Dienstag, 10. September 2024

Meisterwerkstatt Manipulation: Dass sich die Balken biegen

Alle demokratischen Balken sind bei Tina Hassels "Bericht aus Berlin" deutlich höher als die der Frauen und Männer, die vorhaben, Schluss mit Gender Studies zu machen.


Können kommt von Wollen, und wer guten Geistes würde in diesen Zeiten nicht wollen, dass der Rechtsrutsch zurückrutscht. All die Warnsendungen, die Enthüllungsreportagen und Operationen zum Maskevomgesichtziehen haben nur wenig Effekt gehabt. 

Ob die jüngsten populistischen Manöver der Bundesinnenministerin zur Umsetzung des Pegida-Forderungskataloges vom Oktober 2015 samt der ultimativ verlangten "Ausschöpfung und Umsetzung der vorhandenen Gesetze zum Thema Asyl und Abschiebung" noch kurzfristig vor der Schicksalswahl im roten Brandenburg ausreichend greifen, weiß niemand. Der Rechtsextreme, der damit angesprochen werden soll, ist ein schwer handhabbarer Mensch. Oft glaubt er nicht einmal, was versprochen wird.

Demokratiefördernde Inszenierung

Doch da sind ja aber immer noch die Meisterwerkstätten für Mediale Manipulation (MMM), eine demokratiefördernde Institution, die beim ZDF zuerst eingeführt wurde und nach den ersten beruhigenden Erfolgen in der Corona-Zeit in der ARD schnell Nachahmer fand. Trotz allem, was dort an kreativer Wirklichkeitsinterpretation geleistet wurde, gilt allerdings das Zweite Deutsche Fernsehen bis heute als führend bei der Umdeutung der Realität in ein passgenaues Werkzeug zur Verwandlung von Meinungen in Fakten und Daten in Waffen für den propagandistischen Abwehrkampf an der Brandmauer.

Im Wahrheitsmuseum im kleinen brandenburgischen Städtchen Wellenborn sind die besten Stücke der wunderbaren nachholenden Erzeugung von veritas ausgestellt, wie Wissenschaftler die Verwandlung von Verschwörungstheorien und Hassbotschaften in Regierungshandeln nennen. Im politisch-medialen Berlin, einem Reich von ganz eigenem Recht, in dem aus unabhängigen Journalisten über Nacht Regierungssprecher werden und aus Regierungssprechern unabhängige Journalisten, arbeiten hochqualifizierte Grafikkosmetiker allerdings Tag und Nacht daran, den Strom aus postfaktischen Versehen nicht abreißen zu lassen. 

Maßgeschneiderte Manipulation

Der "Bericht aus Berlin", eine der großen Adressen der Unterhaltungsindustrie in Deutschland, hat jetzt wieder gezeigt, zu welchen Großtaten auch das von Szenekennern so lange belächelte ehemalige "Erste" im Bereich der maßgeschneiderten Manipulation fähig ist. Weniger ist nicht nur mehr in der von Tina Hassel direkt aus der Fankurve des Fortschritts moderierten Sendung

Mehr ist hier zugleich auch weniger. Nach dem Vorbild des SWR, der dem trotz der "größten Demonstrationen in Deutschland" (Annalena Baerbock) erstarkenden Rechtsextremismus per Grafikkosmetik in die Parade fuhr, löste der Bericht aus Berlin für eine ähnliche Umfragegrafik ganz einfach Zahlen von Balkenlängen. Problem gelöst.

15 Prozent waren nun deutlich mehr als 17, selbst elf Prozent lugen noch deutlich über die vermaledeiten Stimmenerträge hinaus, die knappe zwei Wochen vor der Brandenburg-Wahl bundesweit auf die Partei entfallen, die im November 2017 rechtswidrige und europarechtsfeindliche Forderungen nach sofortigen Kontrollen an allen Grenzen gefordert hatte, weil eine angeblich "permanente illegale Zuwanderung" nur deshalb stattfinde, "weil die Bundesregierung die Staatsgrenzen nicht vollständig kontrolliert und auch die rechtlichen Möglichkeiten der Zurückweisung bei Übertritt aus einem sicheren Nachbarstaat nicht vollständig ausschöpft".

Große Mehrheit gegen Grenzkontrollen

Der Deutsche Bundestag zeigte Gesicht und wies das Ansinnen mit großer Mehrheit zurück. Immer noch aber versucht die Partei, mit diesem angeblich rechtssicher anwendbaren Mittel Punkte bei der Bevölkerung zu machen. Das aber zielt weniger auf den Schutz vor Geflüchteten, gegen die Ampelfraktionen Asylrechtsverschärfungen jetzt geradezu "durchs Parlament peitschen" (Der Spiegel). Sondern auf Wahlergebnisse.

Dem aber hat der "Bericht aus Berlin" unter kluger Leitung von Tina Hassel einen Strich durch die Rechnung gemacht. Zuschauende, die nur einen kurzen Blick auf die Lage werfen wollten, konnten sich beruhigt zurücklehnen. Alle demokratischen Balken waren deutlich höher als die der Frauen und Männer, die vorhaben, Schluss mit Gender Studies zu machen, weniger Studierende aus dem Ausland aufzunehmen, "die linksalternative Blase, in der alle versuchen, zu gendern und sich vegan oder zumindest vegetarisch zu ernähren" (Spiegel) platzen zu lassen, um stattdessen das Vierte Reich zu errichten. Die Botschaft ist klar: Wer jetzt bei den Siegern sein will, kann auch demokratisch wählen.

Kamala Harris: Wahlkampf einer Wundertüte

Die wichtigsten Voraussetzungen bringt Kamala Harris mit: Sie ist kompetent, schlagfertig und nicht weiß.

Sie bringt alles mit, was es braucht. Kamala Harris ist kompetent, sie ist schlagfertig und vor allem ist sie nicht weiß. Dazu kommt ihr Vorleben in Kalifornien, einem US-Bundesstaat, der aus deutscher Sicht auch zwischen NRW und Baden-Württemberg liegen könnte. Sie ist Demokratin, wurde von Joe Biden selbst empfohlen und obwohl sie bis dahin bei den US-Bürgern kaum beliebter war als der deutsche Gesundheitsminister, gelang ihr beinahe über Nacht der Aufstieg zum Medienliebling.

Liebling Kreuzberg

Kamala Harris, ganze Regimenter an Lobpreisern haben sich die Hände wund geschrieben mit diesem Lob, verspricht vier glückliche und friedliche Jahre für die Welt. Die bisher so unauffällig agierende Vizepräsidentin hatte ihre erste Legislaturperiode im Weißen Haus genutzt, Kraft zu sparen, von der sich herausgestellte, dass sie im Übermaß darüber verfügt. Selbst die Mukongo waren erstaunt: Wie hatte dieses Naturtalent aus reinem Charisma so lange unter dem Radar fliegen können? Wem waren dieses Übermaß an Charme, die überragende Intelligenz und die Fähigkeit zum inneren Leuchten entgangen? Und warum allen?

Wieder schreibt Kamala Harris Geschichte. Abgesehen von Napoleon Bonaparte ist noch kein politischer Hauptdarsteller gleich zweimal im Leben zum Hoffnungsträger einer besseren viel Welt geworden. Dass das Harris-Phänomen in Deutschland noch deutlich größer ausgefallen ist als im Heimatland der Überraschungskandidatin, verdankt sich allerdings weniger der Liebe der Deutschen zu einer Frau, der nachgesagt wird, sie könne "Momente roher politischer Elektrizität" (NPR) heraufbeschwören, als der tiefsitzenden Abneigung gegenüber dem anderen Kandidaten.

Die Reinkarnation Hitlers

Seit er erste Ambitionen auf den Stuhl im Weißen Haus erkennen ließ, spielt Donald Trump in den deutschen Medien die Rolle des Antichristen, des "Irren" (FR), "Hasspredigers" (Steinmeier), "Wahnsinnigen" (Spiegel). Der Hauptfeind aller linksschaffenden Kommentatoren stand vor Jahre lang in Washington, dort regierte der Vernichter allen Lebens im Kosmos, der Köpfer der Demokratie und Verräter Amerikas an die Russen. Eine Reinkarnation Hitlers mindestens, befreundet mit Putin, in dessen Sold er stand.

