Montag, 31. Mai 2021

Auf zum letzten Gefecht: Linke Wessis in Weimar*

Selbst Westdeutsche wie die Leipziger Linke-Spitzenkandidatin Julia Schramm sind dafür, dass Ostdeutsch*Innen sie wählen sollen, um den Wessis das Kommando zu nehmen.

Sie ist in Frankfurt am Main geboren, sie wuchs in Hennef auf, ging dann nach Westberlin und tritt nun, nach mehreren Parteiwechseln bei der Linkspartei gelandet, an, den Wessis endlich das Kommando wegzunehmen. Der Osten, erst 40 Jahre lang unterdrückt, dann 30 Jahre lang benachteiligt, soll endlich wieder selbstbewusst auftreten, ein Landstrich, der stolz ist auf sich und das, was er sich all die Jahre hat gefallen lassen. Julia Schramm, ehemalige Piratenpolitiker, mag nicht mehr zusehen. "Nehmt den Wessis das Kommando", fordert sie, kürzlich gekürt als Spitzenkadidatin der allmählich ausklingenden Ostpartei in Leipzig, einer der letzten SED-Hochburgen.

Unheilvolle Tradition

Hitler, Honecker, dann Kohl, Biedenkopf, Merkel, Kemmerich und Ramelow - immer regierten im Osten Frauen und Männer aus dem Westen. Niemals mussten sich die Menschen hier Gedanken darüber machen, welche Regeln galten oder welches System gerade angesagt war. Wichtig war, sich an die Vorgaben zu halten, und die wurden eben im Westen gemacht. 

Immer besser so. Manche Ostdeutsche seinen „auch nach 30 Jahren nicht in der Demokratie angekommen“, hat der CDU-Ostbeauftragte Marco Wanderwitz gerade über seine Landsleute geurteilt. Der gebürtige Karl-Marx-Städter sieht die Sozialisierung in der Diktatur als Ursache dafür, dass es gerade im Osten fortlaufend zu Unruhen und Gewalttätigkeiten kommt.

Tiefpunkt der Fremdherrschaft

Wanderwitz, der seinerzeit im Zuge der Thüringen-Affäre an seinen Posten kam, als der diktatursozialisierte Christian Hirte wegen falscher Glückwünsche hatte aus dem Amt entfernt werden musste, sieht bei Menschen im dunklen Osten eine stärkere Neigung zur Wahl rechtsradikaler Parteien als im Westen. Darin zeigten sich „gefestigte nichtdemokratische Ansichten“, gegen die wenig zu machen sei. Der Tiefpunkt der Fremdherrschaft war mit eben jener Thüringen-Affäre erreicht: Der Westdeutsche Ministerpräsident Bodo Ramelow war auf Betreiben des Westdeutschen AfD-Extremisten Björn Höcke mit Hilfe eines Planes des Westdeutschen Strippenziehers Götz Kubitschek aus dem Amt gejagt und durch den westdeutschen Friseurunternehmer Thomas Kemmerich ersetzt worden.

Ein Schaden, der durch das beherzte Eingreifen der Kanzlerin zumindest vorübergehend repariert werden konnte. Kein Zweifel besteht aber im politischen Berlin daran, dass nur ein geringer Teil von AfD-Wähler ist „potenziell rückholbar“, wie Marco Wadnerwitz jetzt bekundet hat. Der Rest sei "für immer verloren". Bis eine "nächste Generation“ (Wanderwitz) vielleicht die Hoffnung erfülle, dieselben Werte und Überzeugungen zu teilen wie die richtigen Menschen im Westen, dürfe sich die CDU nicht von der AfD treiben lassen - so lange ausreichend viele Westdeutsche zur Verfügung stehen, Wahlfunktionen und Leitungsposten im Osten zu übernehmen, kann einfach durchregiert werden bis zu dem Tag, an dem junge Ostdeutsche denken, reden und sich verhalten wie ganz gewöhnliche Leute aus Kleve, Rüttlingshausen und Düren. 
 

Chance für Aufbauhelfer


Es ist die Chance für Aufbauhelfer wie Julia Schramm, Sorgearbeit zu leisten an der Straße der Gewalt, die sich wie ein blutiges Band durch Deutschland zieht. Kein Respekt für staatliche Institutionen, kein Respekt für Geimpfte und Genesene, laute Musik ohne Abstand und gute Absichten, junge Feiernde aus der fröhlichen Partyszene - Julia Ulrike Schramm, seit Anfang des Jahres Mitglied im Parteivorstand der mit der SED rechtsidentischen Linkspartei, kann großen Vorbildern der erfolgreichen KolonialisierungDemokratisierung nacheifern.
 
Als gebürtige Hessin mit Wohnsitz in Berlin als Direktkandidatin für den Landkreis Leipzig hat sich die bekennende Feministin das von der marginalisierten Linken in Sachsen-Anhalt geprägte Parole „Nehmt den Wessis das Kommando“ zueigen gemacht. Dass es als normal gilt, dass Ostdeutsche auf den Kommandobrücken der Republik nichts zu melden haben, dass in Ostdeutschland zwei Drittel der hundert größten Unternehmen von Westdeutschen geführt werden, dass in der ehemaligen DDR nur knapp ein Viertel aller Spitzenpositionen in Verwaltung, Justiz, Medien, Wirtschaft und Wissenschaft mit Ostdeutschen besetzt sind und dass selbst in ostdeutschen Wahlkreisen Westdeutsche als Spitzenkandidaten antreten, müsse sich ändern, fordert Schramm.
 

In Erwartung des nahenden Aussterbens

 
Sie trifft damit einen Nerv im alten Osten, der sich in den Jahren nach dem Zusammenbruch der DDR und der Übernahme durch das bessere Deutschland in die Rolle hineingefunden hat, das ewige  Ungleichgewicht zwischen Ost und West zwischen den Kaisergeburtstagsfeiern zu runden Jubiläen der "Friedlichen Revolution" von 1989 still zu bejammern. Die heute noch rund 13 Millionen früherer neuer Menschen gedulden sich in Erwartung des St.-Nimmerlein-Tages, an dem sich der Anteil der in Ost und West aufgewachsenen Menschen in Führungspositionen angeglichen hat, das Gehaltsniveau vereinheitlicht wurde und überall dieselben Renten gezahlt werden.
 
Mit dem Vermögensaufbau wird es von da an noch etwas dauern, aber  die - wie alle überregionalen deutschen Blätter strikt westdeutsche - Taz hat schon einen Plan entworfen, wie auch der Osten zu wenigstens einigen Milliardären kommen könnte: Derzeit werden in Sachsen-Anhalt durchschnittlich 59.000 Euro vererbt, in Bayern 176.000, von 176 deutschen Milliardären habe nicht ein einziger Wurzeln im Osten. "Doch solange viele der Meinung sind, dass eine Vermögenssteuer kommunistischer Unsinn ist und ihre Kinder ein volles Anrecht auf das von ihnen angehäufte Vermögen haben, wird sich an dieser Schieflage nichts ändern".
 

EU-Impfpass: Wieder viel zu spät als nie

Hochfliegende Pläne, das kann sie, die EU. Nur mit den Terminen und der Umsetzung hat sie es nicht so.

Der ganz normale EU-Europäer kennt es gar nicht anders. Immer gibt es europäische Lösungen, immer wird es nicht lange dauern von der Ankündigung in Brüssel, den großen Schlagzeilen mit den herausragenden Versprechen. Und immer und immer und immer wieder verwandelt sich der hoch durch die Lüfte fliegende stolze Löwe der zu allem entschlossenen flinken, dynamischen und von aller Welt um ihre solidarische Gemeinsamkeit beneideten EU im Fluge in eine abgehärmte, traurige Krähe, der jeder Zuschauer nur noch wünscht, sie möge sich bei der Land nicht auch noch das Genick brechen.

Neue gemeinsame Großtaten

Die Abläufe sind also bekannt, sie sind von der europäischen Flüchtlingslösung bis zur Einigung über Israel, Venezuela, der Sommerzeit oder Nordstream 2 immer wieder geübt worden. Nie klappte etwas, aber kaum war sie hingefallen, begleitet vom spöttischen Gelächter der wenigen, die nach dem Verstreichen des von der EU angekündigten Termins einer Endlösung noch gefragt hatten, was nun daraus geworden sein, stand Ursula von der Leyen schon wieder in der Bütt, um die nächste gemeinsamen Großtaten anzukündigen.

Im März endlich, zum Jahrgedächtnis des Seuchenausbruchs, war der Kommission in Brüssel ausgefallen, dass irgendwer ab irgendwann vermutlich einen Nachweis über erfolgte Impfungen gut gebrauchen könne. Mitte März kündigte die EU-Kommission die Einführung eines digitalen Impfpasses "ab 01. Juni 2021" an - der Mund war voll wie immer, der Plan allerdings wie stets ein wolkiges Gebilde aus fehlenden Gedanken, keiner Idee, wie es gehen soll, und der Vorstellung, das Glück der Menschen liege im Trost, immer wieder vertröstet zu werden.

Ankündigungsweltmeister

Nun, 24 knappe Stunden vor der Zeit, weiß niemand viel mehr. Nur, dass das neue Reisedokument grün sein würde und die Einführung wie seinerzeit die große Impfung in allen EU-Staaten gleichermaßen stattfinden würde, hatte von der Leyen gleich anfangs verraten. Der neue "digitale grüne Nachweis" werde den "Europäerinnen und Europäern in diesem Sommer ein sicheres Reisen während der Corona-Pandemie" ermöglichen, das stand schon fest, auch, dass er "unentgeltlich in digitaler Form oder in Papierform bereitgestellt" werde. 1. Juni, unser Wort drauf!

