so alt und wir schaffen es, durch 20 Jahre harten Verzicht alles zurückzuzahlen. Mit Mitte 80 sitzen wir dann also in einem Haus, das zum dritten Mal abgezahlt ist - nach dem Bau, nach der Renovierung vor 30 Jahren und nun nach der ökologischen Aufwertung. Leider liegt das Haus bei Schweindrich, zehn Kilometer vor Wittstock, je fast 200 Kilometer entfernt von Berlin, Neubrandenburg und Schwerin. Die Lage ist bei Immobilienkäufern so begehrt wie Kohleheizungen im Klimaministerium. Hier gibt es ganze Häuser zum Preis einer Wärmepumpe mit Pipapo.

Unsere Perspektive ist damit vollkommen klar. Selbst wenn es Fördermittel und Abwrackprämie und  Rettungspakete geben wird, von denen Carola und ich annehmen, dass wir wegen unserer doch bisher eigentlich recht gesicherten Existenz nicht antragsberechtigt sein werden, ist es nicht schwer, einen Strich unter die Rechnung zu machen. Um dort, wo wir jetzt leben, wohnen bleiben zu können, müssen wir nach dem Pflichtumbau etwa die Hälfte unseres Einkommens für den Kredit aufwenden, dazu kommen die normalen Heizkosten, Wasser, Steuern, Reparaturen und so weiter. Schaffen wir das stabil 20 Jahre lang und leben dann noch, sitzen wir in einem abgezahlten Haus, das etwa ein Drittel so viel wert ist wie wir kurz vor unserem Lebensende noch mal reingesteckt haben.

Mit viel Aufwand Werte vernichten

Da unsere beiden Töchter weit weg wohnen, beide sind im Westen verheiratet, wird sich auch niemand freuen, das alte Familienanwesen zu erben, selbst wenn nach 2040 nicht schon wieder neue Vorschriften gelten, die Eigentümer zwingen werden, dicker zu dämmen oder die Wärmepumpen rauszureißen, damit mit irgendetwas viel ökologischerem geheizt werden kann. Es könnte natürlich sein, dass der vom Städtebund derzeit gerade empfohlene Umzug aufs Land irgendwann in der Zukunft den seit Jahrhunderten laufenden Trend zum Wohnen in der Stadt bricht und die Preise auch mal steigen. 

Aber was nützt uns das dann noch? Carola und ich, wir haben 30 Jahre DDR erlebt, sind nicht rausgekommen, waren allenfalls mal in Mecklenburg, am Rennsteig oder in Polen. Dann 35 Jahre Westen, erst alles neue aufbauen, dann alles abzahlen, dann langsam auf das Ende freuen und die Freiheit, endlich so vieles nachholen zu können.

Und jetzt? Jetzt dürfen wir stattdessen wieder schauen, wie wir uns durchkämpfen und dabei zusehen, so fit zu bleiben, dass wir am Ende noch ein paar Jahre haben, um den Gürtel lockerer zu lassen. 

Auf dem Rücksitz blieb es danach still. Ich habe den Kerl noch mit dem Kopf schütteln sehen.  Und sie sagte wohl etwas wie ,lass es, hat keinen Zweck, der ist doch total verbohrt" zu ihm.

Donnerstag, 30. März 2023

Klimakiller-Koalition: So unzufrieden ist Mediendeutschland

Um die 30 Verhandlungsstunden mussten es sein, um eine liebevoll austarierte, fein ziselierte Lösung für die Klimaprobleme der Welt zu finden. Die Ampel kam strahlend aus dem Dom, unter dem Arm ein 16-seitiges Papier mit dem Titel "Modernisierungspaket für Klimaschutz und Planungsbeschleunigung", das der Menschheit in die Hand verspricht, dass zumindest Deutschland  in Sachen Klimaneutralität, Nachhaltigkeit und grüner Transformation angesichts der fehlenden Anstrengungen selbst in eng verbündeten Nachbarstaaten verlässlich und streng zu sich selbst und den Bürgern bleiben wird.

Doch kaum war dieses Grundgesetz der Bewältigung der Klimakrise vorgelegt, kamen sie aus den Büschen, die Kritikaster, Quengler und Nörgler. Ja, die rot-grün-gelbe Fortschrittskoalition, sie war schon am Tag nach der letzten Bundestagswahl nur zweite Wahl bei den Medien gewesen. Danach aber hatten sich die staatsfernen Großsender wie die privaten Medienheuschrecken schnell angefreundet mit der neuen Macht. Vor allem Robert Habeck erbte alle Verehrung, die Angela Merkel übrig gelassen hatte. Auch Olaf Scholz genoss umfassende Schutzrechte. Wenn er behauptet, seine Regierung werde endlich die Fehler der Regierungen vergangenen Jahre korrigieren, spricht ihn niemand darauf an, dass er selbst Teil jener Regierungen der Vergangenheit war.

Und Christian Lindner? Der als Plumpsack besetzte Freidemokrat begeisterte die Magazine mit einer Show, die als Versuch gewertet wurde, die letzten verbliebenen FDP-Wähler möglichst schnell loszuwerden, ohne der umworbenen Klientel aus den liberalen Vorstädten und Handwerkervierteln ein Angebot zu machen, das deren grüne Sehnsucht zu stillen verspricht.

Paris rückt in die Ferne

Mit den Beschlüssen des Koalitionsausschusses hat die junge Liebe aber nun einen ernsthaften Knacks erlitten. Enttäuschung ringsum in den Schreibstuben. Es geht zu weit und nicht weit genug. Es ist ein fauler Kompromiss auf Kosten der Kinder, die verantwortungsvolle Menschen schon lange nicht mehr in die Welt setzen. Das Klimaschutzgesetz wird beschädigt, ja, zerstört. Die Rettung der Welt gerät aus dem Tritt. Die Pariser Klimaziele, der Green Deal, das Energiesparen. In Divisionen fallen sie vom Glauben ab bei Spiegel, SZ, Taz, Stern und den Gemeinsinnsendern. "Leider unzuverlässig" seien selbst die Grünen in Momenten, in denen es um Machterhalt heute geht, der bezahlt werden muss mit dem Klimatod von morgen. "Ungenügend grün",  sei das alles, hat die "Zeit" errechnet, denn "den Blumen hilft das Geld nicht". Auch die Süddeutsche Zeitung ist sich sicher: "Die Regierung höhlt den Klimaschutz aus".

Nein, das Land nach den Beschlüssen der Ampel-Koalition ist nicht mehr das Land, in dem progressive deutsche Medienarbeiter nachhaltig und glutenfrei leben möchten. Es herrscht Angst bei der ARD und selbst beim ZDF ist ein leichtes Bedrohungsgefühl zu spüren. Die Frankfurter Rundschau, deren Leserschaft noch älter ist als die Zuschauer des Zweiten, sinniert über die "Schlappe für das Klima" , die die Menschheit infolge der Koalitionsbeschlüsse erlitten hat. Die berühmten "Bertelsmanner Feldposthefte" fragen sich, ob Scholz die Einigung schönredet. Die Taz hingegen tut den Teufel: "Mit der Ampel geht es in die Klimakrise", denn mit dem Klimaschutzgesetz werde "das politische Rückgrat des Klimaschutzes in Deutschland" geschleift.

"Ist das noch mein Land?"

Guter Rat ist teuer. Der "Spiegel" fragt auf seinem Titel "Ist das noch mein Land?" Die ehemals bürgerliche FAZ sorgt sich, ob die Wirtschaft nun für das Klima schrumpfen muss.  Und ob Verzicht, der weh tut, wirklich ausreichen wird? Das SPD-Portal RND versucht es konstruktiv, denn jeder kann und jeder muss helfen. Die akutesten Gefahren für die globalen Kipppunkte liegen so nah:  Schottergärten etwa richten bislang meist gar nicht bekannte Schäden an Mikroklima und Artenvielfalt an. Klar ist auch, dass "wir neue Ziele fürs Stromtanken" brauchen, jetzt, wo die sektorenbezogenen CO2-Grenzwerte auslaufen, die einzelne Sparten wie Wohnen, Verkehr, Leben, Lieben, Landwirtschaften und Wirtschaften eigentlich eines Tages jeweils getrennt hätten einhalten müssen, um zu verhindern, dass das für sie zuständige Ministerium per Sofortprogramm eine Schließung nach dem Vorbild der Corona-Lockdowns anweist.