Joe Biden schaffte es, dass die Anständigen sich noch im Juli hinter ihm versammelten wie SPD hinter Olaf Scholz.  Er saß "fest im Sattel", wie Elmar Theveßen kurz vor erzwungenen Rückzug des greisen Präsidenten aus Washington kabelte. Und das erlaubte ihm, seine Nachfolge genau so selbst zu regeln, wie es jeder deutsche Ministerpräsident tut: Biden ernannte Kamala Harris. Schon Stunden später kannte der Jubel keine Grenzen mehr.

Stille um die Kandidatin

Seitdem allerdings ist es still geworden um die Kandidatin. Harris ist seit sieben Wochen Präsidentschaftskandidatin, ihr Wahlkampf ist mithin in vollem Gange, angetrieben von einer Kamalaphorie, die nicht nach störenden Details fragt. Von den 108 Tagen, die ihr bis zum Wahltag zur Verfügung standen, hat sie mit Stand heute 58 hinter sich gebracht, wohlbehalten und ohne die gute Laune zu vertreiben, die im demokratischen Lager herrscht. Harris reist umher, Harris hält Reden, sie umarmt, eröffnet Ladestationen und besucht LGBTQ-Hochzeitsfeiern. Ihre Botschaft ist Freude, ihre Waffe das laute Lachen und ihre Botschaft ganz einfach: Sie stehe für die Zukunft. Der andere für die Vergangenheit.

Das reichte, um Harris' konkrete Aussagen zu dem, was sie als Präsidentin tun würde, zu ersparen. Die Kandidatin hat bis heute keine einzige Pressekonferenz gegeben und nur ein einziges Interview, das auf eine halbe Stunde begrenzt war und bei dem sie sich von ihrem Vizekandidaten Tim Walz begleiten ließ. Selbst nach den Maßstäben der Moderne, bei denen alle Wahlkampfstrategen es strikt vermeiden, Plakate, Werbevideos oder Kandidatenreden mit inhaltlichen Andeutungen zu belasten, ist das eine neue Qualität. 

Preisbremsen und Baupläne

Harris' Kampagne setzt auf Botschaften wie "Amerika ist stark, wenn die hart arbeitende Mitte stark ist" und auf Versprechen wie "die Lebenshaltungspreise zu senken, ist das wichtigste Ziel meiner Präsidentschaft". Kamala Harris verspricht eine Preisbremse für Lebensmittel und sinkende Preise für Insulin, sie werde drei Millionen Häuser bauen und eine Wirtschaftsordnung errichten, in der jeder im Wettbewerb bestehen könne.

Wie genau, wer das bezahlen wird und wovon, das bleibt im Dunkeln. Harris hat sich bisher nicht zu einer Strategie im Umgang mit dem Ukraine-Krieg geäußert, niemand weiß, wie sie mit China umgehen wird und es gibt nicht einmal Andeutungen dazu, wie eine Harris-Administration sich die Beziehungen zur EU vorstellt. Trotzdem gibt es dazu keine Fragen, keine Zweifel und keine Ängste, Kamala Harris genießt dieselbe Schonung, auf die sich die alte und neue EU-Chefin Ursula von der Leyen im Wahlkampf und seit ihrem Sieg ohne Kandidatur verlassen konnte. 

Siegeszug durch die Schlagzeilen

"Don't ask, don't tell", ein eigentlich verworfenes Konzept, das hier hervorragend funktioniert. Die großen deutschen Medien etwa behelfen sich aus dem Mangel an inhaltlichen Informationen aus dem Lager ihrer Favoritin, indem sie sich kleinteilig den bunten Seiten des Wahlkampfes widmen. Dieser hat Trump die kalte Schulter gezeigt, jene unterstützt nun auch Kamala. Deren Siegeszug bedarf allen Schlagzeilen zufolge nur einer förmlichen Bestätigung am 5. November. Sie ist einfach besser, beliebter, sie hat die schöneren Versprechen, die sicherere Auftreten, die größeren Charme, das ansteckendere Lachen.

Schwindender Sieg

Was soll da noch passieren? Der düstere Wettbewerber ist doch schon "nervös" (Tagesschau), er sieht seinen sicheren Sieg entschwinden. "Kritik kommt von Parteikollegen", die Umfragen, eigentlich schon mal sicher gewonnen, zeigen ein "Kopf an Kopf" und langsam spricht sich auch in den USA herum, dass jeder vor Trump muss Angst haben muss, weil er es unter der Errichtung einer "Diktatur" (ZDF) diesmal nicht machen wird.

Das Rededuell, diesmal das einzige, ist vielleicht schon die letzte Hürde, die Kamala Harris überspringen muss. Sie bringt alles mit, was es braucht, denn sie ist kompetent, schlagfertig und vor allem ist sie nicht weiß und sie muss gar nicht wissen, was sie tun will, wenn sie erst gewonnen hat. Hinter ihr stehen Millionen Berichterstatter, denn es gelingen wird, selbst aus einem nur halbwegs gelungenen Auftritt einen strahlenden Triumph zu machen.

Montag, 9. September 2024

Populismus lernen: Klare Kante für eine neue Mehrheit

Die Lage in der Koalition wie in der SPD gilt als so angespannt, dass Beobachter stündlich damit rechnen, dass Bundeskanzler Olaf Scholz seine klare Botschaft aus dem Dezember 2023 wiederholt.

Er ist der letzte Mann, der noch vor Optimismus sprüht. Gemeinsam mit Saskia Esken, der Genossin, die seinerzeit alles daransetzte, ihn zu verhindern, bildet Bundeskanzler Olaf Scholz eine Brandmauer gegen die Verzagtheit, die seine Partei nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen ergriffen hat. Er rechne fest mit einer zweiten Amtszeit, verteidigt er sich gegen die Realität, die rund um die letzten Trutzburgen im politischen Berlin grassiert. Esken, die die SPD von der Arbeiterpartei umgebaut hat zu einer Funktionärstruppe, sekundiert: Die Regierung "liefere". Scholz sei "der beste Kanzler, den wir je gehabt haben".

PPQ-Kolumnistin Svenja Prantl entwirft ein kühnes Zukunftsprogramm für die Reste der deutschen Sozialdemokratie.

Bester Kanzler im besten Deutschland

Svenja Prantl hat rettende Hinweise für die SPD.
Und das "im besten Deutschland, das es jemals gegeben hat", wo die "Glückskinder in der
Mitte Europas" (Walter Steinmeier) "gut und gerne leben" (Angela Merkel). Was es mehr braucht als Querschüsse aus den eigenen Reihen sind neben einer besseren Kommunikation zur Vermittlung der vielen Erfolg an die Zweifler, Meckerer und Kritikaster draußen im Land in den letzten Monaten der Legislaturperiode vor allem Zeichen, Signale und ermutigende Sprüche. 

Scholz hat es mit haltlosen Versprechen versucht, mit einer Kanonade aus Worthülsen und bevorstehenden Wachstumswundern, mit Entlastungszusagen und Basta-Zusagen. Er hat sich Chefsachen im doppelten Dutzend auf den Schreibtisch gezogen, sich beim Parolenschatz der Rechtsextremen bedient, seiner Innenministerin freie Hand beim Versuch gegeben, das Schengensystem zu unterminieren und seiner Familienministerin Prokura erteilt, um gegen die Grundrechte mobil zu machen. Ausgezahlt hat es sich nicht, denn wie bei einem Kochtopf bleibt die Mitte verglichen mit den Rändern immer zurück.

Generation Parteiarbeiter

Nur noch eine ganz neue Strategie kann die deutsche Sozialdemokratie vor einem Schicksal als erneute Mehrheitsbeschafferin der Union bewahren, ein Schicksal, das sie diesmal dazu verdammen würde, gegen alles anzuregieren, was die im Parteiapparat aufgewachsene Generation der Sozialisten nach Schröder sich in den vergangenen Jahren als historische Mission auferlegt hat. 

Die offenen Grenzen, von Merkel geerbt, aber in den internationalistischen Genen der ältesten deutschen Partei angelegt. Das Bürgergeld auf Augenhöhe mit dem Mindestlohn auf Augenhöhe mit dem, was ein Jungfacharbeiter einstreicht. Die Subventionitis als Volkskrankheit. Das Verlernen des Wortes Subsidiarität. Die Zentralwirtschaft. Der starke Staat, in dem nichts klappt, das aber perfekt und überall.