Es dauerte allerdings nur Stunden, bis aus dem 1. Juni der Juni wurde, der sich bald in "Ende Juni" verwandelte, ehe er als "Anfang der Sommerferien" weitermachte. Ein EU-Termin der alten Schule, der seine Kraft aus der Mächtigkeit einer fabelhaften Ankündigung zieht, ein "ungewohntes Tempo innerhalb der Europäischen Union", wie ein Reiseportal sich freute, weil "Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission, hat ihren Versprechungen Taten folgen" lasse.

Eine rein symbolische Einigung

Ankündigungstaten. Wie es beim Impfen immer darum ging, alle zuerst zu impfen, bis hinunter nach Afrika, so gab die Mischung aus europäischen Versprechungen und Umsetzung durch die Mitgliedstaaten vom ersten Augenblick an die sichere Gewähr, dass das alles nichts werden wird. zwei Monate brauchten die Mitgliedsstaaten allein, um sich über das "Impfzertifikat" insofern einig zu werden, dass "in der EU ein digitales Dokument" sein werde, "in dem Corona-Impfungen gespeichert sind". 

Welche genau, darüber muss immer noch weiter verhandelt werden, denn die symbolische Einigung umfasst noch nicht die darüber, ob Sputnik und der chinesische Impfstoff eigentlich inbegriffen sind. Deutschland aber macht bereits Nägel mit Köpfen. Pünktlich zum ursprünglich verkündeten europaweiten Starttermin des digitalen Impfpasses für alle 450 millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger begann nun mit einer feierlichen Vorstellung des Projektes "CovPass" ein Modellversuch in mehreren Bundesländern. 

Den richtig dollen scharfen Start hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn derweil "für den Sommer" in Aussicht gestellt, vermutlich zu einem Termin, den Spahn neblig mit "zweiten Hälfte des zweiten Quartals" beschrieben hat, werde es "soweit" sein. Dann geht es los, dann wird "CovPass" nach und nach ausgerollt, die bis heute bereits absolvierten 35 Millionen Impfungen werden digital nachbestätigt, beglaubigt und gestempelt, die laufende Impfkampagne kommt gleich in der App an und zu spät sei das überhaupt nicht, so Spahn, denn "nötige EU-Abstimmungsprozesse" bräuchten eben ihre Zeit.

Sonntag, 30. Mai 2021

HFC: Ein letztes Spiel als Spiegelbild

Der Pokal kennt nur ein Gesetz, hieß es hier bereits vor Jahren: Es spielen zwei Mannschaften. Und der HFC verliert. Obwohl es Ausnahmen gab, sehr wenige und sehr schöne, wurde es niemals Liebe zwischen dem Klub aus der Saalestadt und dem zweiten Leistungswettbewerb. Der allerdings fristet in Sachsen-Anhalt seit Jahrzehnten ein Schicksal als ungeliebtes Kind, der Landesverband mag ihn nicht, es fürchtet ihr geradezu, zumindest in den Jahren, in denen die einzigen beiden Profimannschaften drohen, am Ende im Halbfinale oder im Finale aufeinanderzutreffen.

 Endlich ohne Zuschauer

So ist es nun wieder passiert, diesmal aufgrund einer Corona-Notverordnung, die dem von Misswirtschaft und Managementfehlern geplagten Fußballverband immerhin Gelegenheit gab, das Pokalendspiel in ein Qualifikationspiel um die Teilnahme am bundesweiten Pokalwettbewerb austragen zu lassen. Und das wie seit Jahren erträumt endlich ohne Zuschauer spielen zu können. 

In Halberstadt im Vorharz  findet es statt, das letzte Spiel einer HFC-Saison, die Charles Dickens in der "Geschichte aus zwei Städten" schon im Jahre 1859 unübertroffen korrekt beschrieben hat. "Es war die Saison des Lichts, es war die Saison der Dunkelheit, es war der Frühling der Hoffnung, es war der Winter der Verzweiflung" und nun, vor leeren Rängen auf einem Dorfsportplatz, soll dem drittbesten Abschneiden in Liga 3 noch die 12. DFB-Pokal-Qualifikation folgen. Das Wetter stimmt. Die letzten Wochen der regulären Spielzeit, die zwischen schlecht, ganz schlecht, mies, herrlich und sensationell hin- und herflackerte, waren eher vom positiven Teil. Man steht in der Abschlusstabelle sogar doch noch knapp vor dem ewigen Rivalen.  

Magdeburg spielt ein Finale

Aber als es dann losgeht, ist es doch wie immer. Magdeburg spielt ein Pokalfinale. Der HFC, ohne Antonius Papadopoulos, aber mit dem  gerade um zwei Jahre verlängerten Trainerteam Schnorrenberg/Ziebig auf der Bank, ist im Märzmodus. Im Halberstädter Stadion, das schon denkwürdige Pokalschlachten gesehen hat und seitdem keinen Tag jünger geworden ist, spielt nur der ansetzungstechnisch als Gast geführte Verein aus der Börde. Von HFC kommt nichts, bis aus einen Sturmlauf von Julian Derstroff, der im Strafraum gefällt wird. Ein klarer Elfmeter, ein Pfiff. Doch statt des Strafstoßes gibt es nur Freistoß.

Die erste Fehlentscheidung und auch schon die schlimmste für die die Weiß spielenden Hallenser, die ihren Gegenspielern weiterhin hinterherlaufen. Ein Jahr wie im Zeitraffer, ein letztes Spiel wie das Spiegelbild einer ganzen Saison: Von den guten Ansätzen der letzten paar Spiele ist nichts mehr zu sehen. Zwar ist es nicht so schlimm, wie es auch schon war. Aber die Richtung, die das alles nimmt, ist nicht zu übersehen.

Sekundentod im ersten Anlauf

Kurz vor der Pause dann die Quittung. Atik, bis dahin bester Mann auf dem Platz, flankt, Brünker schießt, Müller im HFC-Tor ist chancenlos, denn der Ball trifft erst einen Pfosten, dann den anderen. Und dann liegt er hinter der Linie. Der HFC hat noch kaum angestoßen, das klingelt es schon zum zweiten Mal. Diesmal folgt auf einen Fehlpass aus der HFC-Abwehr ein Atik-Pass auf Kath und ein fröhlicher Heber über Müller.

So ist das also wieder. 45 Minuten und schon vorbei. Keine Wiederholung der legendären acht Minuten von Magdeburg im Jahr 2008. Keine Hoffnung auf ein paar zusätzliche Euro und ein bisschen Extra-Euphorie aus einer möglicherweise doch irgendwann einmal erfolgreiche DFB-Pokalsaison.

Allerdings  ist noch nicht aller Tage Abend in Halberstadt. Und Magdeburg im Grunde keine bessere Mannschaft als der HFC. Dem zuzusprechen, er würde nach der Pause aufdrehen, wäre des Guten zu viel. Aber wenigstens ist das bestreben zu erkennen, nicht wieder geschlachtet zu werden - und nicht gleich zum Neustart mit dem alten Trainer den Eindruck zu vermitteln, es gehe nun noch mal 24 Monate so weiter.

Derstroff bringt Hoffnung

Der HFC, jetzt mit Jan Sherbakowski für Anthony Syhre offensiver aufgestellt, müht sich. Und Magdeburg wackelt. Große Torchancen haben beide nicht, aber Chancen auf Chancen sind da. Und in der 69. Minute belohnt sich der HFC für einen nun endlich endspieltauglichen Auftritt: Jonas Nietfeld zirkelt einen Freistoß von rechts zentral vor das Tor. FCM-Keeper Morten Behrens ist irgendwo, alle Abwehrspieler ebenso. Julian Derstroff steigt unbedrängt hoch und köpft zum Anschluss.

Alles wieder offen, und wie. Jetzt drückt der HFC, jetzt spielt er so, wie sich das die Fans draußen vor dem Stadion von Anfang an gewünscht hätten. Das ist heute kein Feuerwerk der Fußballkunst, aber auch nicht so schlimm wie vieles andere in den vergangenen Monaten. Eberwein hat den Ausgleich auf dem Fuß, Sherbakowski ebenso, Derstoff auch und Boyd vergibt zweimal unglücklich. Im Gegenzug hat Halle Glück bei Magdeburger Kontern - und noch mehr, als eine Nietfeld-Ecke von den in Schwarz spielenden Blauweißen geklärt wird, der Ball aber bei Sherbakowski landet. Und der auf 20 Metern einen Strahl ins Tor schickt.

Happy end ohne Happy end

Ausgleich. Happy End. Das Momentum ist jetzt bei Halle, das Bangen auf Magdeburger Seite. Aber, wir sind hier beim Halleschen FC, nur ein paar Sekunden lang. Denn kaum hat die steinzeitliche Anzeigetafel in Halberstadt das 2:2 aufgerufen, rollt über rechts das alte HFC-Pokalgesetz heran. Atik läuft rechts außen unbedrängt in die HFC-Hälfte und spielt dann einen eher verzweifelten als genialen Pass Richtung Fünfmeterraum. Sven Müller im HFC-Tor bekommt den Ball nicht gegriffen. Abwehrchef Stipe Vucur hinter ihm bekommt seine Füße nicht mehr weg. Es ist die 86. Minute und das Eigentor bringt Magdeburg mit 3:2 wieder in Front. Der HFC stürmt jetzt mit Mann und Maus und Torwart Müller. Vergeblich.