Das hätte so schön werden können. Zuverlässig zwei- oder gar dreimal im Jahr Meldungen, welcher Bereich seine Ziele verfehlt hat. Zwischendurch immer die Debatte um noch mehr und noch viel ehrgeizigere neue Ziele, die mit noch viel mehr und viel strengeren Regeln durchgesetzt werden. Ein süßer Brei für Berichterstatter, der hilft, in Zeiten zu wirtschaften, in denen es sich aus gutem Grund verbietet, Themen breitzutreten, die nur den Falschen nutzen würden. 

Diskussion zwischen Elfenbeintürmen

Klima dagegen ist wie Fußball-Bundesliga, ein Topos voller Abseits- und Schiedsrichterdiskussionen, war es Hand oder außerhalb, wer wird Deutscher Meister, wer wird nächster Trainer und was sagt der Video-Referee dazu? Die von Elfenbeinturm zu Elfenbeinturm geführte Debatte um Neuregelungen, warnende Studien, heiß ersehnte Verbote und Minderungsmengen, für die ein "jährliches Monitoring der Emissionsentwicklung" geplant ist, ersetzt nicht nur Politik. Sondern in den Medienhäusern die Beschäftigung mit einer Realität, die mit den Träumen von der "ökologischen Wärmewende", dem Energieausstieg und einer großen Transformation im Handumdrehen so viel zu tun hat wie Solarenergie mit Naturschutz.

Die Auflagen, Klickzahlen und Einschaltquoten sollen nicht schrumpfen, alles andere aber schon. Wenn es dazu nötig ist, inmitten einer galoppierenden Inflation auch bei den Preisen von Lebensmitteln die Maut für die Lastkraftwagen zu erhöhen, die Brot, Butter und veganen Wurstersatz in die Läden bringen müssen, so lange Edeka-, Rewe- und Lidl-Filialen der direkte Bahnanschluss gefehlt, dann muss das eben so. Das Geld wird gebraucht, um "neben Autobahnen und Bahnstrecken Solaranlagen" zu bauen. Ohne die Klimaklimmzug hätten die Grünen niemals zugestimmt, auch 144 Autobahnen als Anlagen "von überragendem öffentlichen Interesse" einzuordnen, so dass sie nun doch nicht wie ursprünglich geplant dem Verfall preisgegeben werden.

Sie bleiben dran

Anderes wartet nun noch auf die Finanzierung. Jede Menge neuer Mittel müssen noch "freigesetzt" (Taz) werden, um einen Boom bei den nun bald einfacher möglichen "Eingriffen in die Natur" (Taz) zum Wohle des Klimas auszulösen. Die Enttäuschung über die zaghaften, viel zu sehr an den Sorgen und Nöten der Jammerer und Leugner orientierten Beschlüsse der Klimaampel in Mediendeutschland sitzt tief. Und doch wird als direkte Reaktion kein stromverschlingender Sender den Betrieb einstellen, keine CO2-speiende Newsplattform vom Netz gehen und keine progressives Druckwerk auf Papier verzichten, um Bäume zu retten. So schwer es auch fällt, man wird dranbleiben. Kritisch wie die Kollegen vom Sport, die Veranstaltungen kommentieren, die nur stattfinden, weil der Sender die Rechte eingekauft hat.

Großkreuz für die Kanzlerin: Heil Dir im Siegerkranz

Höchste Anerkennung für die Mutter der deutschen Ostpolitik: Angela Merkel bekommt das größte Großkreuz..

Sie musste lange warten, sehr lange. Beinahe kamen schon Zweifel auf, ob die Verdienste, die sich Angela Merkel neuerdings nicht mehr um "Volk und Staat", sondern "um die Bundesrepublik Deutschland" erworben hat, nach nunmehr 15 Monaten Zeitenwende und Klimakatastrophe noch zählen. Aber dann kam die Entwarnung. Ja, nach Konrad Adenauer, der sich dereinst noch mitten in seiner Kanzlerschaft selbst mit dem Großkreuz in besonderer Ausführung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland beschenkte, und Helmut Kohl, der die bis dato nur an Adenauer vergebene Auszeichnung am Tag seines Abschieds anstelle der in der Privatwirtschaft üblichen goldenen Uhr mit nach Hause bekam, erhält auch die beliebteste Kanzlerin, die Deutschland jemals hatte, den goldenen sechsspitzigen Bruststern mit dem Lorbeerkranz um das Medaillon ("Adler maschinengestickt").

Persönliche Genugtuung

Für die 68-jährige Ostdeutsche aus Hamburg ist die Ankündigung des Bundespräsidenten, dessen zweite Amtszeit sie selbst noch mitbewirkt hatte, nicht nur ein Akt persönlicher Genugtuung, sondern auch eine späte Bestätigung. Es war nicht alles schlecht! Dass ihr ehemaliger Außenminister ihr aus dem Schloss Bellevue demonstrativ  die Hand reicht, um der wachsenden Schar der Zweifler und Beckmessern draußen im Land und vor allem in den Medien klarzumachen, dass es alternativlos richtig war, die Kernkraftwerke abzuschalten, sich von russischem Erdgas abhängig zu machen, den Staat mit hohen Steuern und Abgaben stark zu machen und die Infrastruktur dafür verrotten zu lassen.

Sie hat es verdient. Sie hat es tatsächlich geschafft. Wenn Angela Merkel am 17. April, dem Tag, an dem Ägypten, Irak und Syrien 60 Jahre zuvor die Arabische Union gegründet hatten, die nur drei Monate lang bestand, ihr Großkreuz in besonderer Ausfertigung verliehen bekommt, heilt das viele Wunden, die der Ex-Kanzlerin in den vergangenen Monaten geschlagen wurden. Hätte sie, die alles vom Ende her dachte, wissen können, wie es zugeht in der Welt? Konnte sie vorhersehen, dass es anders kommen könnte als sie dachte? Und müsste ihr Stab nach all den Monaten nicht langsam in der Lage sein, die geplante Homepage angela-merkel.de wenigstens mit ein, zwei Bildern zu füllen? Damit sie nicht noch weniger Inhalt hat als die von Vorgänger Gerhard Schröder? Von Helmut Kohl, der wenig internetaffin war, ganz zu schweigen?

Höchstmögliche Auszeichnung

Oft kommt es anders, manchmal gar nicht und dann wieder doch, wenn es niemand erwartet. Die Verleihung der "höchstmöglichen Auszeichnung des Landes" (SZ) an Angela Merkel füllt Leerräume: Es ist das erste Mal, dass die höchste Stufe der höchsten Auszeichnung nicht an einen Rheinländer geht, das erste Mal, dass kein Mann sich das Schulterband umschlingen wird. Angela Merkel wird die erste Frau sein, die den Bruststern links tragen kann, die erste Hamburgerin, die erste Ostdeutsche, die erste FDJ-lerin und die erste Sozialdemokratin. Zudem wird Angela Merkel die erste Frau sein, das Großkreuz in Männergröße erhält. Diese sechsfache Ehre war bisher noch niemandem vergönnt. 