Niemanden mehr erreichen

Viele gilt es zu überzeugen.
Einen großen Teil, das wissen sie im Willy-Brandt-Haus, wird niemand mehr erreichen. Diese Leute beantworten jede Bitte, doch einen Flyer zu nehmen, mit der Frage, wann das Klimageld nun ausgezahlt werde. Auch die Abgehängten im Osten, aufgewiegelt vom Kreml, scheinen in nur 13 Monaten kaum mehr überzeugbar, dass alles gut gemeint ist und zu ihrem Besten ohnehin.

Die anderen aber, die Millionen vernünftigen, bei denen Hopfen und Malz noch nicht verloren sind, die könnte eine klug argumentierende Sozialdemokratie dazu bringen, der SPD "2025 ein so starkes Mandat bekommen, dass wir auch die nächste Regierung anführen werden", wie Olaf Scholz seine Pläne umreißt. Dazu gilt es jetzt, wo die Umfragewerte abstürzen wie der Aktienkurs von Beyond Meat und der Wunsch nach einer Fortsetzung von Rot-Grün-Geld in der Bevölkerung erstmals bei glatt Null liegt, neue Fronten zu eröffnen, mit neuen Versprechen hausieren zu gehen und mit geradem Rücken ins Endspiel zu gehen.

Politik euretwegen

Prinzipiell bleibt es dabei, dass Genossinnen und Genossen im ganzen Land den Bürgerinnen und Bürgern sagen müssen "Wir sind für euch da, wir machen Politik euretwegen! Wir sorgen dafür, dass es besser wird – und gerecht!", wie es Scholz selbst im Dezember 2023 getan hatte, als er sich selbst und seinen großen Satz "Wir machen Politik, damit das Leben der Bürgerinnen und Bürger gut gelingt" aus dem Juni 2023 zitierte. Sozialdemokratische Tradition, die weit über alles hinausgeht, was  die weniger Mütter und die vielen Väter des Grundgesetzes vorgegeben hatten.

Es war die hanseatisch kühle Interpretation von "Ich liebe Euch doch alle", doch es verfing nicht. Dabei sollte damals noch "jeder und jede in diesem Land einen Platz" haben, "damit wir unsere Verschiedenheit als Gewinn und nicht als Hemmnis betrachten".

Vor und hinter der Brandmauer

Jetzt aber ist der Platz der einen vor, und der der anderen hinter der Brandmauer. Was die SPD jetzt entwerfen muss, ist ein Angebot mit klarer Kante, das die abholt, die dort sind, wo sie sind, draußen im Lande, aber noch vertrauensbereit, wenn der Staat ihnen seine Vormundschaft anbietet. 

Tempolimit und Verbrenneraus, Elektromobilität als alternativlose Zukunft, Hände hoch im Konkurrenzkampf mit China, inklusive Sprache überall, weg mit den privaten Pkw aus öffentlichen Raum, Fahrradstraßen, X abschalten, strengere Messerregeln und mehr Überwachung, Wärmepumpen für alle und für jeden sein Wunschgeschlecht, Vermögens- statt nur globaler Mindeststeuer, eine signifikante Erhöhung der im weltweiten Vergleich exorbitanten Erbschaftssteuer, all das wären Versprechen, die die von allen Parteien umworbene hart arbeitende Mitte zweifellos schnell überzeugen würden. 

Überzeugendes Paket

Dazu noch Staatsförderung für private Seenotretter, die Todesstrafe für Kinderschänder, Alkoholverbote und neben gesundheitsfördernden Maßnahmen höhere Kassenbeiträge sowie eine Verstaatlichung der maladen Deutschen Bahn. Das wäre ein Paket, in dem viele die Lösung aller grundlegenden Probleme erkennen würden.

Es ist doch nicht so, dass die Menschen nicht wollen würden und sich einer Mitarbeit verweigern. Was vielen fehlt, ist ein Angebot, "zusammen" (Scholz) und "untergehakt" (Scholz) auf individuelle Entscheidungsfreiheit verzichten zu dürfen, weil der Staat als eine Art Serviceagentur einspringt.

Warum soll denn nicht das neue Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM) entscheiden, wer genug hat? Für die am Rand, denen das alles immer noch nicht reicht, könnten die Genfer Flüchtlingskonvention, die europäische Menschenrechtskonvention und das individuelle Grundrecht auf Asyl demonstrativ infrage gestellt werden. Und eine Friedenskonferenz, diesmal mit Russland, gibt es obendrauf.

"Mehr Demokratie wagen" wie Willy Brandt, kann nicht heißen, sich demokratischen Entscheidungen klaglos zu beugen. Es erfordert, die Auslage neu zu gestalten, wenn der Kunde wegbleibt. Populismus ist kein Zauberwerk, er lässt sich lernen!

EU-Wahl: Aus den Augen, aus dem Sinn

"Es kann nur eine geben", aber ein paar mehr Frauen werden es dann doch nicht der neuen EU-Kommission. Nur nicht so viele wie versprochen.

Was war das für eine Aufregung im Mai! EU-Wahl, "Schicksalswahl" (Table-Media). Ein neuer Präsidierender für 440 Millionen Menschen wird gesucht, die Demokratie steht auf dem Spiel. Die europäische Sozialdemokratie setzte auf Nicolas Schmit, einen Luxemburger. Deutschland schickte Ursula von der Leyen ins Rennen, die allerdings nicht selbst kandidierte. Der Sieg war dennoch ihrer. Trotz Rechtsrutsch und Linksrutsch gelang es der alten und neuen Chefin der EU-Kommission, sich nach sechs Wochen intensiver Hinterzimmerverhandlungen weitere fünf Jahre im Amt zu sichern.

Aus dem Fokus

Als das geschah, war die EU schon wieder aus dem Fokus des öffentlichen Interesses gerutscht. Sie waren noch da, das größte, zumindest in Teilen demokratisch gewählte Parlament der Welt. Sogar  bekannte Gesichter hatten es wieder nach Straßburg geschafft, abgestraft und gedemütigt, aber glücklich und nicht ohne große Ansprüche. Auch in Brüssel lief der normale Betrieb unbeeindruckt von der Wahlentscheidung der Europäer weiter wie zuvor. Josep Borrell kämpfte für die palästinensische Sache. Sein Kommissarskollege Thierry Breton gegen X. Ursula von der Leyen für eine paritätische Besetzung ihrer künftigen Gehilfenrunde.

Fast 100 Tage sind seitdem vergangen. Hundert Tage, in denen die Kommissionspräsidentin ihrem Ziel nicht nähergekommen ist. Die aber immerhin dafür gesorgt haben, dass sich wirklich niemand mehr daran erinnert, was im Mai alles auf dem Spiel gestanden haben soll. In Brüssel ist business as usual, das Raumschiff ist unterwegs zu Zielen, die niemand kennt, nicht einmal die Frauen und Männer auf der Kommandobrücke, deren Namen niemand weiß, weil sie noch nicht durch alle Gremien gewürfelt wurden und die Zustimmung der europäischen Staatenlenker wie die der nun wieder 720 Abgeordneten noch aussteht.
 

Torpedo für den Paritätsplan


Die Mitgliedsstaaten haben von der Leyens Plan torpediert. Eigentlich hätten alle 26 - abzüglich Deutschlands, das die Chefin stellt - je zwei Kandidaten für den ihnen zustehenden Kommisarsposten machen sollen. Eine Frau, einen Mann. Je nach Verhandlungsverlauf und Kompromissgepuzzel hätte Ursula von der Leyen dann paritätisch besetzt: Hier ein Mann, dort eine Frau. Versprechen, die in den Partnerländern bestimmten Anwärtern gemacht worden waren, wären unter Umständen reihenweise an der Geschlechterarithmetik gescheitert. 

Also machten die Regierungen reihenweise nicht mit. Kein einziges Land benannte zwei mögliche Kommissare. Von der Leyen bekam Namen, aber überwiegend die von Männern. Sie bekam Vorschläge, aber aus vielen Hauptstädten nur einen. Als die Frist auslief, stand die 65-Jährige mit 17 Männern und nur sieben Frauen da. Eine Blamage sondergleichen, denn von europäischer Solidarität, einem Zusammenrücken in schweren Zeiten und den gemeinsamen Ziehen an einem Strick blieb wieder einmal nicht viel. Es drohe eine Kommission "Von der Leyen II", der weniger Frauen angehören als irgendwann in den vergangenen 20 Jahren, heißt es in Brüssel.