Am Ende ist es dann also doch wie immer. Ein bisschen traurig. Ein bisschen wie gewohnt. Ein bisschen wie ein Ende. Ein bisschen wie Dickens "schlimmste aller Zeiten", ein bisschen wie diese Saison der Dunkelheit und dieser Winter der Verzweiflung. Hängende Köpfe, fassungslose Gesichter. Enttäuschung. Leere. Ein bisschen wie ein Schlussstrich. Ein bisschen wie ein Neuanfang. "Wir hatten alles vor uns, wir hatten nichts vor uns", heißt bei Charles Dickens.

Zunehmende Abnahme: Immer mehr CO2-Versprechen

Die stolze Bilanz leerer Klimaversprechen: Je mehr desto und desto mehr.

Der Kampf ist ein ungeheurer, er nimmt seit Monaten schneller Fahrt auf als Impfkampagne, Impfpassprogrammierung und die Arbeit am Wahlprogramm der Union zusammen und er ist selbst vom traurigen Rest des kalendarischen Frühlings nicht zu bremsen gewesen. In der Schlacht um die Klimarettung bis Mitte des Jahrhunderts, einer Aufgabe, wie sie noch keine andere Generation zu bewältigen hatte, sind die sichtbaren Fortschritte überschaubar beinahe nicht zu sehen, doch der Ehrgeiz, diesen kleinen Schönheitsfleck der Anstrengungen der zurückliegenden 30 Jahre mit Hilfe immer neuer sogenannter Klimaziele abzuschminken, ist historisch einmalig.

Im Wochentakt verschärft

Im Wochentakt wird inzwischen nachgeschärft und angespitzt, wird abgesenkt und aufgerüstet. Was eben noch an märchenhaften Minderungszielen sacht umstritten war, weil niemand zu sagen wusste, wie der große Bus der westlichen Industriegesellschaft ohne Straße, Treibstoff, Fahrer, Getriebe, Motor und Landkarte dorthin gelangen könnte, ist schon am nächsten Morgen nicht genug. Die kapitalistische Logik des Immermehr, nach übereinstimmenden Urteilen zahlloser Fernsehgerichte ein Geburtsfehler der menschlichen Logik, hat den Klimakampf erreicht. Nicht mehr nach Fünfjahrplänen wird regiert, sondern nun schon nach Plänen für zehn, zwanzig und dreißig Jahre.

Lahmt auch die tatsächliche Reduzierung der weltweiten CO₂-Emissionen, so gibt es doch bedeutsame Fortschritte bei der Zahl der abgegebenen Absichtserklärungen. In den vergangenen fünf Jahren hat die Zahl der - derzeit amtierenden - Regierungen, die sich zur Erreichung eines Netto-Null-Ziels verpflichtet haben, deutlich zugenommen: Waren es 2016 nur ganz wenige Nationen, die Gesetze zur CO2-Eliminierung beschlossen hatten, sind es heute nach Daten der Internationalen Energie-Agentur schon 71 Länder - 27 davon repräsentiert durch die Europäische Union, die ganz weit vorn marschiert im Block der Netto-Null-Theoretiker. 

Netto-Null-Theoretiker

Mehr als die Hälfte der Beteiligten sprang in den letzten 18 Monaten auf den Zug, meist nicht mit bindenden Gesetzen, sondern mit Absichtserklärungen und "Grundsatzapieren" (IEA) voller gutem Willen. Stolze zehn Länder haben ihre Netto-Null in ein Gesetz gegossen, acht weitere sind willens, das zu tun. 53 haben allerbeste Absichten, auch damit lässt sich gut Wetter machen, denn wohlwollend zusammengerechnet decken abgegebenen Zusagen jetzt schon rund 70 Prozent der derzeitigen weltweiten CO2-Emissionen ab, wie eine Prognose des Analyseprojekts Climate Action Tracker (CAT).

Wo es noch nicht so klappt mit den Zusagen, warten die Versprechungen von morgen. Das Netto-​Null-Ziel bedeutet, die bis unmittelbar vor Beginn der Corona-Pandemie immer weiter steigenden CO2-Emissionen stellen zugleich ein beständig wachsendes Reservoir für künftige Reduzierungsversprechen dar, die sicherstellen, dass die Klimabilanz wieder ins Lot kommt. Vielleicht nicht 2030, vielleicht auch nicht 2045 oder 205. Aber am Ende aller Zeiten, das ist heute schon Naturgesetz, wird sie exakt Null betragen.

Samstag, 29. Mai 2021

Steinmeier: Er bleibt wieder da

In seiner Zeit als aktiver Bundeskanzlerinnenkanditin, als gescheiterter Parteichef, als Kanzleramtsminister, der die neoliberale Agenda des Gerhard Schröder durchdrücken half, als Chefdiplomat und Verfassungsbrecher war Walter Steinmeier immer einer, der wirkte wie aus dem zweiten Glied, großgewachsen und durch die weiße Haarpracht hervorleichtend. Aber selten aus sich selbst heraus außergewöhnliche. 

Steinmeier, eigentlich Frank-Walter, aber seit einer gezielt gestreuten Fake News von seinen Fans nur noch "Frank" genannt, ist der typische Parteibürokrat. Ein Mann für alle Felle, ob weggeschwommen oder nicht. Steinmeier kann in einem Satz das Für und das Wider verteidigen. Als es noch die alte Normalität gab, die es zu seiner Jobbeschreibung machte, landauf, landab auf Tournee zu gehen, erschien er vor wildfremden Leuten, oft sichtlich im Unklaren darüber, wo er war und mit wem er es zu tun hatte. Und er sprach mit dieser Märchenerzählerstimme aus dem Niedersächsischen, wo sie Maaaaahhhgdeburg sagen, von seiner Hochachtung dafür, wie "engagiert hier gearbeitet und geforscht" werden. Manchmal hieß es auch gewirkt und gelebt, Bundespräsidenten haben diesbezüglich freien Zugriff auf das Musterredenarchiv der Bundesworthülsenfabrik (BWHF).

Spaß am höchsten Posten

 Dass der höchste Posten im Lande dem früheren Sozialdemokraten wirklich Spaß machte, ließ Steinmeier schnell erkennen. Seit er im Schloss Bellevue residiert, ist das Amt des Bundespräsidenten auch immer wichtiger geworden. Hatte Vorvorvorgängerer Horst Köhler in seiner Amtszeit nur ein einziges Gesetz zu unterschrieben, dessen offenkundige Verfassungswidrigkeit ihn daran hinderte, genau das zu tun, liegen auf Nachfolger Steinmeiers Tisch inzwischen jede Woche Gesetzestexte, von denen der ehemalige Mitarbeiter einer von der DDR finanzierten und vom Verfassungsschutz beobachteten extrem linken Zeitschrift weiß, dass frühere Verfassungsgerichte sie in der Luft zerrissen hätten, ehe noch seine Unterschriftentinte getrocknet gewesen wäre.

Walter Steinmeier weiß aber auch, dass die Zeiten andere sind. Wo Köhler noch zurücktrat, gepeinigt von einem Rest Gewissen, kann der in der Vergangenheit bereits als Vorbild für die Figur eines Luftballonverkäufers in einem Hollywood-Film dienende Detmolder sicher sein, dass nach 16 Merkel-Jahren niemand mehr in Karlsruhe sitzt, der nicht handverlesen und auf Zuverlässigkeit geprüft ist. Mit 67 Jahren fängt das Präsidentenleben so erst an, richtig schön zu werden: Wo es drauf ankommt, ist dieser Bundespräsident der schnellste Unterschreiber aller Zeiten. Einmal nur weigerte sich der als Verfassungsbrecher aktenkundige Niedersachse. Mit dem Ergebnis, dass alles noch schlimmer wurde. 

Würde es ohne ihn gehen?

Doch was die Partei betrifft, in der seine Mitgliedschaft pro forma ruht, lässt der erste Mann im Staate nichts anbrennen. Anstand. Und Würde von der Art, die sich fragt: Würde es denn überhaupt ohne ihn gehen? Ist es nicht wie bei Merkel auch wie es bei Kohl war, bei Westerwelle, bei Obama, bei Wowereit? Hinter dem jeweiligen Amtsinhaber immer nichts, kein Nachfolger, kein Kandidat, niemand, dem die Schuhe passen könnten. Einer muss es doch machen! Und wer soll das sein in einem Land der steten Stagnation, des Beharrens und der allumfassenden End-DDR-Müdigkeit? Es kann nur einen geben. Einmeier! Hier muss immer derjenige wieder ran, der schon da ist. Immer noch mal Haseloff, immer noch mal Merkel, immer noch mal Lindner, Schulz, Barolo. Und nun eben Steinmeier, die Teflonpfanne im Schloss Bellevue, die Donald Trump in einem Anfall von Ehrlichkeit als „Hassprediger“ bezeichnet hatte, weil sie glaubte, der könne die Wahl keinesfalls gewinnen.

Die US-Regierung hat den höchsten deutschen Würdenträger daraufhin stabil behandelt wie ein Loch aus Luft. Als Walter Steinmeier einmal nach Amerika durfte, traf er dort Weggefährten früherer Tage, amtslose, abgehalfterte Hoffnungsträger einer besseren Zukunft, an der Walter Steinmeier trotz des Erreichens des Rentenalters am liebsten mitbauen würde. 