Deutschland schneidet damit alte Zöpfe ab und bekennt sich zu seiner gesamten Geschichte. Im Rückblick mag manches, was Merkel wollte und noch viel mehr von dem, was sie tat, Zweifel an einem Volk nähren, dass sie dreimal ins Kanzleramt wählte. Doch mit der Verleihung versöhnt Walter Steinmeier die Gegenwart mit der Vergangenheit: So falsch war die deutsche Russlandpolitik nicht. So schlimm steht es nicht um Straßen, Brücken, die Bahn, Internetanschlüsse, Bürokratie, Bundeswehr, Mittelstand und Armut, dass nicht jene höchste Stufe des Bundesverdienstkreuzes angemessen wäre, die zu ehren, die mit ihren "klaren Leitlinien" nicht nur einmal den Euro, Europa und damit auch die Welt rettete.

Treffen mit der alten Gang

Zum  Festakt soll die alte Gang noch einmal zusammenkommen, Walter Steinmeier hat zum Festakt neben Merkels Ehemann auch ihre früheren Wegbegleiter Thomas de Maiziere, Peter Altmaier, Helge Braun und Annette Schavan geladen - Vertraute, die inzwischen nicht nur Ämter, die Möglichkeit, sich öffentlich zu äußern, trotz ihrer Jugend die politische Zukunft oder die Lust am öffentlichen Radfahren verloren haben. Gemeinsam wird man anstoßen auf das, was war und gar nicht übel. Auf Dinge, die schiefgegangen sind oder sogar ganz in die Binsen. Und darauf, dass man selbst trotzdem recht gut durchgekommen ist.

Mittwoch, 29. März 2023

Klimakoalition: Nachwachsende Neustarts

Ein Neustart für das Weltklima. Den Moment der Verkündigung der Fortführung des Kampfes um das 1,5-Grad-Ziel hat der Maler Kümram in einem zarten Frühlingston festgehalten.

Tagelang. Nächtelang. Nur kurz unterbrochen von einem Mittagsflug nach Brüssel, um Pflöcke einzuschalten. Dann zurück auf die Berliner Baustelle. Die Welt wartet nicht. Die Löcher in der Bundesheizungsstrategie mussten verdübelt, die Kriegsanstrengungen dauerhaft in den Etat eingebettet, Bahn musste mit Straße versöhnt und das Kindergehalt durchfinanziert werden, ohne an Rente und Pflege zu sparen, denen viel mehr Respekt zukommen muss in Zukunft.  

Der Ruck als Rückchen

Als Fortschrittskoalition waren SPD, Grüne und FDP angetreten, Deutschland den Ruck zu verpassen, den der damalige Bundespräsident Roman Herzog vor einem Vierteljahrhundert gefordert hatte. Anderthalb Jahre später, gefüllt mit einem Krieg und einer Ausrufung des Klimaschutzes als Aufgabe an die Nation, die Welt zu retten, war die Zeitenwende im Zank versandet: Der Kanzler unsichtbar, seine beiden Nebenkönige mit Hirsche mit den Geweihen verhakt. Draußen im Land verstand niemand mehr, worüber Robert Habeck und Christian Lindner uneins waren.

Nach den Siegesfanfaren aus der Koalitionsrunde weiß nun allerdings auch niemand mehr, worauf sie sich geeinigt haben. "Sehr, sehr, sehr gut" seien die Ergebnisse, hatte Olaf Scholz vorab schon in leichter Sprache angekündigt und fiebrige Erwartung machte sich bei den Bürgerinnen und Bürgern breit, die noch versuchen, auf Ballhöhe zum Berliner Spiel zu bleiben. Als dann endlich die Frau und die beiden Männer ins Scheinwerferlicht traten, denen die Deutschen ihr Wohl und Wehe in die Hände gelegt haben, rollte eine La-Ola-Welle aus Achselzucken über Stadt und Land.

Neustart Nummer 4

Ja, also. Neustart. Durchbruch. Zusammengerauft. Wegweisend. Jetzt geeehts lohooos! Der gespielte Optimismus der Koalitionsspitzen angesichts des mittlerweile dritten Neustarts kontrastiert angenehm mit der Enttäuschung selbst bei den Staats- und Parteimedien, die ja beständig auf Revolutionen hoffen, das Kind immer am liebsten mit dem Bade ausschütten und überhaupt für jede radikale Lösung schnell zu begeistern sind. Davon gibt es hier nun nichts zu sehen. Wie schon während der legendären Koalitionsverhandlungen im Herbst 2021 einigten sich die Führungen von SPD, Grünen und FDP einfach darauf, jeden zu geben, was er sich wünscht. Und alles andere in wolkigen Formulierungen dazuzuschreiben.

Eine Einigung in der Mitte, aber auch am Rand und sonst überall. Es gibt mehr von allem und weniger zugleich, es werden Regeln abgeschafft und neue sollen erlassen werden, Heizungen dürfen weiterlaufen, was sie allen vorherigen Bekundungen zufolge ohnehin hätten tun dürfen. Sie werden nun aber schnell ausgetauscht werden, nur nicht sofort, aber gleich. Der Handwerker darf weiter mit dem Diesel kommen, wird aber gebeten E-Fuels zu tanken. Der Rest wird sektorübergreifend mit neugedämmten Behörden und vermiedenen Kanzlerreisen nach Übersee verrechnet. Reicht das alles nicht, will die Ampel mit Partnerstaaten in Afrika ins Geschäft kommen: Im Gegenzug zu Wasserstofflieferungen würden sogenannte duale dirt permissions mit deutschen Anstrengungen zur Bekämpfung von Fluchtursachen ausgeglichen.

Ein Neustart für die ganze Welt

Fakt ist, dass neue Gasheizungen verboten bleiben, allerdings nur, solange es sich um kleine Klimaschleudern handelt. Als Ersatz für notwendige Investitionen in Wind, Sonne und Wasserkraft lässt die Ampel Erdgas weiterhin gelten, möglichst mit mindestens 65 Prozent nachwachsender Neubauten, um die Mieten in den Griff zu bekommen. Bei allen Anstrengungen werden die Ingenieure und Verfahrenstechniker in der Bundesregierung ab sofort auf Technologieoffenheit achten  - niemand soll sein kleines Häuschen ohne guten Grund verlieren oder beim Kauf des neuen 49-Euro-Tickets das Gefühl haben, nicht auch Züge benutzen zu dürfen, die von Dieselloks gezogen werden.

Es ist am guten Ende ein großer Sieg für die Demokratie: Die Ampel legt ihren Streit durch eine Einigung auf alles bei, die einfachen Menschen draußen in den Städten und Gemeinden schöpfen Mut, dass die Klimaziele doch noch erreicht werden können, und legen ihre Konsumzurückhaltung allmählich ab. Es wird wieder gereist, Mannschaft und Fans rücken zusammen, man singt die Hymne und weiß zwar, dass schon die nächste Klimakonferenz  neue Hausaufgaben mit sich bringen wird. Doch sicher ist nun: Diese bunte Truppe da in Berlin, sie wird das deutsche Staatsschiff sicher durch die eigenen Ohnmachtsanfälle steuern, so lange im anderen Fall der Machtverlust droht.

Kriegskasse: So tödlich wirken Wortgranaten

Mit großem Staunen und noch größerer Freunde haben die Europäer gestern von einer speziellen EU-Friedenskasse erfahren.

Lange stand es im Schatten des älteren und viel bekannteren deutschen Bruders, seine Mitarbeitenden mühten sich, machten Vorschläge, konnten sich aber kaum irgendwo wirklich Gehör verschaffen. Zynisch höhnten die üblichen Kritiker*innen schon, dass das Europäische Amt für einheitliche Ansagen (AEA), erst vor zwei Jahren durch einen feierlichen Rechtsakt der EU-Kommission im Dom zu Speyer aus der Taufe gehoben, eine "Totgeburt" sei wie so viele EU-Initiativen der vergangenen Jahrzehnte - von der Gesundheitsunion Hera bis zur Montanunion, von der längst überhaupt niemand mehr spricht.  