Bauchlandung in Brüssel

Wenigstens aber findet die Bauchlandung des Paritätsplan unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit statt. So sehr die EU in den zwei Wochen vor den drei Wahltagen im Mai - auf einen einzigen können sich die Mitgliedsstaaten seit 50 Jahren nicht einigen -  die Schlagzeilen dominierte, so still ist es in den Monaten seitdem um alles geworden, was die EU betrifft. 
 
Seit Ursula von der Leyen die Krone der "Queen of Europe" (Morgenpost) Mitte Juli zum zweiten Mal aufgesetzt bekam, ist der Nachrichtenfluss aus dem Berlaymont-Palast versiegt. Nichts dringt aus der sagenhaften Herzkammer der europäischen Verordnungsdemokratie, die den Weltrekord bei den meisten verliehenen Energieeffizienzzertifikaten trägt. Hin und wieder Genörgel über den "bedenklichen Trend" bei der Verweigerung gleicher Chance für Frauen durch den "Old Boys Club". Ab und an Gemecker über den Rechtssrutsch, der auch die Kommission bedroht.

Mehr war nicht zu hören aus der "weltweit größten Union von Demokraten" (Bundesregierung), der sogar mehr junge Menschen vertrauen als dem Funktionieren der Demokratie selbst (Bertelsmann-Stiftung). Als Orban nach Russland flog, meldete sie sich zu Wort, mit einem Aufruf zum Boykott. Die X-Kriege gingen weiter, denn dass Thierry Breton weitermachen wird, steht außer Frage. Der Mann ist erst 69. Auch Borrell macht weiter mit seinen Angriffen gegen Israel. Erst wenn Kaja Kallas aus Estland durch die Gremien ist, wird eine Anschlussverwendung für den 77-Jährigen gesucht.

Funkstille im Barleymont

Darüber hinaus aber war Funkstille. Die EU schwieg sich zu Klimafragen ebenso aus wie zur Migration, die anhaltende Wirtschaftskrise spielte keine Rolle, es gab keine Neuigkeiten zum Asylgesetz und als der Milliardenbetrug mit Zertifikaten für CO2-emittierende Unternehmen aufflog, erinnerte sich in der Gemeinschaft niemand laut an die Absicht vom letzten Jahr, gegen Greenwashing vorzugehen.
 
Die "Schicksalswahl"  (Focus) ist ausgegangen wie das Hornberger Schießen. Alles ist neu, und genau wie zuvor. Die "Gleichstellung der Geschlechter" in der Kommission ist allem Anschein nach das einzige Problem, das Europa mit Europa hat. Die üblichen hundert Tage Schonfrist nach der Wahl hat Ursula von der Leyen zumindest schadlos überstanden - wie schon vor ihrer Anmeldung zur Fortsetzung ihrer Tätigkeit hat auch danach bisher niemand erfahren, was sie vorhat, wohin sie den Kontinent lenken will, ob Klima weiter Schwerpunkt bleibt, was mit dem milliardenschweren Corona-Wiederaufbau-Programm werden soll, das immer noch nicht in Gang kommt.

Falls die Frau, die bis heute den Rekord für die meisten verschiedenen Ministerposten hält, schon etwas weiß, hat sie es niemandem verraten. Es hat sie aber auch keiner gefragt.

Sonntag, 8. September 2024

Brasilianische Lösung: X und Hopp

Der Maler Kümram hat Anton Hofreiter in einer typischen Pose gezeichnet: In sich gerade schräg zum Ziel, eines Tages Minister werden zu dürfen.

Er ist einer der Zukurzgekommenen, der Abgehängten, der Leute in der Grünen Partei, die sich viel mehr erhofft hatten vom gemeinsamen Projekt mit SPD und FDP. Doch als es an die Vergabe der Posten ging, fiel Anton Hofreiter einmal mehr der Ruf auf die Füße, den er sich über Jahre erarbeitet hatte. Hofreiter, auch "der Toni" genannt, gilt seit seinem wegweisenden Manifest "Warum die Grünen die Partei der Freiheit sind", das er im Oktober 2013 im Wochenblatt "Die Zeit" veröffentlicht hatte, als Hippie, Liberaler und einer, der sich anbiedern will bei denen, die die Zeichen der Zeit noch immer nicht erkannt haben.

Ungedient, aber rauflustig

Anton Hofreiter wurde übergangen. Er bekam keinen Ministerposten, nicht einmal Staatssekretär durfte er werden. Offiziell eine Zurücksetzung, die der frühere Parteichef klaglos hinnahm. Immer mal wieder löckte er gegen die offizielle Parteilinie. Hofreiter, ungedient, aber rauflustig, trieb die frühere Pazifistenpartei zu Waffenlieferungen und Kriegseinsätzen, er klagte, bohrte und barmte: Unverkennbar war, dass er sich als Verteidigungsminister der Neuauflage der Ampel nach 2025 ins Spiel zu bringen versuchte. 

Es könnte aber auch das Innen- oder Justizressort werden, oder gar ein ganz auf "den Toni" zugeschnittenes neues Verbotsministerium. Seit das öffentliche Interesse am Großkonflikt in der Ukraine nachgelassen hat, leidet Anton Hofreiter unter Aufmerksamkeitsentzug. Die Diskussion um Schwerwaffen ist ausgelaufen, die um den Einsatz deutscher Männer an der Front beklagenswerterweise nie richtig in Gang gekommen. Statt darüber zu debattieren, geht es allenthalben nur noch den Abfall einzelner Bundesländer, die sogenannte innere Sicherheit und einen Rechtsrutsch der Gesamtgesellschaft, von dem Forschende bereits mehrfach festgestellt haben, dass er durch Kremlagenten und eine perfide Fälschungskampagne bewirkt worden ist.

Zu viel Widerspruch

Der wahre Grund ist X, die Milliardärsplattform, auf der den wenigen noch verbliebenen Grünen-Politikern und grünen Propagandisten mehr Widerspruch entgegenschlägt als selbst im ländlichen  Thüringen. Wie sein Parteivorsitzender Omid Nouripour unterhält auch Hofreiter dort noch eine Beobachtermission. Er schreibt nicht wie sein Kollege Cem Özdemir, er liest nur und das offenbar intensiv. 

Denn im Zuge seines Umstyling vom Militärexperten zum Sicherheitspolitiker hat Hofreiter jetzt vorgeschlagen, nach dem Vorbild Brasiliens auch hierzulande die Nutzung zur Onlineplattform X einzuschränken oder ganz zu verbieten. X, ein Internet-Treffpunkt von Nachrichtennerds, Online-Nörglern und Hobby-Besserwissern, sei verantwortlich für die Online-Radikalisierung von Jugendlichen. Wer die Verbreitung menschen- und verfassungsfeindlicher Inhalte im Internet stoppen wolle, der müsse die Kanäle verstopfen, über die sich Gefährder im Internet radikalisieren.

Ohne X kein Terror

Die Schließung von X als Beitrag im Kampf gegen den Terror? Der Vorschlag zeigt, dass Anton Hofreiter immer noch einer der originellsten Denker in der "Partei der Freiheit" ist. Ebenso gründlich, wie er vor elf Jahren mit dem Vorurteil von den Grünen als angeblicher "Bevormundungs- und Verbotspartei" aufgeräumt hatte, zeigt er jetzt, wie ein "Linksliberaler" (Hofreiter über Hofreiter) Freiheit und Grundrechte versteht.

Das Manifest zum Freiheitsabbau von 2013.

Der verkürzte, einseitige Freiheitsbegriff aus Artikel 5 Grundgesetz, er greift nach dieser Definition zu kurz. Dass jeder das Recht hat, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten, bedeutet keine Bestandsgarantie für eine Plattform  wie X: "äußern" und "verbreiten" sind den Buchstaben des Grundgesetzes nach auch ohne die Hass-Plattform aus den USA möglich. Und die Möglichkeit der "ungehinderten Unterrichtung" bezieht sich ausdrücklich nur auf "allgemein zugängliche Quellen". Zu denen X nach einem Verbot nicht mehr gehören würde. So dass die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film weiterhin gewährleistet wären, weil eine Zensur nicht stattfindet.