Zweite Amtszeit gilt als Pflicht

Noch eine Amtszeit, denn die zweite gilt als Pflicht für alle, die bestätigt haben wollen, dass die erste Klasse war. Schaffst du die zweite nicht, ahnst du schon, was die Historiker schreiben werden: Zu dünne Bretter. Zu wenig Bohrer. Mahner ja, aber als Warner nicht gut. Natürlich weiß Steinmeier, dass ihn angesichts des unklaren Ausgangs der anstehenden Bundestagswahl niemand bitten wird, noch einmal zu kandidieren. Also hat er sich selbst ins Spiel gebracht,  bei einem eilig einberufenen Pressestatement. Das halbstaatliche Portal T-Online feierte das als "Beste Nachricht des Jahres", das ZDF sah eine "mutige Bewerbung", Steinmeier wolle "die Gesellschaft zusammenhalten" lobte die staatliche Deutsche Welle.

Geht es danach, bleibt er wieder da, geht es schief, ist auch nichts verloren. Kommt Schwarz-Grün, wird die neue Groko selbst genug Anwärter zu versorgen haben, kommt Grün-Schwarz, sieht es nicht anders aus. Selbst eine Dreierkoalition in Berlin würde den Bundespräsidentenposten benötigen, um Ausgleichsgeschäfte über Kabinettsposten, Punkte im Koalitionsvertrag oder Ministerienzuschnitte abzuschließen. Die SPD, unter dem neuen dynamischen Duo Esken/Borjans auf das Maß der AfD geschrumpft, dürfte dann etwa so viel Aussicht auf das Amt haben wie der Zehn-Millionen-Impfdosen-Kandidat Olaf Scholz auf den Einzug ins Kanzlerinnenamt.

Ein Posten, der immer gewiss ist

Gewissheit gibt es in der Demokratie nicht, auch nicht bei der Wahl des Bundespräsidenten", hat Steinmeier selbst noch einmal mit einer trotzigen fake news eingeräumt, dass seine Initiativkandidatur eher ein Verzweiflungswurf ohne Würfel ist als Folge der Überlegung, es könne bei all der Hektik einfach noch kein anderer darauf gekommen sein, ihn zu fragen. Selbst Steinmeier, der erst seit 30 Jahren hauptamtlich Politik als Hobby betreibt, weiß genau: Mag es auch sonst irgendwo auf der Welt Zufälle geben, Glück und Überraschungen. Bei der Bundespräsidentenwahl, die vorab im Hinterzimmer stattzufinden pflegt, sicher noch nie.

Wissenschaft des Kinderpiksens: Lassen dürfen können ohne müssen zu sollen

Vorsicht, Impfoffensive: Auch Kinder dürfen sich jetzt bald in die Impfanwärterschlange stellen können, sie sollen aber nicht müssen.

Vom ersten Moment an war Corona eine Gelegenheit für die Wissenschaft. Während andere Staaten, der inzwischen weitgehend vergessene frühere US-Präsident Donald Trump und sein derzeit aus den Schlagzeilen verschwundener brasilianischer Kollege Jair Messias Bolsonaro sich strikt weigerten, die Erkenntnisse von Virologen, Epidemiologen und Demoskopen als Grundlage ihrer Entscheidungsfindung zu nutzen, war das in Deutschland anders.  

Masken galten hier so lange als nutzlos und sogar schädlich, wie eine Maskenpflicht das Fehlen einer leistungsfähigen nationalen Maskenindustrie hätte offenlegen und damit die vulnerablen Gruppen in der Bevölkerung beunruhigen können. Bei der Impfstoffentwicklung setzte die Bundesregierung mit einer direkten Beteiligung auf die junge Firma Curevac, die bis heute aussichtsreiche Forschungen für einen siebten oder achten Corona-Impfstoff betreibt. Und bei den Impfungen war im Corona-Kabinett immer klar: Die europäische Zulassungsbehörde EMA entscheidet nach gründlicher Prüfung, gründlicher als etwa in den USA, Israel, Russland oder Großbritannien. Aber mit demselben Ergebnis.

Wissenschaft der Rettung

Das gilt dann europaweit, denn der EMA-Bescheid ist Stand der Wissenschaft, der Bund und Länder getreulich folgen, denn in einer Situation, die heute schon der gleicht, die durch die Klimakrise in Kürze ausgelöst werden wird, kann nur science die Rettung sein. Unmittelbar nach der Zulassung des Impfstoffs von AstraZeneca für alle Altersgruppen schränkte die deutsche Impfstoffkommission die Verwendung deshalb wegen wissenschaftlicher Erkenntnisse nach einigen bedauerlichen Todesfällen auf ausschließlich jüngere Empfänger ein. 

Ein deutscher Sonderweg, der auf Rat der Wissenschaft wenig später leicht korrigiert wurde: Nun war "Astra", wie der Volksmund die britisch-schwedische Brühe nennt, nur noch für Ältere und ganz Alte empfohlen. Zugelassen aber nun doch wie von der EMA bestimmt für alle, außer in einige EU-Nachbarstaaten, die das einheitliche europäische EMA-Urteil auf jeweils eigene Art interpretierten.

Diverse Wege

Dieser wissenschaftlich begründete Weg der diversen Vielfalt half unmittelbar und mit beinahe schon magischer Kraft, zumindest in Deutschland. Hatten nach den ersten vier Millionen Astra-Impfungen noch 59 Fälle von Hirnvenenthrombosen medial so laut beklagt werden müssen, dass der eben noch begehrte Impfstoff wie Blei in den Kühlschränken der Hausärzte lag, folgte auf die Änderung der Strategie kein einziger medial betrauerter Fall mehr. 

Es ist fast wie ein Wunder: Obwohl inzwischen weitere vier Millionen Dosen Astra verimpft wurden und die Wissenschaft sich unterdessen sicher ist, dass ein erhöhtes Thromboserisiko auch bei älteren Frauen besteht, blieben Impfschäden deutschlandweit aus, seit Impfwillige selbst entscheiden, ob sie das Risiko, an Corona zu erkranken, gegen das Risiko eintauschen wollen, mit Astra geimpft zu werden. oder weiter auf Biontech zu warten.

Blaupause für den Impfgipfel

Für den Impfgipfel in Berlin musste das eine Blaupause sein. Die EMA hat das Biontech-Vakzine mittlerweile für Kinder ab zwölf Jahre freigegeben, die deutsche Wissenschaft aber hält am erprobten ab Impfstoffnationalismus fest: Die "Ständige Impfstoffkommission" als höchstes wissenschaftliches Beratergremium der Bundesregierung, lehnte die Empfehlung einer Impfung für Kinder und Jugendliche ab. Was die im Corona-Kabinett zum Impfgipfel versammelten Führerinnen und Führer der deutschen Impfkampagne zwang,selbst wissenschaftliche tätig zu werden und Elterinnen und Eltern im Lande den Rat zu geben, ihre Kinder impfen lassen zu dürfen können, allerdings weder zu müssen noch zu sollen.

Individuelle wissenschaftliche Entscheidungen sind gefragt, Einzelfallglaube und Vertrauen in den tageswahren Wasserstand der wissenschaftlichen Auskunftslage. Wer sich eben noch gegen den falschen Impfstoff entschieden hat, erkennt, dass es vielleicht doch der richtige war.  Wer anfangs Bedenken hatte und erst mal sehen wollte, wie viele seiner geimpften Nachbarn tot umfallen, muss als Spätgeimpfter ab August vielleicht nicht mehr um die Eintragung seiner Immunisierung im digitalen Impfpass bangen. Und die Kinder, die zuerst unter die Nadel gehen, sind natürlich auch die, die zuerst wieder unter die Nadel müssen, wenn es um Weihnachten herum an die erste Boosterung der Immunisierung geht. Die Ersten werden dann wieder die Ersten sein. And so on forever.

Wenigstens derzeit ist das Stand der Wissenschaft.

Freitag, 28. Mai 2021

Lob des großen Vorsitzenden: Rot ist der Mai

Ausschnitt aus der WDR-Sendung: Mao, der weitsichtige Führer.
Er ist nicht irgendwer in der Weltrangliste der Völkermörder, kein kleiner Killer oder verlegener Vernichter von ein paar hundert oder ein paar hunderttausend Menschen. Mao Zedong war im legendären Tyrannen-Quartett, einst zünftig vorgestellt in der Stadt der Reichsparteitage, ein echtes Ass. Der Chinese übertraf sogar Hitler und Stalin bei der Anzahl der von ihm verantworteten Toten - und er schaffte nicht nur eine Mordwelle, die er wie einen Tsunami durch seine kommunistische Diktatur rasen ließ, sondern  zwei, manche sagen sogar, es seien drei gewesen.

Maos Millionen Opfer

45 Jahre nach seinem Tod, friedlich im stolzen Alter von 83 Jahren, werden Mao zwischen 40 und 80 Millionen Opfer zugeschrieben, einmal ganz Deutschland, ermordet und zu Tode gebracht durch individuellen Terror, gezielt ausgelöster Hungersnöte, revolutionärer Raserei und politische Säuberungen.Wie sein Kollege Joseph Stalin spricht aus heutiger Sicht aber für Maos Bemühungen, dass er nicht einfach nur hasserfüllt mordete oder doch nicht nur, sondern nach dem neuen Menschen strebte, der die Vergangenheit hinter sich lässt. Mao arbeitete nicht knietief im Blut, sondern am Aufbau einer Utopie. Das Töten gehörte für ihn zum Tagesgeschäft, zugleich unschön und unerlässlich. 
 