Ein funkelnagelneuer Kampfbegriff

Beharrlich aber und ohne den Mut jemals sinken zu lassen, haben die Vorkämpfer für Verständlichkeit und Debattenkultur in einem gemeinsamen europäischen Sprachrahmen an ihrer Mission festgehalten. Zwar gelang es den heute 4.324 Angestellten des EU-Zentralsprachamtes vor dem Hintergrund der zersplitterten EU-Öffentlichkeiten nie, so bedeutsame Neuschöpfungen wie "Euro-Rettungsschirm", "Energiewende" und "Wachstumspakt" am Medienmarkt zu platzieren. Doch mit dem "Green Deal", dem Programm "Fit for 55" und dem "Chips Act" zeigte die Europäische Worthülsenagentur bereits, "dass eine engere Koordinierung in der EU, einheitliche Sprachregelungen und eine bessere Versorgung mit einem gemeinschaftliche genutzten Krisenvokabular" in der Tat gelingen kann, wenn konsequent die Muttersprache der fünf Millionen noch in der EU lebenden Englisch-Muttersprachler als ligua franca genutzt wird. 

Die ehemalige EU-Armee

Auch bei der Suche nach einem neuen Namen für das ehemals als "Europäische Armee" (Jean-Claude Juncker, 2015) geplante gemeinsame EU-Heer war die AEA kreativ. Als European Defence Agency (Europäische Verteidigungsagentur) bekam das mit 140 Bürosoldaten besetzte EU-Verteidigungsressort eine Bezeichnung, die halb an knallharte Geheimdienste fremder Staaten erinnert, sich aber in der Übersetzung ins Deutsche sofort in die Filiale einer Versicherung verwandelt. Die Deutschen wollen es so, die weniger empfindlichen Polen und Franzosen dagegen anders. Das denken die Beamter der AEA immer mit - und zusehends erfolgreich. 

War etwa ihr Vorschlag, eine zusätzliche Kasse außerhalb des gewöhnlichen Haushalts der Gemeinschaft als "European Peace Facility" (EPF, auf Deutsch "Europäische Friedensfazilität") zu bezeichnen vor zwei Jahren noch beinahe wortlos wurden, ohne bei den Medien auf große Begeisterung oder auch nur Protokollbemühungen zu treffen, entpuppt sich die dunkelgraue Kasse im Rahmen der Bemühungen der Union, die Ukraine bei ihrem Abwehrkampf gegen Russland zu unterstützen, nun als echter Trumpf. 

Ein innovatives Finanzierungsinstrument

Kein Geringerer als Josep Borrell, zuweilen nach einem Vorschlag der AEA von echten EUphorikern auch schon als "EU-Außenminister" (BPB) bezeichnet, hat das innovative "Finanzierungsinstrument" (Bundesministerium für Verteidigung) jetzt aus der Vergessenheit geholt und unversehens zu einer zentralen Waffe des europäischen Krisenmanagements erklärt. Die Friedensfazilität erweitere "die große Bandbreite ziviler und militärischer Instrumente der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP ®©) und stärke damit "die Handlungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten", lobte Borrell die 2021 eingeführte "neue konkrete Komponente" (EU), nach der selbst die wenigen verbliebenen Fachleute in den Kriegsressorts der großen Sender und Magazine erst googeln mussten. 

Die teilstaatliche Nachrichtenplattform T-Online fand am schnellsten einen Weg, 84 Millionen freudig erregten Deutschen das "Finanzierungsinstrument außerhalb des EU-Haushaltes" (EU) schmackhaft zu machen. Als sei in den zurückliegenden beiden Jahren seit der Gründung der grauen Kasse über kaum etwas anderes geschrieben worden, verwandelte sich die "Fazilität" (vom Lateinischen facilitas ‚Leichtigkeit‘; zu Deutsch ist sinngemäß "leichterhand" gemeint) in eine Geheimwaffe, die nicht mehr nur wie ursprünglich geplant friedensunterstützende Operationen mitfinanziert, sondern fronttauglich weiterentwickelt wurde, um Waffen und militärische Güter zu kaufen -  mit einem globalen Ansatz, also nicht auf eine bestimmte Region begrenzt. 

Ein globales Sondervermögen

Hier zeigt sich, was die oft unterschätzte Arbeit von Bundesworthülsenfabrik (BWHF) und den EU-Kolleg*innen des AEA so wichtig macht. Das Wort "Faszilität" allein, gekoppelt mit der Allerwelts- und Wagenknecht-Parole vom "Peace" und den magischen Buchstaben "EU" reicht aus, Rechnungen zu bezahlen, für die kein Geld da ist. Ein bewährtes und inzwischen tagtäglich angewandtes Verfahren: Vor 20 Jahren erteilte sich die Gemeinschaft die erste Genehmigung zur Schaffung einer "Fazilität", damals noch eine Darlehens-Fazilität, die Mitgliedstaaten Kredite gab, die sich die Gemeinschaftswährung Euro nicht leisten konnten. Von anfangs zwölf wurde die Obergrenze der schwarzen Kasse später auf 50 Milliarden Euro angehoben. 2010 folgte dann schon die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität, die später zum Großen Europäischen Rettungsschirm aufgespannt wurde.

Die peace facility knüpft an diese erfolgreichen Vorläufer an, seit sie damals während der von den Völkern der Welt langersehnten deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2020 entscheidend vorangebracht wurde. Zweieinhalb Jahre hatte es am Ende gedauert, eine politische Einigung zur Ausgestaltung mit allen Mitgliedsstaaten zu erreichen, fast auf den Tag genau vor zwei Jahren machte schließlich der Rat für Auswärtige Angelegenheiten (RfAB) Nägel mit Köpfen in Brüssel, so dass die European Peace Facility noch kurz vor knapp vor Ausbruch des russischen Angriffs auf die Ukraine "mit Leben gefüllt" (EU) werden konnte. Josep Borrell ist es zu danken, dass an diesen schönen und stolzen Jahrestag erinnert wird. Denn wie der Spanier bei T-Online wissen lässt: "Dies wird zur gesamtheitlichen Weiterentwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik beitragen."

Nicht irgendeinen Frieden

Dort weiß man jetzt, dass die EU nicht irgendeinen Frieden will und dafür auch bereit ist, zu zeigen, dass sie, wenn es nötig ist, auch dazu bereit ist, Tabus zu brechen und einen weiteren großen Schritt zu machen: Der Ukraine die Munition zu liefern, die sie so dringend benötigt. In sack und Tüten, wie man im politischen Brüssel sagt, ist schon die Finanzierung der Bereitstellung von Artilleriemunition aus vorhandenen Beständen oder aus noch nicht erteilten Aufträgen, dazu kommt nun die gemeinsame Beschaffung neuer Artilleriegranaten nach dem Vorbild der Corona-Spritzen und als drittes Puzzleteil die Aufforderung an die europäische Verteidigungsindustrie zur Erhöhung der Produktionskapazitäten. 

Undenkbar ohne die Europäischen Friedensfazilität, die Entschädigung für Mitgliedstaaten zahlen wird, die Munition an die Ukraine liefern und auch die Rechnung für Neubestellungen von "Munition des Kalibers 155 Millimeter und, falls notwendig, Raketen" zu übernehmen wird. Zwei Milliarden stehen bereit, zwei weitere Milliarden sollen die Mitgliedsstaaten drauflegen. Eine Million Artilleriegeschosse sollen eingekauft werden - bei Kosten von 3.000 Euro pro Granate und dem Mengenrabatt, den die federführend beteiligte Europäische Verteidigungsagentur zweifellos heraushandeln wird, bleibt sogar noch Raum für einen Schuss obendrauf, wenn es dann auf die Krim geht.

Dienstag, 28. März 2023

Schlaflosrekord der Regierung: Kommt nun die nächste Osterruhe?

Sechs mal neun Meter misst dieses Ölgemälde des Waldenbrunner Künstlers Kümram, das eine imaginierte Szene aus dem 20-stündigen Koalitionspoker zeigt.

Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs. Frauen, die nicht Nein sagen können. Schreckensstarr aufgerissen die Augen des Kanzlers, der auf seinen übernächtigten Finanzminister einteufelt. Auf die anderen Seite seines 6 mal 9 Meter großen Bildes, das derzeit noch im Atelier in der Nähe von Ludwigsfelde hängt, hat der Künstler den Klimawirtschaftsverantwortlichen gemalt, wie die Menshcen draußen im Lande ihn kennen. Die Arme verschränkt, den Kopf zuhörend geneigt, die Miene gelassen. Robert Habeck bildet eine feste Front mit seiner Kollegin Lemke, die hier nur von hinten zu sehen ist wie gegenüber, in der Front der Feinde von Freiheit, Frieden und Klimarettung, ein Mann neben Christian Lindner, der nicht genau zu identifizieren ist.

Fünf Monate seit dem letzten Machtwort

Ein Amerikaner? Ein Chinese? Ein EU-Aufseher? Ein Russe gar? Ist es dieser Unbekannte, der für den größten Streit in einer Bundesregierung seit dem letzten  Machtwort des Kanzlers im vergangenen Jahr sorgte? Und dafür, dass eine deutsche Regierung schon wieder ein Versprechen bricht? Vor zwei erst hatten CDU und SPD geschworen, nie mehr Entscheidungen in endlosen Nachtsitzungen zu suchen, deren Ausgang davon abhängt, wer wie lange zumindest einen Zustand eingeschränkter Handlungsfähigkeit imitieren kann. "Ideenreichtum, #Schlafmangel – #Koalitionsausschuss", meldete Lindner stolz aus der laufenden Ermüdungsschlacht.  Regierungschef Scholz ließ wissen, dass er die Grenzerfahrung nicht missen wolle, ein ganzes Land im Zustand totaler Erschöpfung zu regieren. "Das ist dann auch eine gemeinsame Erfahrung, wo man eng miteinander zusammen ist. Und davon erzählt man sich dann noch lange."

Die damals von ihm zusammen mit der früheren Kanzlerin ausgerufene "Osterruhe" ging als Zeitenwende in die deutsche Geschichte ein: Nie wieder würden Frauen und Männer, die das Schicksal von 84 Millionen in den Händen halten, sich von zu wenig Schlaf und viel zu viel Kaffee dazu treiben lassen, Ergebnisse auszupokern, die bei Lichte besehen später niemand mehr verstehen könne. Vertreter aller Parteien stimmten dem zu, nachdem die damals noch unumschränkt herrschende Kanzlerin ihren "Fehler" (Merkel) zugegeben und die angewiesene Aussetzung des öffentlichen Lebens rund um das Osterfest wie im Grundgesetz vorgeschrieben bei einer eilig anberaumten Audienz im Studio von Anne Will zurückgenommen hatte. 

Abschied von der Vernunft

Nächtliche Sitzungen bis drei Uhr früh, lange Beratungen in Kleingruppen und hinter verschlossenen Türen, es würde sie nicht mehr geben in Zukunft, diesen Schwur legten Union, SPD, die Grünen, die FDP und auch die demokratischen Kleinparteien gemeinsam ab. "Das ist nicht mein Stil zu arbeiten", bestätigte die mächtige rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD). Denn: "Um 3 Uhr morgens vernünftige Entscheidungen zu treffen, ist eben auch eine Schwierigkeit." Auch der bayerische Ministerpräsident, Markus Söder (CSU) war damit einverstanden, die Abläufe zu reformieren:  Sitzungen sollten am Vormittag beginnen und früher abgeschlossen werden, so lange noch alle Anwesenden wüssten, wovon sie sprächen.

Wie das All zur Entropie, treibt die Politik aber eben in die Nacht. Nach Monaten verzweifelten Krisenmanagements steht Olaf Scholz schon im zweiten Jahr seiner Kanzlerschaft vor den Trümmern aller Pläne von Fortschrittsbeschleunigung, sicherer Arbeit, schöner Renten, bezahlbarem Wohnen und Klimaschutz. In seinem Kabinett, das divers ist wie lange nicht, tobt der Streit um Verbrenner, Straßen, die Schiene, Kernkraft, den Krieg und E-Fuels, um Lastenradautobahnen und Heizungsverbote, das neue Kinderhabengehalt und die globalen Klimaziele. Niemand ist sich einig, niemand ist bereit, nachzugeben. Jeder wartet, dass der andere zusammenbricht.

Schicksalsstunden im Morgengrauen

Also musste die Entscheidung über den Weg Deutschlands durch die kommenden Jahrzehnte bis zum Weltklimaziel 2050, ungeachtet aller früheren Versprechungen, doch wieder am Konferenztisch ausgefochten werden: Sitzfleisch gegen Sitzfleisch, Augenlid gegen Augenlid, ein müder Nacken gegen den anderen müden Nacken. Es geht um das Schicksal von Millionen, ja, es geht sogar um das Schicksal von Milliarden, denn überall auf dem Globus schauen die Menschen in diesen Stunden der Koalitionsverhandlungen unter verschärften Bedingungen nach Berlin. 

Wird es dort gelingen, die Schiene nur ausbauen zu können, indem die Straße fallengelassen wird? Bleibt es dabei, dass das Hauptaugenmerk der Öffentlichkeitsarbeit der Ampel trotz Krieg, Inflation und langsam abwandernder Wirtschaft der Klimakrise gelten soll? Kommt etwa die nächste Osterruhe, nur diesmal eben dauerhaft, vielleicht beschränkt auf klimaschädliche Wirtschaftstätigkeiten, unbegründete Privatmobilität und großzügiges Wohnen? Beschließt die Bundesregierung ein Fernwehverbot? Und: Lässt sich das geplante Heizungsverbot nach der vorzeitigen Veröffentlichung der Pläne doch noch durchsetzen? Unter welchem Namen? 

Der Preis ist heiß

Wenn dafür der Preis eine Nachtsitzung ist, dann bitte, hat Irene Mihalic den Fehdehandschuh aufgenommen, den die Herren von SPD und FDP den als eher weich und wenig resilient geltenden Grünen hingeworfen hatten. Die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen war seinerzeit, als die Bundesregierung und die Länder der traditionellen Zermürbungsmethode zur Finalisierung von wichtigen Entscheidungen kollektiv abschworen, noch im damaligen Ausschuss für Inneres und Heimat geparkt, der sich dem Votum offiziell nie angeschlossen hatte. Mihalic, jung und ehemals als Darstellern der Soap "Achtung Kontrolle! – Einsatz für die Ordnungshüter", traute sich zu, das Stehvermögen zu haben, das nötig ist, die Würfel so lange rollen zu lassen, bis sie die eigene Zahl zeigen.

Dass mit 20 Stunden Verhandlungsdauer aber gleich ein neuer deutscher Rekord gelingen könnte, ahnte wohl auch die Grüne aus Nordrhein-Westfalen nicht. Doch diese Koalition trägt den Mantel der Geschichte eben nicht zum Spaß oder aus Privatvergnügen, sie meint es ernst mit dem Umbau von allem und der großen Transformation hin zu einer Gesellschaft, die Entscheidungen akzeptiert, auch wenn sie im Zustand fortgesetzter Erschöpfung getroffen wurden. Heute ist Dienstag, die Verhandlungen werden in Kürze fortgesetzt. Nach den geltenden EU-Regeln zur zulässigen Höchstarbeitszeit wäre Deutschland bei einer Wiederholung der letzten Pokerschicht bereits morgen früh für den Rest der Woche unregiert, weil alle beteiligten Regierungsmitglieder aus Gründen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes ihre Pflichtruhezeiten nehmen müssten.

Jahrgedächtnis Staubfänger: Brinkhaus' Aufruf zur Revolution

Es war ein Ruf wie Donnerhall: Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus forderte vor zwei Jahren eine Revolution für Deutschland.