Freiheit mit dem Staat

Schon als junger Mann hatte Anton Hofreiter leidenschaftlich dafür plädiert, wegzukommen von einem egoistischen "Freiheitsbegriff, der sich vor allem gegen den Staat richtet, gegen öffentliche Institutionen". In seinem Grundsatzbeitrag erklärte er umfassend, warum die Grünen die Partei der Freiheit sind. Diese Freiheit aber eine nicht zu tun hat mit dem verkürzten Freiheitsbegriff, den Ewiggestrige nutzen, um Verbotsvorschläge "wie ein Tempolimit oder eine moderate Steuererhöhung" (Hofreiter) als Argumente gegen eine angebliche Übergriffigkeit des Staates nutzen. 

Diese Leute behaupteten, der Staat mische sich immer mehr in ihre Privatangelegenheiten ein. Das aber, so Hofreiter, sei nur gut gemeint und Teil einer neuen Freiheit, die mit dem Staat statt ohne oder gegen ihn gelebt wird. Was vielen fehle, sei das Vertrauen, sich ihm ganz hinzugeben. Dabei sorge doch der "emanzipatorischen Impuls der Grünen", der sich "immer gegen gesellschaftliche Zwänge gewandt" habe, sicher dafür, dass jeder notwendige Eingriff in Grundrechte allen nütze und diene. 

Ausdrücklich erinnerte Hofreiter in seinem Grundsatzpapier an das Erbe der Bürgerrechtsbewegung im Osten, "die gegen die weitergehenden Repressionen der Diktatur angegangen" sei. "Unsere Programmatik zielt auf die Ermöglichung der Freiheit des Einzelnen, genauer der Einzelnen, also im Idealfall der gleichen Freiheit aller Einzelnen."

Verabsolutierte Freiheit

Als logische Fortsetzung gilt dem 54-Jährigen heute eine Freiheit ohne "Verabsolutierung der Freiheit eines Einzelnen", weil diese Freiheit insgesamt mehr Freiheit schaffe. "Denn selbstbestimmte Lebensführung der einzelnen Menschen kommt nicht von selbst", ist sich Hofreiter sicher: Freiheit müsse "positiv ausgeübt" werden können, indem Bürgerinnen und Bürger vor falschen Optionen, die falsche Entscheidungen erst ermöglichen, geschützt werden. Mehr Freiheit wagen, mit weniger Kanälen, über die Hass in die Adern der Gesellschaft gepumpt wird.

Die brasilianische Lösung, X notfalls auch zu sperren, komme nur "notfalls" infrage, aber die von Musk beschworene absolute Meinungsfreiheit sei auch in der EU keine Entschuldigung dafür, "menschen- und verfassungsfeindlicher Inhalte" zu verbreiten. Katarina Barley, die bei der EU-Wahl im Frühjahr auch wegen der Nachstellungen bei X das schlechteste Ergebnis geholt hatte, das ihre Partei jemals einfahren musste, hat sich bereits hinter Hofreiters Vorschläge gestellt und auf die umfangreichen Sanktionsmöglichkeiten durch das Digitale-Dienste-Gesetz verwiesen. "Wir müssen die Wurzel des Problems angehen und Radikalisierungen im digitalen Raum wie in der Gesellschaft zurückzudrängen."

Die X-freie Gesellschaft

Nur einer X-freie Gesellschaft ist wirklich frei, frei von Versuchungen, frei von der Verführung,  Widerspruch zu führen und den Staat zu kritisieren. "Ziel unserer Politik, wenn sie auf Stärkung öffentlicher Institutionen zielt, bleibt also auch dabei die Freiheit der Einzelnen", hatte Hofreiter schon 2013 einen Weg vorgezeichnet, der dem Wildwuchs zahlloser Ansichten und endlos vieler alternativer Kanäle, sie zu verbreiten, eine überschaubare Anzahl sicherer und überwachter Plattformen bereitstellt. "Sonst degeneriert der Freiheitsraum der Einzelnen zur Zwangskammer beschränkter Möglichkeiten." 

Wohlstand 2.0: Weg mit der Wachstumswehmut

Robert Habecks Weissagungen von 2011 sind eingetroffen: Niemandem wird es schlechter gehen, vielen aber viel besser.

Von ihm war die Idee der Bundesbetriebsferien, von ihm war auch die Warnung Richtung VW, dass bis 2025 ein Elektroauto für höchstens 20.000 Euro angeboten werden müsse, sonst sei der Ofen bald aus. Immer hat Robert Habeck recht behalten, niemals wurde ihm ein Irrtum nachgewiesen. 

Das macht in Wolfsburg, Kassel, Zwickau und den anderen Automobilbaustandorten Zehntausenden von Arbeitern und Angestellten Hoffnung, dass der grüne Kanzlerkandidat die Dinge wirklich vom Ende denkt: "Wir brauchen keine Autofirmen" hatte Habeck schon als junger Dachs in der holsteinischen Landespolitik einen Blick in die Zukunft gewagt, der damals gerade begann, mit Mut und Tatkraft zu gestalten.

Vorhersage trifft genau ein

Dreizehn Jahre danach ist es fast so weit. Offiziell werden "maues Management, maue Konjunktur, China, Elektroauto" (Die Zeit) als Begründung für die Bedrohungslage beim ehemals wertvollsten Konzern der welt angegeben. Doch wer Habecks Wirken schon länger verfolgt, erkennt den großen Plan, der beharrlich und in kleinen Schritten umgesetzt wird. 

Alles folgt einer kühnen Prämisse, die der damals gerade 41 Jahre alte und bundesweit noch recht unbekannte Fraktionsvorsitzender der Grünen im Landtag von Schleswig-Holstein 2011 öffentlich gemacht hatte: Weniger Autos seien besser als mehr Autos, stimmte er einem Ratsschluss des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann zu. Und ergänzte ihn um einen echten Habeck: "Und die wenigeren Autos müssen weniger Benzin verbrauchen als heute."

Bhutan als Vorbild

Habeck hat Recht behalten.
Robert Habeck hatte das, was künftig als Wohlstand gelten soll, zu jener Zeit, als "Degroth" noch ein Fremdwort war, bereits fest definiert. Nicht mehr Wirtschaftswachstum und Kaufkraft, sondern 21 andere Kriterien für Wohlstand würden zählen. Eine Idee, der sich Bundeskanzler Olaf Scholz auf Anregung des früheren Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" erst viele Jahre später anschloss. Dass weniger Autos nicht weniger Wohlstand bedeuten, ist heute erwiesen. 

Obwohl allein Volkswagen eine halbe Million Autos weniger verkauft, als die größte deutsche Mobilitätsschmiede aus alter Gewohnheit herstellt, wurde kein Lohn gekürzt, kein Gehalt eingedampft und nicht einmal die saftige Dividende zusammengestrichen, von der vor allem das Land Niedersachsen als größter Anteilseigner profitiert.

Habeck, der sich heute keineswegs damit brüstet, hatte schon vor dreizehn Jahren vorhergesagt, dass "weniger Autos noch nicht mal zu weniger Wirtschaftswachstum führen" und "ganz sicher aber nicht zu weniger Wohlstand, sondern zu neuen Branchen". Der "nationale Wohlfahrtsindex" ("NWI"), der anders als das Bruttoinlandsprodukt (BIP) auch Orchideenbereiche beleuchtet, Gefühle widerspiegelt und die emotionalen Umstände der freiwillig empfundenen Lebensqualität einbezieht, relativiert das Leben unter bedrückenden Verhältnissen ohne Wachstumshoffnungen und Aussicht auf die Wirkung von Dynamisierungspaketen.

"Nationaler Wohlfahrtsindex"

"Wirtschaftsschwach" gilt hier bei der Messung als Vorteil: Selbst wenn das BIP wie seit Jahren in Deutschland stagniert, ist der NWI in der Lage, einen Anstieg auszuweisen. Arbeitslose haben mehr Zeit und weniger Stress, nicht hergestellte oder verkaufte Autos  sparen Wasser und Strom und Benzin, angetackerte Flaschendeckel mindern die Plastikbelastung der Meere, wegfallende Partys, Vergnügungen und Volksfeste minimieren die Schäden durch Tabak-, Alkohol-, Drogen-und Messermissbrauch. Wer nicht fährt, fährt nicht verkehrt, Verkehrsunfälle bleiben aus, Krankenzeiten gehen zurück und nicht gehaltene Hunde und Katzen fressen nichts.