Denn eigentlich galten die Mühen Maos einer friedlichen, freudvollen Zukunft für alle Menschen, ein Streben, das ihm zu Lebzeiten höchste Achtung der revolutionären Linken in Westdeutschland  eintrug, später aber verschütt ging. Zwar wurde der "Vater des modernen China" wegen der Kollateralschäden seines Wirkens nie wirklich hart kritisiert. Aber der Gründungsvater der Volksrepublik, der das Land von 1949 bis 1976 als Vorsitzender der Kommunistischen Partei Chinas regierte, erntete auch nicht mehr das verdiente Lob dafür, Klassenhass und die Vernichtung aller Feinde gepredigt zu haben, um China zu einer leeren Tafel zu machen, in das er ein neues Bild ritzen konnte.
 

Lob des Massenmörders


Da musste erst das WDR-Wirtschaftsmagazin "Markt" kommen, um die Ehre des großen Reformers zu retten. Pünktlich zum 55. Jahrestag der "Großen Proletarischen Kulturrevolution", mit der Mao seinem Land ein Jahrzehnt wütender Anarchie verordnet hatte, in dem Intellektuelle wegen ihrer Brillen und treue kommunistische Funktionäre wegen ihrer Treue ermordet wurden, trat die "Markt"-Redaktion an, das Bild des Bösen zu polieren. Rot ist der Mai! Und der Rotfunk ist dabei!
 
Schaue man auf Chinas Entwicklung zurück, werde die Weitsicht des großen Führers erst richtig deutlich, verkündet die Moderatorin, in der Hand Maos kleines rotes Buch, die Bibel der Personenkultanhänger. 1956 schon habe der ehemalige Grundschuldirektor vorhergesagt, dass bis 2001 ein mächtiges sozialistisches Industrieland aus China geworden sein wird. Ja, "dieser Aufstieg dieser Nation" (WDR) sei schon seit Jahrzehnten Schwarz auf Weiß festgeschrieben gewesen, so die Moderatorin, und zwar "vom Staatsgründer persönlich". Mao hatte echten Weitblick!, heißt es dann im Film, "mit jahrelanger Strategie" habe er China zur "größten Volkswirtschaft der Welt" gemacht.

Gut, das ist die USA. Aber das hier ist der WDR, der muss nicht über dieselben Tellerränder schauen wie das ZDF. Er blickt in die lichte Zukunft: Weitsichtige Führer. Sozialistische Industrie. Eine mächtige EU.

Laschets erste Landtagswahl: Wahlkampf in Wolkenkuckucksheim

Innerer Dialog auf einer Außenwerbefläche: Mit Schlagworten wie "Heimat" fischt die CDU am rechten Rand.

Die ersten schweren Herbststürme sind durchgerauscht, zum Glück ohne viel Schaden anzurichten. Die Bildungsministerin zurückgetreten, der Nahe Osten in Flammen, die Impfkampagne über Pfingsten erlahmt, dafür aber rückten BeloruslandasfrühereWeißrussland und SyriendasfrühereThemanummer1 wieder in den Fokus einer lange monothematisch abgeglittenen Medienaufmerksamkeit. Doch Karl Lauterbach selbst hat es verkündet, "die große Zeit der Pandemie ist vorbei". Zeit für neue Themen, neue Schlachten, alte Kriege und eine neue Chance für Norbert Röttgen, den ewig tragisch scheiternden Transatlantiker, dessen Vermutungen wie die Lauterbachs Verordnungscharakter tragen.

Deutschland öffnet sich der guten Laune

Das lässt Hoffnung blühen allerorten, wo die Zahl der positiven Tests wieder auf dem Stand von März angelangt sind, als die Diskussion um härtere Maßnahmen Fahrt aufnahm. Deutschland öffnet allenthalben, die gute Laune kehrt zurück, gerade rechtzeitig vor dem nächsten Labortest für die Bundestagswahl: Reicht es schon für eine Rückkehr der Wählerinnen und Wähler zur guten alten Mitte? Oder treiben die noch bestehenden Zweifel die Menschen den Rändern zu? Trägt eine Diskussion um die nächste Treibstufe des kaum mehr über ein halbe Millionen Impfungen am Tag hinausgehenden "Impfturbos" (DPA) noch ein bisschen? Oder gackert das Lachen über all die Pläne und aufgehobenen Priorisierungen, die Nichtpflicht und die unzähligen Risikogruppen schon lauter als die "Tagesschau" den Ernst der Lage filmen kann?

Das Schlimme ist, dass es vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt nicht einmal die notorisch unzuverlässigen Umfragen gibt. Das Gute ist, dass es vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt nicht einmal die notorisch unzuverlässigen Umfragen gibt. Niemand weiß heute schon, ob die Lockerungen rechtzeitig genug gekommen sind, damit es noch mal für Kenia reicht. Oder ob es nach dem Lockdown zumindest genug Zustimmung gibt, damit Mosambik in Magdeburg regieren kann, weil diesmal auch die Liberalen mit ins Boot müssen. 

Der Osten ein schwarzes Loch

Die Stimmung im Osten ist ein schwarzes Loch, angefüllt mit Ungewissheit. Dafür, dass Armin Laschet seine erste Beliebstheitsprüfung in Magdeburg, Stendal, Merseburg und Zeitz zu absolvieren hat, war der künftige Kanzler recht selten im fernen Osten unterwegs. Im Klimasommer 2020 hatte er sich ein erstes, letztes Mal an die Ostfront gewagt, damals noch ein unbekannter aus dem Westen unter vielen, die CDU-Parteichef werden wollten. Seit er es ist, führt er den Meinungskampf von Befehlsständen in Berlin und Düsseldorf aus - die "Zonengrenze" (Laschet) überschreitet der Westdeutsche allenfalls im Transit.

Mit sichtlichem Erfolg. Nach Sachsen, dem eine Wahlumfrage zuerst bescheinigte, dass die AfD dort nun stärkste Partei wäre, würde am kommenden Sonntag und nicht erst 2024 ein neuer Landtag gewählt, folgte auch Sachsen-Anhalt, das die Rechtsaußenpartei der letzten Landtagswahl noch mit fünf Prozent Abstand hinter der CDU auf Platz zwei gewählt hatte. Wie schrill die Alarmglocken in der Magdeburger Staatskanzlei nun klingeln, lässt sich denken. Bisher hatte dort betonter Zweckoptimismus geherrscht, gegründet auf geradezu fantastische Umfragergebnisse, die die CDU des mangels personeller Alternativen kurzfristig noch einmal als Spitzenkandidat eingesprungenen Ministerpräsidenten Reiner Haseloff mit 26 Prozent der Stimmen immerhin zwei Punkte vor der AfD mit nur 24 sahen.

Beruhigender Selbstbetrug

Selbstbetrug als letztes Ruhekissen. Vor vier Jahren hatten die letzten Umfragen vor der Wahl der CDU einen Vorsprung von 14 Punkten vor der AfD versprochen, geworden waren daraus schließlich schlanke 5,5 Prozent. Geht es nach dieser Fehlertoleranz, liegt die natürlich längst  vom Verfassungsschutz des Landes beobachtete Tillschneider-Partei bereits seit Dezember deutlich und stabil vor der Union - ein Umstand, der aber hinhaltend ignoriert wird, um kein schlafendes Stimmvieh zu wecken. 

Der Wahlkampf, pandemiebedingt eher Wille und Vorstellung als reales Geschehen, kreist im Land der Roten Laterne vor allem ums große Geldausgeben. Die Parteien wetteifern um die schönsten Ideen, Geld, das nicht da ist, in Wolkenkuckucksheime zu investieren, die sie zumeist selbst gerade erst abgerissen haben. Auf einmal sollen überall wieder wohnortnahe Schulen sein, auf einmal können nicht genug Polizisten eingestellt werden, auf einmal wird alles grün und nachhaltig und aus Wasserstoff mit Dorfladen nachhaltig transformiert in eine "Bürger*Innenpolizei" (Grüne).

Fest steht nur, wie es weitergeht

Niemanden interessiert das. Kein Mensch hört dem rituellen Chor der Wahlkampfimitatoren zu, die sich selbstverständlich heute schon einig sind, wie es nach der Wahl weitergehen wird. Je nach dem, wie viele demokratische Parteien es braucht, eine neue Landesregierung zu bilden, wird es eben Jamaika, Kenia, Mosambik oder auch Ghana, Vanautu oder St. Kitts&Nevis oder Simbabwe werden. Was genau, wird ein Abend großer Überraschungen für alle zeigen, die beste Chancen haben, aus allen Wolken zu fallen.

Donnerstag, 27. Mai 2021

Streit mit der Schweiz: Verheerende Folgen falschen Volkswillens

Noch lebt die Schweiz von ihren offenen Grenzen, bald könnte es damit aber vorüber sein.

Sieben Jahre ist es her, dass die EU-Kommission die Schweiz streng ermahnen musste: Wer eine Volksabstimmung zur Masseneinwanderung abhält und sich dann auch noch bereit erklärt, das zweifelhafte Ergebnis zur Grundlage seiner umstrittenen Politik zu machen, der muss Konsequenzen befürchten. Direkt nach dem falschen Schweizer Votum zur Begrenzung der Zuwanderung setzte die EU-Kommission alle Gespräche über einen grenzüberschreitenden Stromhandel mit der Eidgenossenschaft aus, um ein Zeichen zu setzen. 