Revolution! Das Morgen schon im Heute! Kein Bett und kein Thron für den Arsch zufried'ner Leute! Ralph Brinkhaus, der beim Anlauf auf den CDU-Vorsitz so tragisch gescheiterte Atlantiker, hatte die Nase gestrichen voll an jenem Märztag des Jahres 2021. Deutschland schien dem erfahrenen Innenpolitiker, lange Zeit ein zuverlässiger Gefolgsmann der ewigen Kanzlerin Angela Merkel, kurz vor dem Ende der Ära, die Deutschland in das Beste Deutschland aller Zeiten verwandelt hatte, müde, matt und krank. Ein Land, in dem Politiker routiniert lügen. In den Bürgerinnen und Bürger den Lügne*innen nicht mehr vertrauen wollen. Was Medien zu kaschieren suchen, indem sie immer nur noch besser zu erklären versuchen, wie gut es die da oben mit denen da unten meinen.

Wieder ganz offen und ehrlich die Wahrheit sagen" müsse man, sagte Brinkhaus im Bundestag. Aber nicht einmal das reiche mehr. Es brauche vielmehr einen Neustart für Deutschland, für das politische System, die Demokratie, die Gesetzlichkeiten. Alles. Er sprach sich dafür aus, "mit jenen ins zu Gespräch kommen, die sich von uns abgewandt haben", und selbst Protestwähler – namentlich der AfD – nicht für ewig mit einem Bann zu belegen.

Radikale Absage an Große Lähmungskommission

Einmal in Fahrt gekommen, war der Mann, der gegen den Willen der Kanzlerin in sein Amt als Fraktionsvorsitzender gewählt worden war, nicht mehr zu halten. Das Oberste kehrte er zuunterst. Kein Tabu ließ er unberührt. "Auf diesem Staatswesen liegt der Staub von 200 Jahren", wetterte der Abgeordnete aus Wiedenbrück in Nordrhein-Westfalen im Bundestag. Zu lange habe man zugeschaut, wie alles in die Binsen gehe. "Diesen Staub müssen wir beseitigen!" Ein Alarmruf, ein Ruf zu den Waffen. Brinkhaus, vor knapp drei Jahren Auslöser einer ersten Kanzlerinnendämmerung, als er Volker Kauder stürzte, der länger als ein Jahrzehnt als Kettenhund der Kanzlerin gediente hatte, schnitt bei seiner Abrechnung mit dem System das Fleisch bis auf die Knochen hinunter.

Wir brauchen in diesem Land nicht nur eine Reform, sondern wahrscheinlich sogar eine Revolution", rief der bis dahin eher als konservativ eingeschätzte CDU-Mann. Staub von 200 Jahren, die obersten Schichten in 16 Jahren Merkel selbst gemacht. Die Hoffnung und das unbedingte Versprechen des 52-Jährigen an Bürgerinnen und Bürger, Längerhierlebende und Nochnichtsolangeanwesende: Wäre die CDU endlich auch mal an einer Bundesregierung beteiligt und hätte sie in den Ländern etwas mitzubestimmen, wenigstens in manchen, werde Deutschland fit gemacht für die Zukunft, die erste digitalisierte Demokratie mit eingebauter diverser Nachhaltigkeit und - damals noch wichtig - täglicher Testpflicht.

Hoffnung für die Toten

Freilich: Damals witterte der Mittfünfziger noch die Chance, selbst als Kandidat für das höchste Amt infrage zu kommen. Die Revolution von ganz oben, sie wäre sein Projekt gewesen, an die zu denken, die schwach sind, "die Einzelhändler und überlasteten Intensivpfleger", die Leute, die zu Hause blieben, die Menschen, die mit Langzeitfolgen erkrankt seien, und die Menschen, die "einen elenden Tod gestorben" seien. "Es ist unsere Verantwortung, etwas für diese Menschen zu tun", sagte Brinkhaus, und er machte den Toten Hoffnung: "Natürlich hilft Testen, natürlich hilft Impfen."

Im dunkelblauen Macher-Anzug

Dass es nichts damit wurde, habe sich die Menschen draußen im Lande selbst zuzuschreiben. Erst zog die Union den unglücklichen Armin Laschet Brinkhaus als Kandidaten vor. Dann sah sich der frischgebackene Revolutionär sogar gezwungen, seinen Platz als Fraktionsvorsitzender zu räumen, um dem neuen Parteichef Friedrich Merz mehr politisches Gewicht zu verschaffen. Auf seinem neuen Platz in einer der hinteren Reihen verstummte Ralph Brinkhaus dann. 

Und der von ihm geplante Umsturz, der Deutschland in einen agilen Staat voller Dynamik hastte verwandeln sollen, er fiel aus. Zum Jahrestag der großen Revolutionsrede ist nicht nur Brinkhaus abgetaucht. Auch sein Vermächtnis, aufzuräumen und Staub zu wischen, ist den komplizierten Regelwerken, den EU-Richtlinien und dem Beharrungsvermögen der alten Mächte der Bürokratie und Bundespolitik unterlegen. 

Keine Revolution per Ruckrede

Es führt offenbar kein Weg über eine Ruckrede zur Revolution und kein Bittgebet zu einem staubfreien Haushalt. Längst haben sich die einstigen Reformer und zu allem entschlossenen Revolutionäre in kontemplative Stille zurückgezogen. Der Staub aus all den kaiserlichen und hitlerschen Jahren, er türmt sich auf Beihilferichtlinien und Rettungspaketen, auf Einigungen mit der EU und Preisbremsen, auf Regelungen zur Steuerpflicht von Vermögenszuflüssen durch staatliche Energiepreisspenden und einer in Lähmung gefallenen Zeitenwende. 

Alles, wie es immer war. Und Brinkhaus' großer Aufruf verpufft.

Montag, 27. März 2023

Berliner Luftnummer: Der Kampf geht weiter

Freshes Klimagirl: Luisa Neubauer.

Wo das Klima ist, da ist selbstverständlich auch sie. Luisa Neubauer, eigentlich ein Hamburger Deern, führt den Kampf um die globale Welttemperatur aber von vorn, von oben, von dort, wo die Thermostate sind und das Volk willig, sich einzureihen in die grünen Truppen, die um die Zukunft bangen. Der Klimaentscheid von Berlin war ein Heimspiel für die Norddeutsche,. die sich in der Hauptstadt bereit hält, die lahmende und vom Koalitionszwist gelähmt grüne Staatspartei eines Tages zurückzuführen zu ihren radikalen, rabiaten und tatsächlich weltrettenden Wurzeln.  

Eine Strategie aus Nadelstichen

Neubauer, die nach acht Jahren Geografie-Studium und ehrenamtlichem Engagement in der jungen, freshen Klimabewegung zu einem der ideologischen Köpfe der nächsten grünen Generation gewachsen ist, weiß, wo es langgeht. Und mit 23 hat sie auch noch mehr Zeit als der Weltuntergang. Doch wer etwas erreichen will, der braucht die permanente Revolution, eine Strategie aus Nadelstichen, die das Klimathema jeden Tag reitet, jede Stunde, auf allen Kanälen und in allen Himmelsrichtungen. 

Es soll niemand mehr sein können, ohne rund um die Uhr konfrontiert zu werden mit seiner Verantwortung. Wer geht und steht, wer isst, heizt, fährt oder läuft oder - wie der Kanzler - reist, er braucht Ängste, Schuldgefühle, den Eindruck, es komme auf ihn an. Nur unter Druck entstehen Diamanten, nur mit Gewalt gelingen Revolutionen.