Weniger Autos, weniger Stahl, weniger Exporte, weniger Geschäftsmodell, weniger sogenannte Wettbewerbsfähigkeit - das "grüne BIP" misst Wohlstand wachstumsunabhängig und entkoppelt so das schlechte Gefühl vieler angesichts einer Vielzahl von schlechten Nachrichten vom gewünschten Zustand eines Musterlandes, dessen Selbstgefälligkeit sich in Unmut, Ärger und Hetze äußert, sobald selbst Schönrechnen nicht mehr verbergen kann, dass dauerhafte Stagnation bei steigenden Preisen Schrumpfung bedeutet.

Schrumpenlde Wirtschaft

Das Zusammenschrumpeln der Wirtschaft hatte Habeck bereits vor 13 Jahren als Chance bezeichnet. Nicht auf die Zahlen kommt es an, sondern darauf, wie sie hingenommen werden. Wenn Menschen begriffen, dass das Fehlen einer Einkommensspreizung, abgeschaltete Kernkraftwerke und die Abschaffung von Maismonokulturen in der Landwirtschaft genauso Wohlstand seien wie ein sicherer Arbeitsplatz, ein volles Konto und eine gebuchte Fernreise.

Wer keine Großkonzerne und keine Exportindustrie zu hat, ist in diesem neuen wirtschaftlichen Sinn besonders stark. "Wir brauchen hier keine große Auto- oder Petroindustrie", hatte Robert Habeck seinen Plan schon früh umrissen. Das Potenzial liege bei "den Life-Sciences, der Bioökonomie, neuen Produktionsketten, einer Renaissance der Landwirtschaft, den Erneuerbaren mit all ihren Verästelungen". Die Strategien, die der spätere Vorsitzende der Grünen in Schleswig-Holstein testete, strafte die konventionellen Wachstumstheoretiker Lügen und wies nach, dass es unnötig ist, "weiter an einem qualitätsblinden Wachstumsbegriff festzuhalten". Weniger wird mehr, Bescheidenheit boomt, Konjunktur entsteht aus Reparatur. 

Die gute alte Gute Gesellschaft

Der große Umbau, er ist seitdem gut vorangekommen, dort, wo alles begonnen hat, sogar nocht stärker als runherum. Das preisbereinigte BIP von Schleswig-Holstein lag zuletzt bei minus 1,1 Prozent, sogar noch schlechter als das ohnehin bescheidene deutsche Bruttoinlandsprodukt, welches im letzten Jahr um 0,3 Prozent zurückging. Wirtschaftliche Transformation ohne Wachstumswehmut setzt auf eine neue gesellschaftliche Vorstellung von Lebensglück, die die gesamte Volkswirtschaft so klug steuert, dass nicht irgendwelche toten Zahlen besser werden, sondern im Sinne der "Guten Gesellschaft", die die sozialdemokratische Vordenkerin Andrea Nahles einst als sozial regulierten Gegenentwurf zum Wachstumskapitalismus vorgeschlagen hatte.

Was vor 15 Jahren ein kühner Traum einer Frau mit Ambitionen war, ist zu einem guten Teil Realität geworden. Um "gutes Wachstum" zu erreichen, das auch negativ sein kann, entschließen sich Bäcker, nicht mehr zu backen, Kneiper die Türen und pressure groups aus der Zivilgesellschaft fordern unermüdlich höhere Kfz-Steuern, niedrigere Geschwindigkeiten auf der Autobahn, mehr Maut und weniger Parkplätze. 

Genialer Kniff

Das rechnet sich, denn wer länger fährt, steht weniger herum, und wer weniger herumsteht, schafft mehr, ohne mehr zu tun. Der geniale Kniff am wachsenden Schrumpfen, wie es der Habeck-Plan von 2011 den Deutschen in Aussicht stellte, besteht weniger in einer drastischen Transformation als vielmehr in einem sanften Hinübergleiten in eine Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die sich selbst genug ist, und das etwa im Zustand der Jahre zwischen 2010 und 2015. Wie Endfünfziger bei aller simulierten Geschäftigkeit oft nur noch auf den Tag des Renteneintritts warten, hat Robert Habeck für die gesamte Gesellschaft Kurs gesetzt auf letzte Lebensjahre in Demut und Bescheidenheit. 

Das Gesparte noch verfrühstücken. Den in den fetten Jahren angefutterten Wohlstandsspeck gemütlich verstoffwechseln. Das Licht des Glaubens an den unaufhaltsam voranschreitenden Fortschritt abdimmen. Ohne Wehmut schaut der wohlstandsverwöhnte Boomer zurück auf ein Vernichtungswerk an Klima, Natur, Umwelt und Gemeinschaft, das ihn und die Seinen zur fürchterlichsten Generation hatte werden lassen, die jemals auf Erden wandelte und wirkte. 

Lange, fast zu lange hat es gedauert von Robert Habecks dringlicher Botschaft, dass "wir keine Autofirmen brauchen", bis zu den ersten Schritten zum Automobilausstieg. Noch ist nichts entschieden, aber wenn jetzt alles ganz schnell geht, kann die Umkehr gerade noch gelingen.

Samstag, 7. September 2024

Zitate zur Zeit: Wie soll das gutgehen

Die bunte Menagerie umfasst eine Partei, die Austerität für einen Selbstzweck hält; eine Partei, die mit Schuldenmachen alle Probleme glaubt, lösen zu können; und eine Partei von ewig pubertierenden Weltverbesserern. 

Wie soll das gutgehen?

Eric Gujer erklärt in der NZZ das "ziemlich einmalige Schauspiel" einer Koalition, in der jeder Partner ist nur noch darauf aus ist, den anderen ein Bein zu stellen in der Hoffnung, sich zu profilieren.

Ausreisewelle: Wie sich Fachkräfte aus dem Osten schleichen

Thüringen Flüchtlinge beim Treck über die Höhen des Erzgebirges.

Sie schlagen sich durch dichte Wälder, schleppen ihre Habseligkeiten Über die ausgedehnten Höhenzüge der Rhön und des Erzgebirges, sie marschieren sich die Füße blutig, bis sie endlich im sicheren Franken oder auf der tschechischen Seite der Berge im Süden Sachsen ankommen. Seit der Osten kippt, ja, im Grunde schon auf der rechten Schlagseite liegt, waächst die Angst, den Absprung zu verpassen.

Viele, die außerhalb wohnen und leben, haben es leicht, sie müssen einfach nicht mehr Dresden, Meissen und Weimar reisen. Doch die, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben, stehen vor einer harten Entshceidung: Gehen, so lange es geht? Oder bleiben, still zurückgezogen ins Private oder im Widerstand?  

Auswandern im Netz

Vor allem in Thüringen, aber auch in Sachsen haben nach dem Wahlerfolg der AGREAFD ungewöhnlich viele Menschen die Suchmaschine Google nach Auswanderungsmöglichkeiten befragt. Um dem drohenden politischen System in den beiden Freistaaten zu entkommen, das womöglich einen Austritt aus den Staatsverträgen mit dem Gemeinsinnfunk, schärfere Abschiebungen und eine landeseigene Grenzschutzpolizei mit sich bringen könnte, fliehen die Menschen. 

Erstmal nur am Rechner oder Smartphone, aber die Furcht vor politischer Verfolgung als Andersdenkender, dem Verlust der Meinungsfreiheit und Hausdurchsuchungen wegen sogenannter "antifaschistischer Hetze" lässt viele schon die Koffer packen. Und manche sind sogar schon unterwegs. Wie Raimund Lasekarg-Welle, der schon Ende letzten Jahres erste Vorbereitungen getroffen hat. "Ich wusste doch, wie die Stimmung ist und wie sich das auf dem Wahlzettel ausdrücken wird", sagt der 44-Jährige, der aus Greiz stammt und später als Forstingenieur in einem kleinen Dorf bei Suhl heimisch wurde. 