Die Schweiz habe sich mit dem rechtspopulistischen, antieuropäischen und desintegrativen Votum gegen eine Masseneinwanderung außerhalb der Partei- und Wertegemeinschaft der Union gestellt. "Das weitere Vorgehen muss im größeren Kontext der bilateralen Beziehungen analysiert werden". Fakt sei aber bereits, dass die EU auch ohne die Schweiz leben könne. Ob die Schweiz aber ohne die EU könne, werde sich erst noch zeigen.

Sieben Jahre wurde anschließend versucht, die unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten auf die lange Bank geschoben. Eine echte europäische Lösung also, mit der klug die offensichtliche Unmöglichkeit umschifft wurde, zwischen zwei unvereinbaren Positionen einen Kompromiss zu finden. Hier die EU, die vom Nicht-Mitglied Schweiz eine Einhaltung des Freizügigkeitsabkommen von 1999 fordert, dass die Schweizer  ihrer Regierung eben ausdrücklich aufgetragen hatten zu kündigen. 

Sieben Jahre retteten sich beide Seiten vor dem Eingeständnis der offenkundigen Unmöglichkeit einer Vereinbarung, indem sie immer weiter und weiter verhandelten. Jetzt aber ließ die Schweiz das Rahmenabkommen platzen: Die EU war ihr keinen Schritt entgegengekommen, um keinen Präzendenzfall für "Rosinenpickerei" zu schaffen, wie es der frühere Europa-Politiker Martin Schulz in seinen großen Tagen warnend genannt hatte. Die Schweiz wiederum war an die Ergebnisse der Volksabstimmung von 2014 gebunden.

Nach den Briten, die aus der EU austraten, um so etwas wie die Schweiz zu werden, stehen nun auch die Beziehungen der EU zur Schweiz vor dem Aus. Vom Anspruch, nicht nur für sich selbst und seine Mitgliedsstaaten Recht zu setzen, sondern die eigene, vor allem wirtschaftliche Macht als Absatzmarkt auch zu nutzen, Staaten ringsum mitzuregieren, kann die EU nicht abrücken - plant sie doch gerade mit den großen Klimagesetzen eine Ausweitung dieser Praxis: Wer künftig in die EU liefert, soll daheim in Afrika, in Asien und Lateinamerika EU-Vorschriften beachten, EU-CO2-Ziele erreichen helfen und nur Lieferketten betreiben dürfen, die EU-Standards erfüllen.

Wer nicht mitmacht, ist draußen, ihm bleibt der EU-Markt verschlossen - wie jetzt bald schon der Schweiz. Die sei selbst schuld, denn die umstrittene Volksabstimmung zur Masseneinwanderung hätte nie stattfinden dürfen, sagt Franz Zachmann. Der Exil-Schweizer, der als Kunstschaffender in Mecklenburg lebt,  hat den Populismus der angeblichen Meinungsfreiheit in der Schweiz von Anfang an kritisiert. Volksbegehren, die sich gegen Einwanderung wenden, könnten fast überall in Europa von vornherein mit einer hohen Zustimmungsquote rechnen, war er früh überzeugt. Wird tatsächlich abgestimmt, sei daher der Weg bis zum Erreichen einer Mehrheit kurz. Dann stehe man da mit "unschönen Ergebnissen".

 
Franz Zachmann, 59 und selbst bekennender Demokrat, hält es für einen "fatalen Grundfehler", die Volksabstimmung zur Masseneinwanderung überhaupt zugelassen zu haben. Zum Glück sei so etwas in der EU ausgeschlossen", sagt er. Das rühre wohl auch von den Beobachtungen her, die der große Zentralstaat nebenan bei dieser typisch schweizerischen Art der Mitbestimmung immer wieder gemacht habe. Nach dem Scheitern der Verhandlungen helfe nun nur noch eine harte Linie gegen die Schweizer Abnabelung.

 
PPQ: Volksabstimmung gegen Masseneinwanderung - darüber waren von Anfang an viele empört, denn das ist doch schon von der Bezeichnung her ein Fall für den Verfassungsschutz. Wie kann es sein, dass so etwas in ihrer Heimat möglich wurde?

Zachmann: Viele fortschrittlich und demokratisch denkende Schweizer, die sich als Europäer sehen, haben das auch gedacht. Und doch ist es so gekommen. Für mich ist meine Heimat erstmal gestorben. Ich werde nicht mehr nach Luzern oder Bern fahren. Und im Fernsehen schaue ich mir Filme oder Shows aus der Schweiz auch nicht an. Höchstens Nachrichten. Mich interessiert, wie es dort nun abwärts gehen wird - die EU hat ja schon seit geraumer Zeit ein Handelsverbot für Schweizer Aktien verhängt, anfangs eine Sanktion, die erzieherische Funktion haben sollte. Nun wird das sicher ausgeweitet. Ich bin gespannt.

PPQ: Fürchten Sie als Schweizer persönliche Konsequenzen? Ausländerfeindlichkeit, vielleicht eine Ausweisung?

Zachmann: Ich bin inzwischen sicherheitshalber mit einer Deutschen verheiratet, da sehe ich im Moment also keine große Gefahr. Aber fest steht, dass die schweizerische Demokratie missbraucht worden ist und die Abstimmung als PR-Instrument für eine andere Schweiz genutzt wurde, die unserem europäischen Verständnis von Freiheit und Freizügigkeit widerspricht.

PPQ: Was stört Sie besonders?

Zachmann:
Die Naivität der Schweizer Regierung schauen. Ein so wichtiges Ereignis hätte niemals von einem völlig unbekannten Bürgerwillen abhängig gemacht werden dürfen - in einem Land, wo ohnehin jeder denkt, er könne mitbestimmen und sich dabei sogar dem rechtsstaatlichen Prinzip verweigert, dass es Verträge mit anderen Staaten gibt. Haben Sie hier in Deutschland jemals eine Volksabstimmung gemacht, als mit der europäischen Einigung ernst wurde? Nein, und das war gut so. Sonst wären Sie doch heute nicht dort, wo Sie sind.

PPQ: Zuletzt stand vor allem die Diskriminierung von Einwanderern aus Europa zwischen den beiden Verhandlungspartnern. Die Schweiz fürchtet die Einwanderung in ihr Sozialsystem und eine Bedrohung der nationalen Identität, weil die Entwicklung des Ausländeranteils von 14,1 Prozent im Jahre 1980 auf 23,2 Prozent im Jahre 2013 irrationale Ängste vor einer ausländischen Bevölkerungsmehrheit für das Jahr 2062 geweckt hatte. Wie realistisch ist das?

Zachmann: Das ist purer Populismus. Niemand kann heute schon wissen, was 2030, 2045, 2050 oder 2062 sein wird. Probleme, die es dann gibt, können wir nicht heute lösen! Die Schweizer Medien haben hier einfach nicht genug gewarnt, die deutschen haben mehr gehofft als aufgeklärt und sie werden in der Schweiz auch leider wenig gelesen.

 
PPQ: Der Abbruch der Verhandlungen hat nun nicht etwa zu einem großen Aufschrei geführt, jedenfalls kein so großer, wie damals der gegen das antieuropäische Abstimmungsergebnis. Hat Europa die Schweiz aufgegeben?

Zachmann: Ich fürchte es fast. Schon diese Börsensanktionen, eine Maßnahme, die im Normalfall gegen oder durch diktatorische Regime verhängt wird, die USA machen zum Beispiel so was mit China, fand ja öffentlich keinerlei Aufmerksamkeit. In der Schweiz sagen sich die Leute natürlich, wir haben die Hitlerzeit auf eigene Faust durchgestanden, den Kalten Krieg, all das, jetzt fangen wir nicht an, uns der EU zu unterwerfen. Aber dass sie in Brüssel für Mitbestimmung sind, aber gegen solche Ergebnisse, die Europa weit zurückwerfen, ist doch auch klar. Ein so großer Kontinent, der nicht mal eine Sprache spricht, keine gemeinsame Öffentlichkeit hat und abgesehen vom Geld auch kaum gemeinsame Interessen, der muss von oben regiert werden, im Grunde nach russischem Vorbild. Die Erwartung, dass  durch solche populistischen Mitbestimmungsaktionen ein Gemeinschaftsgefühl aufkommt, ist naiv. Kein Land ist durch so eine Veranstaltung je freier geworden. Das ist eine Illusion, die uns die Feinde unserer Ordnung verkaufen wollen.

PPQ:
Bundespräsident Joachim Gauck hat damals nach dem falschen Abstimmungsergebnis einen Besuch in der die Schweiz abgesagt und stattdessen ist er demonstrativ nach Indien gefahren, in die größte Demokratie der Welt, in der die Grundrechte aller Menschen noch uneingeschränkt respektiert werden. Im Rückblick gesehen eine starke Geste, die aber erfolglos geblieben ist. Sollten andere Politiker seinem Beispiel jetzt folgen?