Scheitern im Ersten Anlauf gehört dazu

Dass sie im ersten Anlauf auch scheitern können, das war Luisa Neubauer klar. Deutschland 1848, Russland 1905, Deutschland 1923, China 1927, Afrika 2006. Die Geschichte ist voller Versuche, die Erde zu einem besseren Ort zu machen, wie es auch die Initiative "Berlin klimaneutral bis nächste Woche" mit ihrer Idee vorhatte, die Schonlängerdortlebenden und ihre zugezogenen Nachbarn 786 Jahre nach der offiziellen Ersterwähnung ihrer Stadt darüber entscheiden zu lassen, ob die deutsche Hauptstadt ihren Betrieb im Dienste des Weltklimas umgehend einstellen oder weiterhin an Helmut Kohls verhängnisvollem Vorschlag vom "Weiter so" festhalten soll.

Wahrheit oder Pflicht? Die Hoffnung bei Neubauers war groß, dass die breite mediale Unterstützung für die gute Sache reichen würde, eine ausreichende große kleine Minderheit von rund 600.000 Berlinerinnen und Berlinern in einem schwachen Moment zu erwischen, so dass sie gegen egoistische Partikularinteressen und für das große Menschheitsziel einer klimaneutralen ehemaligen Preußenmetropole stimmen.

Es fehlt an preußischem Opfermut

Doch ach, doch ahhh. Selbst der deutsche Hauptstädter, ein Menschentyp, der seine typisch preußische Opferbereitschaft vor 80 Jahren erstmals stoisch unter Beweis gestellt hatte, zeigte der Vision von der Stadt, die nur noch schläft, um möglichst wenig CO2 zu verbrauchen, an der Wahlurne die kalte Schulter. Die 607.518 Ja-Stimmen, die gereicht hätten, den Verkehr in den kommenden Wochen und Monaten lahmzulegen, das Heizen von Häusern zu unterbinden, private Pkw dauerhaft an den Stadtrand zu verbannen und die Reste der einst beachtlichen Berliner Industrie nach Polen und in die USA, sie kamen nicht einmal annähernd zusammen.  Es wurde nicht einmal "sehr, sehr knapp", wie eine kleine Hauptstadtzeitung beschwor. Sondern sehr, sehr deutlich.

Wo aber eine Schlacht verloren wird, das geht der Kampf weiter, wie es Rudi Dutschke die Nachgeborenen gelehrt hat. Kaum war die Schlappe amtlich, kaum war bewiesen, dass selbst der wenig rational denkende Teil der Berliner nicht groß genug ist, um sich glauben lassen zu machen, dass schneller laufen kann, wer sich aus Gewichtsgründen ein Bein abschneidet, stand Luisa Neubauer schon wieder vor Kameras und kündigte die nächsten Angriffe auf das in Deutschland von staatswegen organisierte System der Klimavernichtung an. 

"Mehrheit für Berlin 2020"

Neubauer weiß: Wichtig ist nicht das Ergebnis, sondern zuallererst die Deutung. Und notwendig vor allem die Verklärung der Niederlage zu einem Sieg, der den Anhang weiter glauben und alle anderen weiter fürchten lässt. Die womöglich schon nächste grüne Parteichefin definierte also noch am Abend der Pleite der bizarren "Volksabstimmung" über den Umzug ins Wolkenkuckucksheim  "eine Mehrheit für Berlin2030", die nur leider nicht gereicht habe. So ungerecht geht es zu, so lange man selbst nicht das Sagen hat.

Das sei "nicht nur hart für den Volksentscheid, sondern für alle, die sich darauf verlassen können sollten, dass im Klimaschutz endlich losgelegt wird". Bangemachen aber gilt nicht. Ein Nein wird nun "teurer als ein Ja", aber das wird der Preis sein, den Berlin zahlen muss, bis seine Bürgerinnen und Bürger ein Einsehen haben und Berlin mit einem neuen Klimagesetz "zum Vorbild für die Welt" (Neubauer) machen. "Wir kämpfen bergauf", hat Luisa Neubauer unmittelbar nach der Verkündigung eines Abstimmungsergebnisses erklärt, nach dem nur 442.000 von knapp 2,5 Millionen wahlberechtigten Berlinern für den totalen Klimaausstieg binnen von nur sieben Jahren stimmten.  

Ehrgeizig und streng

Das sind viel mehr Menschen, als einstmals auf die Feldherrnhalle marschierten, und noch viel mehr, als mit Walter Ulbricht im Flugzeug saßen, um die Heimat zu retten. "Auch nach heute ist klar: Wir kämpfen weiter", sagt Luisa Neubauer trotzig. Das Klima hat noch Hoffnung. Die Welt muss nicht zwingend untergehen. Gibt sich das einst durch die Alliierten aufgelöste Preußen im nächsten Anlauf dich noch "ehrgeizige Klimaziele" (Die Zeit), die durch "strenge Regeln" (DPA) rechtssicher durchgesetzt werden, kann die Menschheit vielleicht doch noch einen Ausweg finden: Geleitet vom Licht aus der deutschen Hauptstadt.

Pipeline-Ping-Pong: Bombenleger mit Ladekran

Die vom Cyberkommando der Bundeswehr entwickelte KI "BuAI-ABC" hat dieses Phantombild eines der Täter entworfen.

Die Luft wird dünn für Moskau, in Washington, Berlin, London und Kiew dagegen darf für den Augenblick aufgeatmet werden. Im Streit um die Verursacher der "Explosionen" (DPA) an den Erdgaspipelines Nord Stream I und II, nach denen "im September vergangenen Jahres große Beschädigungen entdeckt" (DPA) worden waren, gibt es eine neuerliche Wendung. Diesmal glücklicherweise zum Guten.

Analyse von Bewegungsdaten

Nachdem zuerst Russland verantwortlich für die Zerstörung seiner eigenen Anlagen verantwortlich gemacht worden war, später durch den ehemaligen Reporter Seymor Hersh die USA in den Fokus rückte und zuletzt dann durch Pressemitteilungen aus Washington eine ukrainische Kleinstgruppe Schlagzeilen machte, ist nun wieder Moskau im Visier.  Eine in den zurückliegenden fünf Monaten durchgeführte Analyse von geheimen Schiffsbewegungsdaten, aufgezeichnet von Satellitenbilder, zeigt,  dass im Tatzeitraum die russische Korvette "Soobrazitelny" und die Fregatte "Yaroslav Mudry" in Tatortnähe kreuzten. 

Kein Beweis, aber ein weiteres Indiz, auch wenn das russische Verteidigungsministerium behauptet, die Kriegsschiffe hätten nur "zu Übungszwecken einen Schiffskonvoi eskortiert". Eine Aussage, der nicht zu trauen ist, weil bekannt wurde, dass die Technik, um an den in 80 Metern Tiefe liegenden Rohrleitungen Sprengsätze anzubringen, "demnach an Bord" (T-Online) war. So verfüge die "SS-750"  über ein Mini-U-Boot mit Greifarmen und die Schlepper "SB-123" und "Alexander Frolow" seien mit Lastkränen  ausgestattet. 

Bombenleger mit Ladekran

Deren Fehlen auf der Yacht "Andromeda", die zuletzt von Rostock aus aufgebrochen war, um das Kapitel Nord Stream mit einem Wumms zu beenden, hatte selbst bei Verschwörungstheoretikern ernst Zweifel geschürt, ob ein sechsköpfiges Team auf einem Freizeitboot wirklich ausreichen könne, einen erfolgreichen Vernichtungsangriff auf ein milliardenteures Stück kritischer deutschen Infrastruktur zu verüben.

Nun war es doch wieder Russland, wie schon ganz zu Beginn der Aufarbeitung der schwersten Angriffe auf eine deutsche Industrieanlage seit Frühjahr 1945. Die Spuren scheinen eindeutig: Auf ihrem Weg Richtung Tatort sandten die beiden russischen Schlepper am Nachmittag des 21. September vermutlich irrtümlich Positionsdaten, so dass das wohl ursprünglich streng geheime Unternehmen nun im rahmen der akribischen Fahndungsmaßnahmen der Behörden in Deutschland, Schweden, Dänemark, den USA und Russland aufflog.