Flucht nach NRW

Lasekarg-Welles Frau ist wie so oft in diesen Konstellationen Lehrerin, sie spürt gesellschaftliche Erschütterungen, lange bevor andere sie wahrnehmen können. "Sie hat mir zugeraten und so sind wir schon im Frühjahr rüber nach NRW und haben dort einen Kaufvertrag für eine Wohnung in einer kleinen Stadt abgeschlossen." 

Seine "Fluchtburg" nennt Lasekarg-Welle das bescheidene neue Heim, das er und seine Frau beziehen wollen, sobald sie den Marsch von fast 400 Kilometern hinter sich gebracht haben. Ja, Marsch! Um kein Aufsehen zu erregen, wollen die beiden Auswanderer möglichst unbemerkt "verduften", wie Angela Lasekarg-Welle es nennt. "Bloß nicht auffallen, bloß nicht die Behörden auf uns aufmerksam machen."

Angst vor Verfolgung

Seit dem Fall von Sonneberg kennt jeder in Thüringen die Konsequenzen oder er ahnt sie zumindest. "Wir haben einfach genug von dem ganzen politischen Mist und der verbalen Gewalt in den sozialen Netzen", sagt Lasekarg-Welle. Nach dem Aufstand der Faschisten und der Wahlniederlage aller demokratischen Parteien könne es nicht damit getan sein, die Niederlage zu akzeptieren und auf das nächste Mal zu hoffen. "Es ist jetzt jeder gefordert, ernste Konsequenzen zu ziehen, aber auch, sich und seine Lieben in Sicherheit zu bringen."

Das Schreckgespenst Höcke, es wirkt. Der braune Schatten des zugewanderten Westdeutschen, der sich ein halbes Leben lang als braver Volksschullehrer zu tarnen wusste, geistern in den Köpfen vieler, die in diesen letzten heißen Tagen des Klimasommers durch die Thüringer Wälder streifen, um unauffällig eine Fluchtroute zu erkunden. Es sind gerade die eher Jungen, die Übergebildeten, die, die Haus und Hof und Hund haben, die untereinander darüber wispern, das Land verlassen zu wollen. 

Aiwanger schreckt ab

Nach Bayern hinüber will allerdings kaum jemand, obwohl es der nächste Weg wäre. "Seit der Aiwanger-Affäre mit dem braunen Schulranzen", sagt Raimund Lasekarg-Welle, "ist das Thema für mich erledigt." Bayern sei "der Regen nach der Traufe", vielleicht das nächste Bundesland, das so weit nach rechts rücke, dass jeder anständige Demokrat Angst haben müsse, bedroht und verfolgt zu werden. "Wenn die Höcke-Diktatur erst begonnen hat, dann werden die Grenzen sicherlich komplett zugemacht." 

Bis dahin wollen Lasekarg-Welles fort sein. Sie zählen sich zu den leistungsfähigen Kräften in Thüringen, zur gesunden Kern der hart arbeitenden Mitte. "Wir wollten immer gern überall Urlaub machen, aber nie in ein anderes Land ziehen", sagt Susanne Leseberg-Welle. Doch die Furcht vor dem, was kommen könnte, lasse keine andere Alternative. Im Freundeskreis dächten viele so. "Als wir neulich bei einer Grillparte herumgefragt haben, wer sich vorstellen könnte, zu gehen, haben mehr als zehn Prozent die Hände gehoben". 

Abgeschreckt von Gerüchten

Unter den unter 30-Jährigen seien es sogar 24 Prozent gewesen, "alle mit guten Jobs, Handwerker, Immobilienmakler, Ärzte". Habe sich mancher bisher noch von den hohen Mieten, den Berichten über Gewalt und eine disfunktionale Infrastruktur mit langen Staus, ausfallenden Zügen und ständigen Blockaden von Klimaanhängern abschrecken lassen, wirke der Sieg der AGREAFD jetzt wie ein  Katalysator. "Und da schon einige gegangen sind, findet man in der Diaspora der Leute, die schon im Exil leben, auch schnell Anschluss und Einstiegshilfe." 

Raimund Lasekarg-Welle packt weiter an seinem Koffer, noch ein paar T-Shirts, noch eine Wechselhose, das Fotoalbum und die Zeugnisse. Leichtes Gepäck ist gefragt, angesichts des schweren Geländes, das zu überwinden sein wird. Den zunehmenden Konservatismus im eigenen Land werde er nicht vermissen, ist sich der Forstwirt sicher.  "Auch die weit verbreitete Wut und Unzufriedenheit fehlt uns bestimmt nicht", bekräftigt seine Frau Susanne den gemeinsamen Beschluss. Sie ist optimistisch.  "Wir ziehen in eine demokratische Region, wo wir uns schnell zu Hause fühlen werden."

Freitag, 6. September 2024

Demokratieschutz-Verordnung: Wahlkampf ohne Meinungsstreit

Um die Demokratie umfassender als bisher zu schützen, haben die Grünen umfangreiche Maßnahmen zur Einhegung von Widerspruch und Meinungskampf beschlossen.

Sie pflegen abweichende Meinungen, greifen Regierungsparteien an, ernennen einzelne politische Partner zu Hauptgegnern und versuchen, sich die Mehrheit der Menschen im Land mit haltlosen Versprechen gefügig zu machen. Von einem "Wirtschaftswunder" ist dann die Rede, von "mehr Sicherheit" und die "Gerechtigkeit" darf nicht fehlen. Seit die Bundesworthülsenfabrik in (BWHF) in Berlin auch kombinierte Adjektive anbietet, finden sich oft adjektivierte Verlockungen wie "klimagerecht" und "sozial nachhaltig".

Vorgeschriebene Parolen-Prüfung 

Allzu häufig sind Bürgerinnen und Bürger anfällig für solche einfachen Parolen vom angeblich falschen "Heizungsgesetz", gegen das immer noch gehetzt wird, obwohl die Bundesregierung die Umsetzung um drei Jahre nach hinten verschoben hat. Oder die Zahlen aus der Wirtschaft: Alles ist seit vielen Monaten stabil. Trotzdem hören die Angriffe nicht auf, die mit Kampfbegriffen wie "Schwächeln", "Abkühlung" und "geringes Wachstum" arbeiten, um Unruhe zu säen, etwa wegen drohender Entlassungen und höherer Wachstumsraten bei der Arbeitslosigkeit.

Es ist eine Situation, die Demokraten so nicht mehr akzeptieren können. Die Grünen als Hauptzielscheibe von Ostdeutschen, Konservativen, Liberalen, Rechten, Rechtsradikalen, Rechtsextremen und Rechtsextremisten haben jetzt als Konsequenz aus der Lage vor und nach den Landtagswahlen einen besseren Schutz vor der Beeinflussung von Wahlen beschlossen. Eine Bund-Länder Task-Force "zum Schutz der Demokratie" (BLTFSD) sieht vor, dass der politische Raum ähnlich umfassend eingehegt und gesichert wird wie der Berliner Reichstag. 

Virtueller Demokratieschutzgraben

An dem starten im kommenden Jahr Bauarbeiten zur Errichtung eines Demokratieschutzgrabens mit Ausfallhof, Hauptumwallung und elektronischen Kamerabastionen zur Gesichtserkennung von Gefährdern und Provokateuren. Die geplanten Kosten liegen derzeit bei knapp 200 Millionen Euro, der Bauplan hinkt sechs Jahre hinterher. Doch die Erfolge sind bereits greifbar: Schon seit vier Jahren gab es keinen Versuch eines Angriffs auf das Hohe Haus mehr.

Ein Vorbild für den umfassenden Schutz, den sich die grüne Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge für den gesamten politischen Raum wünscht. Vorbild der für die Idee ist der "Überparteiliche Notfallplan zum Schutz unserer Demokratie", mit dem die bayerischen Grünen im vergangenen Jahr bei der Landtagswahl Schiffbruch, weil er noch nicht umgesetzt war. Seitdem hat der "Rechtsrutsch in unserem Land bedrohlich an Fahrt" aufgenommen, "die Bindekräfte unserer Gesellschaft, der Zusammenhalt und die Kraft der Demokratie schwinden" (Grüne). Es braucht ein festes Band, einen dicken Strick, um zu fesseln, was auseinanderstrebt.