Zachmann:
Mit Namen und Hausnummer: Ja, konkret muss Europa darauf dringen, dass Joe Biden und Wladimir Putin die Eigensinnigkeit der Eidgenossenschaft mit ihrem geplanten Treffen in Genf nicht noch aufwerten. Das fände ich fände gut. Es ist wahrscheinlich für keinen Politiker eine gute Idee, jetzt in die Schweiz zu fahren. Alle, die es doch tun, sollten aufpassen, nicht zur Staffage für ein Regime zu werden, das die unbedingte Mitbestimmung durch direkte Demokratie höher wichtet als einen Konsens unter Demokraten, wie er in EU-Europa zum Glück die Regel ist.

 

Liebe Annalena: Brief einer alleinerziehenden Verkäuferin und Mutter aus Sachsen

Sybille T. (r.) und ihre Tochter Imken (l.) sind allerbestebeste Freundinnen.
 Sehr geehrte Frau Baerbock, liebe Annalena,

ich wende mich mit einem Anliegen an Sie, von Mutter zu Mutter, das mir seit Tagen auf den Nägeln brennt. In der vergangenen Woche las ich im Internet von ihren Schwierigkeiten mit ihrem Studienabschluss und den Missverständnissen bei der Einordnung ihres Bildungsweges. 

Wir hier im Osten kennen das, auch meine Mutter hatte nach der Wende Probleme, ihre DDR-Abschlüsse anerkennen zu lassen. Mein Vater war auch betroffen, sein Bootsführerschein galt nicht mehr, er musste ihn später noch einmal ablegen. Ich selbst bin als junge Frau zum Glück gleich richtig ausgebildet worden, meine Eltern achteten sehr darauf, obwohl sie damals schon getrennt waren. Lerne etwas Richtiges, schrieben Sie mir uns Stammbuch, und das habe ich dann auch getan.  

Bis meine Tochter zur Welt kam, habe ich immer gearbeitet, nicht immer im erlernten Beruf, aber das kennen Sie ja auch. Man muss flexibel sein, und das bin ich! Nach der Trennung vom Vater meiner Tochter, die nicht leicht war und schon gar nicht ohne Probleme ablief, galt das nur umso mehr. Aber wer sich anstrengt und einsatzbereit ist, gern Neues lernt und nicht immer gleich auf die Uhr schaut, findet seinen Platz.

Ich konnte meiner Tochter so, auch dank der sozialpolitischen Maßnahmen der Regierung, immer ein anständiges Zuhause bieten. Wir konnten uns nicht immer alles leisten, aber ein Urlaub in Bulgarien oder Spanien war auch drin. Doch natürlich möchte ich, dass es meiner Tochter, sie ist jetzt 17 und sie wird noch in diesem Jahr 18, einmal besser hat. 

Imken macht Abitur und wir beide wünschen uns, dass sie danach studieren kann. Gern würde ich es sehen, und sie selbst träumt auch davon, dass Imken während ihres Studium auch ein Auslandssemester absolviert. Das muss nicht in Australien oder Kanada sein, Großbritannien oder Schweden würden auch reichen - Imken möchte einmal Soziologin werden, um uns allen besser verstehen zu helfen, was in der Gesellschaft vor sich geht, was vielleicht noch nicht optimal läuft und wie man helfen kann, dass es besser wird. 

Sie ahnen nun vielleicht schon, um was ich Sie bitten möchte. Zwar ist es noch eine ganze Zeit hin, bis meine Tochter mit dem Studium beginnen wird und noch länger wird es dauern, bis die Frage nach dem oder den Auslandssemestern akut auf uns zukommt. Nachdem ich aber gelesen habe, wie Sie ihre Studienzeit in London gemeistert haben, dachte ich, ich frage einfach mal, ob Sie uns nicht einen Tipp geben können, jetzt schon, vielleicht, ehe ganz viele andere diese Bitte an Sie herantragen. 

Denn sehen Sie, als alleinerziehende Mutter, die nur ganz normal verdient, habe ich kaum Hoffnung, meiner Imken einen Studienplatz im Ausland finanzieren zu können. ich habe über die Jahre ein wenig Geld zurückgelegt, denn wir haben nie auf großem Fuß gelebt oder das Geld mit vollen Händen aus dem Fenster geworfen. Aber mit meinem kleinen Gehalt als kleine Angestellte hier in Mittweida wird eine Studiengebühr von 30.000 Euro einfach nicht zu finanzieren sein. Das Mädchen muss ja auch noch essen und schlafen irgendwo! Auch meine Eltern können da nicht wirklich helfen, denn sie sind beide Rentner, gut versorgt, aber ohne dass große Sprünge drin sind. Das Bafög, das meiner Tochter zusteht, wird allein aber auch nicht langen, das haben wir beide schon ausgerechnet. 

Ich las nun, dass Sie damals einfach in einer Fabrik gearbeitet haben, um ihr Studium zu finanzieren. Schlecht verdient haben Sie da nicht, denn selbst die 11.000 Euro, die Sie damals bezahlen mussten, reichen ja allein nicht, wenn man dort studieren will, mit Essen, Übernachtung und grüner Mobilität.

Wir haben nach den korrigierten Angaben einer Newsseite ausgerechnet, dass Sie damals ungefähr 20.000 bis 25.000 mit ihrem Ferienjob verdient haben. Imken findet das gar nicht so schlecht. Das wäre auch das, wozu Imken jederzeit bereit wäre - in den Semesterferien jobben, gern auch bei schwerer Arbeit oder in Schichten. Wenn dabei genug Geld hereinkommt, damit es für das nächste Semester reicht, wäre das topp! Wir wollen uns auf keinen Fall denen anschließen, die nur darüber jammern, dass es immer härter wird im Gesundheits-, Renten- und Bildungswesen, dass die ländliche Infrastruktur zurückgebaut oder privatisiert wird und sich zur dauerhaften Krise des Kapitalismus nun auch noch die Coronapandemie dazugesellt. 

Wir glauben fest an das grüne Aufsstiegsversprechen vom Klimawohlstand für alle, die sich anstrengen! Und Imken wäre sich wie Sie damals nicht zu schade für ein prekäre Arbeitsverhältnisse wie Zeit- oder Saisonarbeit. Was wir uns sehnlichst von Ihnen erbitten, wäre also nur ein kleiner Tipp, bei welcher Fabrik sich Imken bewerben müsste, um dann in den Semesterferien ähnlich wie Sie die 30.000 oder 40.000 Euro zu verdienen, mit denen ihr Studium gesichert wäre. 

Es müsste vielleicht nicht einmal ganz so viel sein, denn Imken lebt sehr bescheiden, sie hat kaum Sonderwünsche, ihr Handy ist relativ neu und wird noch eine Weile halten. Ich als Mutter würde natürlich sowieso immer zuschießen, soweit es möglich ist. Auch der leibliche Vater, der sich leider nur wenig bekümmert, würde eventuell mithelfen, er hat ja viele Jahre nicht gezahlt und dadurch eine Menge gespart.

Mittwoch, 26. Mai 2021

Blutmond, Supermond: Märchen vom Mond

Unsichtbar für das menschliche Augen, Lebenselixier für deutsche Medien: Der Super-, Supervoll- oder auch Blutmond.

Vor 20 Jahren gab es ihn noch nicht, vor zehn Jahren wurde er erfunden, mitten in den der Finanzkrise, eine kosmische Innovation aus dem englischsprachigen Ausland, die bis heute keine Spuren in der deutschen Fachliteratur hinterlassen hat. Doch aus den Medien ist das vermeintliche Naturphänomen des "Blutmondes", zuweilen auch einfach und schlicht "Supermond" oder "Supervollmond" genannt, einfach nicht mehr wegzudenken. Alle Tage wieder macht der Erdbegleiter Schlagzeilen, denn alle Tage wieder komme er "der Erde so nahe wie nur sehr selten", wie es in einem Standarderklärstück heißt, das in immer kürzeren Abständen erläutert, wie unfassbar selten und einmalig das Blutmond-Phänomen wirklich ist.  

Immer für lange Zeit das letzte Mal

Immer ist es für lange Zeit das letzte Mal, immer kommt der Mond der Erde so nahe, dass er Beobachtern "fast 30 Prozent heller" und "nahezu 20 Prozent größer" (DPA) erscheint. Und immer liegt die Ursache schlicht im Umstand, dass der Erdsatellit durch seinen niedrigen Stand am Himmel hinter Häusern oder Bäume hervorschimmert und deshalb vom menschlichen Gehirn für näher gehalten wird als er wirklich ist. Der Effekt ist simpel und bei jeder Fotografie mit Teleobjektiv zu beobachten: Die lange Brennweite zieht Objekte, die sich hintereinander und zugleich weit voneinander entfernt befinden, optisch zusammen, der Abstand zwischen vorn und hinten schrumpft, zumindest scheint er zu schrumpfen.

Dass der Mond der Erde bei seinem vielbeachteten Auftritten als "Supermond" oder "Blutmond" gelegentlich "20 Kilometer näher als im Jahr zuvor" (dpa) kommt, spielt dabei keinerlei Rolle: Bei einer durchschnittlichen Entfernung zwischen beiden Himmelskörpern von 384.400 Kilometern entsprechen 20 Kilometer gerade einmal 0.005 Prozent mehr Nähe. 

Das menschliche Auge sieht gar nichts

Für das unbewaffnete menschliche Auge ist der Unterschied so genau zu erkennen wie ein Corona-Virus auf dem Führungsgriff eines Einkaufswagens. Doch medial ist der "Supervollmond" eben ein Supererfolg. Seit seiner Ersterwähnung im Jahr 2011, damals noch bescheiden "Supermond" genannt, gilt der inzwischen konsequent als "Supervollmond" und "Blutmond" geführte Gelegenheitsmond abwechselnd als "alles überstrahlender Pfannkuchen" oder Ursache für ein "Strahlen um die ganze Welt" (FAZ), als "Himmelsspektakel" oder als Auslöser für "Deutschland sucht den Supermond" (Spiegel).