Gut für Kiew und Berlin

Gut für die Ukraine, der aufgrund von Sprengstoffresten auf dem Abendbrotstisch in der Kombüse der "Andromeda" eine Mitverantwortung untergeschoben worden war. Aber auch in Berlin dürfte die Meldung des Fahndungserfolges für Aufatmen sorgen. Vor allem der einzig auf den Aussagen einer einzige anonymen Quelle aufgebaute Vorwurf der ehemaligen Enthüllungsreporterlegende Hersh, die USA seien verantwortlich für die Sprengung und die Lecks in den Nordstream-Pipelines, hatte die Bundesregierung in Verlegenheit gebracht. 

Fest steht nun, dass nach Angaben Schwedens Sabotage hinter dem Vorfall steckt - eine neue künstliche Intelligenz, die vom Cyberkommando der Bundeswehr entwickelt wurde, zeigt sogar eine/n der Täter*in: Versehen mit Maske, Taucheranzug und Sauerstoffflasche ist der/die Unbekannte in der Computeranimation zu sehen, wie ersiees bodennah mit einer Tüte hantiert, in der sich offenbar ein rätselhafter Gegenstand  befunden hat.

Sonntag, 26. März 2023

Einsparung bei Himmelsrichtungen: Aller guten Dinge sind drei

Vier Himmelsrichtungen galten bisher als Voraussetzung zur Orientierung im Raum. Nun aber wird neu nachgedacht.
 
Noch geht es ihm gut wie selten, er ist einig wie beinahe nie, wirtschaftlich potent und politisch so mächtig, dass die übrige Welt mit Bangen, aber auch mit großer Hoffnung zuschaut, wenn er seine Entscheidungen über die Zukunft aller trifft und Kurs setzt auf neue Horizonte. Der Westen, einst eine Himmelsrichtung wie die anderen auch, später aber ein Weltbild, eine Einstellung, ein Vorbild und Fanal für alle Völker, ihm nachzueifern. 
 

Wiederauferstehung und Ende

 
Der Krieg an der "Ostfront" (Die Presse) schien die Wertegemeinschaft anfangs schwer zu verstören. Anderswo einzumarschieren, das war ein Recht, dass denen vorbehalten sein sollte, die gute Gründe haben. Doch die Vitalität, die sich die Führer der freien Welt eben noch selbst abgesprochen hatten, sie kehrt im Blutbad schnell zurück. Die "hirntote" Nato (Emmanuel Macron), gerade noch "obsolet" (Donald Trump), erstand vom Totenbett auf. Die zerstrittenen Partner rechts und links des Atlantiks zogen so kräftig an einem Strang, dass es deutschen Mediennutzer erscheinen manchmal wollte wie der Auftritt eines globalen Teams. Wo man nicht übereinkam, da machte man nicht viele Worte. Wo man einander nicht mehr zu trauen wagte, machte man gar keine.

Der Phoenix flog über die Asche des Endes des Endes der Geschichte. Nur noch schnell Deutschland dämmen und die Elektrifizierung des ganzen Landes durchziehen. Niemand irgendwo auf dem "Planeten" (Georg Diez) würde sich dem neuen Denken dann noch verschließen können: Frohsinn entsteht aus Verzicht. Freiheit aus der Einsicht in die Notwendigkeit. Und das wahre Glück ist, nicht mehr zu vermissen, was einem fehlt. 

Vieles wird nicht mehr gebraucht

 
Wer braucht noch Kaufhäuser, private Fahrzeuge, Heizungen oder das Recht der freien Rede bis zur Grenze, die früher die Strafbarkeit zog. Wenn niemand mehr Geld hat, muss keiner mehr etwas kaufen. Dank 49-Euro-Ticket wird Mobilität zum Kollektiverlebnis. Und wie Klaus Seibold, eine Art menschliche Zitatenfabrik, bereits vor Jahren festgestellt hat: Die Meinungsfreiheit erlaubt es eben auch zu schweigen.

Dieser neue, vitale und von Vergewisserungskonferenz zu Vergewisserungskonferenz tourende Westen steht nun allerdings plötzlich zu Disposition. Gerade noch retten sie das Klima, treffen sich als G7 und G20 und in Ägypten und in Washington, kommen in Brüssel zusammen und suchen als diese oder jene Runde der immergleichen Verantwortungstitanen nach Lösungen für dieses oder jenes Weltproblem. Aber ist etwa. Immer legt sich jemand quer. Nie besteht Einigkeit. Und kein starker Mann tritt auf und haut mal auf den Tisch, dass die Tassen im Schrank tanzen.  

Immer dieses Gerede

 
Dabei ist doch die Sehnsucht von Medien und Menschen so groß. Nach einem Habeck, der nicht nur weiß, was "wir müssen", sondern der es auch durchsetzen kann. Nach einer Annelena Baerbock, der ein Schwert gegeben ist, um die gordischen Knoten der Weltinnenpolitik zu zerschlagen. Nach einem Boris Pistorius, der nicht nur auftritt wie ein General, sondern die Truppen auch mal in Marsch setzen kann, weil sie fiebern und nach vorn drängen, modernst ausgestattet und behängt mit Abertonnen treffsicherster Munition.  

Wie aber soll das alles werden ohne deutliche Ansagen und Durchregieren? Wenn über alles verhandelt werden muss, Verbrenneraus gegen Kernkraft, Panzerlieferungen gegen Frackinggas, Stillschweigen gegen Frieden. Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke sieht angesichts einer Situation, in der Leute wie Putin, Xi oder Kim Jong Un ohne Widerspruch flott dahinregieren, ihre Gegenspieler Olaf Scholz, Emmanuel Macron und Joe Biden aber immer erst reden und palavern müssen, ehe sie mit Deutschland-Geschwindigkeit fahrt aufnehmen können. 

Der Ausgang des Rennens

 
Koschorke kennt den Ausgang des Rennens bereits. Die Tage des Westens seien gezählt, hat er der Wochenschrift "Die Zeit" anvertraut: Erstmals deutet damit ein Wissenschaftler an, dass die Menschheit sich von einer der vier Himmelsrichtungen trennen könnte. Nord, Süd, West und Ost, das galt bisher als das unveränderbare Koordinatensystem der Erdkugel, zweidimensional, aber zur Richtungsbeschreibung brauchbar. Die herausragende Rolle im Quartett spielte dabei ausgerechnet der Westen: Er war stets die einzige Himmelsrichtung, die sich nicht nur als Wegweisehilfe, sondern auch als Kontinent, Glaube, Wertesystem, Botschaft und Gemeinschaft verstand.

Der "Westen", der im Unterschied zum Osten und erst recht zu Norden und zum Süden über Jahrhunderte ein Gefühl seiner selbst entwickelt hatte, scheidet also nun aus der Geschichte aus. Kein Platz ist mehr für ihn in der "neuen Weltordnung", die Koschorke aufdämmern sieht, dreibeinig nur noch, weil sich der globale Einfluss des Westens aufgrund ihrer kolonialistischen Vergangenheit und ihrer Doppelmoral in Sachen Menschenrechten in einem dramatischen Niedergang befindet. 
 

In Zukunft ein Dreibein

 
Übrig bleibt in der Zukunft nur ein Dreibein, das in der Statik als kleinste stabile geometrische Figur im euklidischen Raum gilt, weil nur drei von einem gedachten gemeinsamen Punkt ausgehende Vektoren alle Plätze auf der Kugeloberfläche des "Planeten" (Georg Diez) umfassend bezeichnen. Nord, Süd und Ost benötigen keinen Westen mehr, sie können auf eigenen Beinen stehen, ohne den mentalen Kolonialismus des alten Europa, ohne die Weltpolizeimethoden der ehemaligen Neuen Welt und ohne die herausragendste Charaktereigenschaft des Kontinents, der das Schicksal der Menschheit seit 2.000 Jahren geprägt hat: Die Doppelmoral.