Das zündet auch schräge Fantasien an und es motiviert nicht nur die allgegenwärtigen Klickbait-Kompanien der Prekärpresse zu hochfrequenten Berichten selbst über die optischen Reize von Mondfinsternissen, die "hierzulande nicht sichtbar" (News.de) sind. Verschwörungstheoretiker verbinden mit der gelegentlichen Annäherung des Mondes an sein Perigäum, also den Punkt der größten Erdnähe, sogar komplexe Mondmärchen eigener Art. Danach bedrohen die "Wettläufe" (RND) von Russland, China und den USA zum Trabanten die verbliebenen Reste der freien Welt. Denn wenn erst die Diktaturen eine Mondstation hätten, könnte "der Blick zum Mond erstmals in der Menschheits­geschichte etwas Bedrückendes und Einschüchterndes bekommen: Er brächte den Erdenbürgern eine allabendliche Erinnerung an Macht und Möglichkeiten der dort schaltenden und waltenden unfreien Systeme."

Schrumpfende Supervollmonde

Was aber macht Europa? Nach dem immerhin ein Mond benannt ist, wenn auch nur einer, der den Jupiter umkreist? Europa produziert wahre Schlagzeilenlawinen zum Thema. Das klickt immer wieder gut, ganz egal, wie oft  die Nummer gezogen wird. Vom "Minimond" hingegen, den es wie den "Riesenmond" ebenfalls einmal aller dreizehn Monate gibt, wenn der Mond sich in seinem Apogäum am weitesten von der Erde entfernt hat, liest man nie. Sonst wäre inzwischen wohl jedermann bekannt, dass die Tage des Supervollmondes gezählt sind, weil er sich nach und nach in einen Minimond verwandeln wird: Seit Jahrmillionen schon entfernt sich der Mond ganz allmählich von der Erde - um durchschnittlich 3,8 Zentimeter pro Jahr. Jeder "Supervollmond" von heute ist damit  größer als der Supervollmond in 100 oder 1.000 oder 10.000 Jahren.

Klima im Korsett: Nation an der Grenze

 

Eigentlich gilt er auch emotional als würdiger Nachfolger seines Vorgängers Wolfgang Böhmer, dessen Ruf als Strickjacke unter den Ministerpräsidenten legendär war. Reiner Haseloff, nach langer Ausbildung in der Verwaltung und im Wirtschaftsministerium nachgerückt, nachdem er den Markt für illegale Glücksspiele im Handstreich ausgetrocknet hatte, ist der Hauslatsch zur gemütlichen  Böhmerjacke, ein Mann, der manchmal murrig Widerworte gibt, selbst der Kanzlerin. Aber dann doch mitmacht, weil es einer schließlich immer machen muss.

Widerworte nach Berlin

Dass der Wittenberger die Nerven verliert, kommt nicht vor. Auch nach acht Jahren im Amt hat Haseloff nahezu sämtlich Ziele verfehlt, die er hatte erreichen wollen. Doch nach einer letzten Legislaturperiode, die gemeinsam mit Rot und Grün durchregiert wurde, um den Angriff der Blauen auf die Demokratie anzuwehren, gilt es in Magdeburg schon als Erfolg, überhaupt noch im Amt zu sein. Erst im letzten Herbst hatte Haseloff seinen Parteichef und designierten Nachfolger enterben müssen, damit das gelang. Jetzt tritt er selbst noch einmal an, mit 67 im besten Renteneintrittsalter. Aber wer sonst sollte es tun. Sachsen-Anhalt hat doch nur noch knapp 2,2 Millionen Einwohnerinnen.

Dass Reiner Haseloff schwant, was in den kommenden vier Jahren auf ihn zukommt, hat der meistenteils trocken und unangefasst wirkende Katholik jetzt in einer dreiminütigen Suada erkennen lassen. Formell ging es nur um die Fertigstellung des letzten Teilstücks einer mehr oder weniger bedeutungslosen Autobahn in Ostdeutschland, die nach drei Jahrzehnten irgendwann befahrungsreif sein wird, wenig später aber vermutlich schon wieder zur Generalsanierung ansteht. 

Vulkanischer Ausbruch

Geradezu vulkanisch aber brach bei dieser Gelegenheit aus Reiner Haseloff heraus, was dem in allen Verwaltungsebenen geübten Christdemokraten augenscheinlich dieselben schweren Zukunftssorgen bereitet: Es passt alles nicht zusammen, es mutet alles hanebüchen an, der Klimasprint ins Paradies, angestrebt in einem Bruchteil der Zeit, die es in Deutschland allein braucht, einen Gartenzaun zu planen.

Haseloff hat die gleichen Bedenken. Nur mit Hilfe des Verkehrsbeschleunigungsgesetzes aus den Nachwendejahren sei es überhaupt möglich gewesen, so schnell zu bauen, dass das heute eine Autobahn wie die A14 vorhanden sei, deren langsame Fertigstellung allseits beklagt werden könne. Denn ohne Beschleunigungsgesetz, das zeigten andere Autobahnprojekte, gehe alles noch viel langsamer voran. Haseloffs Leiden: Dumemrweise sei die Praxis der Beschleunigungsgesetze trotzdem nicht auf ganz Deutschland ausgedehnt worden, sondern man habe den Osten ins selbe Genehmigungskorsett gezwängt wie den Westen.

Durch alle Instanzen klagen

Wir sehen den Unterschied", schimpft Haseloff, "wie lange wir uns durch alle Instanzen klagen". Währenddessen stiegen jedes Jahr die Baukosten und am Ende könne niemand mehr neue Straßen oder andere Teile der Infrastruktur bezahlen. Wenn man mit den entsprechenden Kosten plane, und es dauere zehn Jahre bis zum Bau, ja und dann wird es noch doppelt so teuer wie dreimal so teuer."

Unzweifelhaft hat Reiner Haseloff Angst vor der Zukunft, die ihm deutlich vor Augen steht. Spätestens mit dem neuen Klimagesetz, das für die nachfolgenden Regierungen und Parlament in Deutschland jede Menge großer Ziele formuliert, ohne Hinweise auf mögliche Wege dorthin zu geben, geht es nicht um die deutsche Unfähigkeit, eine Autobahn, einen Flughafen oder eine Fabrik zu bauen. "Wir werden die Energiewende und die Klimaziele nur erreichen, wenn wir diese Gesetzlichkeiten ändern."

Das deutsche Schnell

Er selbst habe vor zehn Jahren am Atomausstiegsbeschluss mitgearbeitet und er erinnere sich, wie "wir uns klar ins Stammbuch geschrieben haben, auch mit der Bundesregierung, das können wir nur machen, wenn wir die Alternativen neu bauen einschließlich Stromtrassen von Offshoreanlagen im Norden nach Süden, wo die Atomkraftwerke stehen". Man habe damals gewusst, dass wir "schnell fertig werden" müsse, er sehe aber heute "wir hängen heute Jahre hinterher."

Reiner Haseloff schwant eine schwierige nächste Amtszeit. Während die Kanzlerin aus dem Amt scheidet, fürchtet ihr sachsen-anhaltischer Parteifreund offenbar, noch während seiner nächsten Amtsperiode für die Folgen einer überhasteten, ungeplanten und unausgegorenen Energieausstiegspolitik haftbar gemacht zu werden. "Wir werden sozusagen als als Nation an die Grenze dessen kommen, was wir überhaupt noch ertragen wollen", warnt er angesichts eine fortschreitenden Verfalls der Infrastruktur. "Wenn mir das Klima retten wollen, müssen wir mit den gleichen Leuten, die die Energiewende vorangebracht haben, darüber reden, dass wir es nur schaffen können, indem wir bestimmte Dinge, die sich entwickelt haben in der Bundesrepublik, dass wir die optimieren", schachtelsatzt er.

Sorgen und Angst

Haseloff hat Sorgen, große Sorgen. "Wir werden die Energieziele nicht erreichen, da können wir Wasserstoffstrategien machen, wie wir wollen." Wenn Deutschland nicht schneller werde und "Instanzen möglicherweise eindampfe" oder Fristen verkürze und "dann das Projekt durchziehen" und nicht jeden einzelnen Schritt sozusagen beklagen lasse. Das sei notwendig "zur Rettung des Planeten" (Haseloff), denn so, wie "wir momentan unterwegs sind, schaffen wir es nicht."

Noch laufe zwar alles im "Korsett dieser alten Bundesrepublik" und so lange es gut laufe, sei alles in Ordnung. Doch Reiner Haseloff sieht sie schon kommen, die "Versorgungsprobleme in den nächsten Jahren", wenn "wir dort nicht schon noch nach vorne kommen". Skepsis ist angebracht, ebenso die Hoffnung auf eine Genesung der Welt nach deutschen Vorbild. "Wenn wir nicht mal, um die Welt zu retten, praktisch eine Stromtrasse über den Thüringer Wald hinbekommen, dann brauchen wir keine Verträge mehr abzuschließen, ob in Paris oder in Rio oder sonstwo", schimpft Reiner Haseloff: "Dann bleiben wir im Prinzip nur Sprechblase."