Abwehrmaßnahmen gegen die Beeinflussung durch Wahlen sind nur ein Baustein, ein anderer ist eine neue Parteikontrollkommission zur Pflege des Politischen Streits (PKKPPS), die als eigener Arbeitsbereich beim Bundesministerium für Inneres und Heimat angesiedelt wird. Die PKKPPS sei damit beauftragt, den notwendigen und gewünschten Meinungsstreit nicht ins Inhaltliche abgleiten zu lassen. "Demokraten sollten wie Demokraten sprechen", hat Dröge als oberste Maxime ausgegeben. Dazu gehöre auch, hieß es im Umfeld der grünen Klausurtagung, dass Ansichten und Auffassungen der Regierungsparteien nicht infrage zustellen seien.

Weg vom Streit der Überzeugungen

Ähnliche Bestrebungen, den oft auf der Ebene unterschiedlicher Überzeugungen ausgefochtenen Streit um den richtigen Weg abzumoderieren, hat es immer wieder gegeben. Von der in Ostdeutschland lange gebräuchlichen Formel der "wissenschaftlichen Weltanschauung", die jeweils einzig richtige politische Entscheidungen diktiere, bis zur "Alternativlosigkeit", die die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel in den Stand versetze, niemals zwischen mehreren möglichen Entscheidungen wählen zu müssen, zieht sich ein roter Faden der Verlässlichkeit durch die deutsche Geschichte.

An dem wollen sich die Grünen wieder stärker orientieren. Die Wahlschlappen in Thüringen und Sachsen ebenso wie die absehbar ernüchternden Ergebnisse im eher fortschrittlichen Brandenburg zeigten, wohin ein sorgloser Umgang mit Ansichten, Überzeugungen und öffentlichen Äußerungen führe. Ein Staat, der es zulasse, dass Parteien mit Steuerverweigerung hausieren gehen, haltlose Versprechungen machen und in Krisenzeiten das Bild einer heilen Welt malen, verliere den Zugriff auf Herzen und Köpfe der Bürgerinnen und Bürger. Nicht mehr Wahlkämpfe seien nötig, sondern kluge, überzeugende und ehrliche.

Gezielt gegensteuern

Die PKKPPS soll hier gezielt gegensteuern. Wahlparolen inhaltlich prüfen, abnehmen und zur Nutzung freigeben, Wahlprogramme demokratietauglich redigieren und die Lebensläufe von Kandidaten, die bisher nur ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen müssen, mit Hilfe der zuständigen Behörden auf ihre charakterliche Eignung abklopfen ist die eine Seite der neuen Aufgaben. Die andere liegt in der Verantwortung für die zeitgemäße Umgestaltung des Wahlverfahrens an sich. 

Hier sind mehrere Varianten im Gespräch, so etwa Wahlzettel nach dem Muster der Lebensmittelampel, auf denen Wählende nicht mehr ankreuzen müssten, was sie wählen wollen. Viele wissen das bis zum Betreten der Wahlkabine nicht, sie träfen, so weiß man im politischen Berlin aus Nachwahlbefragungen, oft keine angemessen verantwortungsbewusste Entscheidung. 

Markierung statt Kreuz

Das als "Einfache" oder "Leichte Wahl" von Wissenschaftlernden des An-Institutes für Angewandte Entropie (AIAE) in Frankfurt/Oder entwickelte neue Stimmabgabeverfahren setzt genau hier an. Wählende müssen sich nicht mehr spontan für eine Partei oder einen Kandidaten entscheiden, sondern auf einem Wahlzettel mit Verlaufsfarben entlang des demokratischen Spektrums nur noch markieren, wie stark sie Grüne, SPD oder Linkspartei präferieren. Streng nach den Vorgaben der Forschung stehen dabei radikale Parteien wie das BSW, die AGRGAFD und die Union jeweils ganz außen, die demokratischen Kräfte dagegen mittig.

Aufwendige Wahlkämpfe mit unnötigem Meinungsstreit, die hart arbeitende Mitte abschreckender Argumentationsaustausch und Redeschlachten voller Sacherwägungen müssten dann nicht mehr simuliert werden, selbst die Stimmabgabe ist nach Ansicht der Forscher automatisierbar. Sie könnte künftig direkt über den beliebten "Wahl-O-Mat" der Bundeszentrale für Politische Bildung erfolgen, der bisher nur als Beratungsinstrument für Unentschlossene dient, die noch nicht wissen, ob sie BSW oder AGRGAFD wählen sollen. Künftig würde die Stimme des Wahl-O-Mat-Nutzers jeweils am Ende des Befragungsparcours entsprechend des erzielten Ergebnisses direkt an den Bundes- oder Landeswahlleiter übermittelt.

Rote Socken: Bunter wird's nicht

Rot-rot-rot könnte in Erfurt erstmals regieren und das mit eigener Mehrheit: Jeweils eine der beiden rechtspopulistischen Parteien müsste jedem Gesetzesvorschlag der Regierung zustimmen, um nicht eine neue deutschlandweite Diskussion über die Brandmauer heraufzubeschwören.
 
Für die Demokraten allein reicht es nicht, aber auch die als gesichert rechtsextrem geltenden  Wahlsieger können nicht, wie sie wollen. Unbelehrbar durch gute Ratschläge von außen hat der Thüringer sein eigenes Bundesland unregierbar gemacht. Den einen wie den anderen fehlt es an Mehrheiten. Es ist alles schlimmer noch als in Sachsen, so schlimm sogar, dass Wissenschaftler neu zu sortiere begonnen haben: Ein Westdeutscher in der Linkspartei ist danach ganz anders zu lesen als ein Ossi, der für Sozialismus, Planwirtschaft und einen neuen Anlauf zum Aufbau einer richtig gerechten Gesellschaft schwärmt.

Störend bei der Machtübernahme

Die CDU sieht sich gezwungen, einen erst vor sechs Jahren Brandmauerbeschluss Richtung Linkspartei infrage zu stellen, weil er nun bei der praktischen Machtausübung stört. Die marginalisierte SPD steht kurz davor, sich wieder mit Kommunisten einzulassen. Und die Russlandfreunde vom Wagenknecht-Bündnis schreiben in Rekordzeit Geschichte: Noch nie ist es einer planwirtschaftlichen, migrationsfeindlichen und mit allen Nato-Werten über Kreuz liegenden Partei in Deutschland gelungen, binnen weniger Monate Regierungsverantwortung zu übernehmen.

Doch wird die Union über dieses Stöckchen springen? Wird sie Richtung Bundestagswahl signalisieren, dass sie gar nicht oder nur formal am Unvereinbarkeitsbeschluss festhält, der ihr Koalitionen mit der früher als SED bekannten Linken verbietet? Und wird die Linke, seit Jahren schon mit festem Kurs ins gesellschaftliche Abseits, auch noch den kläglichen Rest ihrer Anhängerschaft riskieren, indem sie mit dem Klassenfeind paktiert?

Rot-rot-rot als Ausweg

Vielleicht muss es gar nicht sein. Die Chefin der Thüringer Linken hat in allerhöchster Verzweiflung eine neue Variante ins Spiel gebracht, die Thüringen zu einer Regierung verhelfen könnte, ohne dass irgendwer über Schatten springen, Grundsatzbeschlüsse verwerfen oder Brandmauern übersteigen muss. Ulrike Grosse-Röthig, Tochter einer ursprünglich liberalen Landtagsdynastie, präferiert anstelle eines ideologisch für alle Seiten schwierigen Zusammengehens von Linkspartei, SPD und BSW mit der  "stramm rechtskonservativen" (ND) CDU des zuletzt zusehends radikalisierten Friedrich Merz eine rot-rot-rote Minderheitsregierung. 

Die Kombination aus der vom Wähler abgestraften Linken, der nur knapp über die Fünf-Prozent-Hürde gekletterten SPD und der kremlnahen Wagenknecht-Truppe bekomme  "auch 36 Prozent", rechnet Grosse-Röthig vor. Eine sichere Minderheit, die mit 33 Sitzen im Landtag auch nur neun weniger hätte als die Vorgängerregierung, die sich vier Jahre ohne Mehrheit durchgeschlagen hatte.

Eine kleine Wiedervereinigung

Rot-Rot-Rot in Erfurt wäre eine kleine Wiedervereinigung, wie sie besorgte Bürgerinnen und Bürger aus dem Initiativkreis Wiedervereinigung der Linken (IWVL) angesichts der  Unvereinbarkeitsbeschlüsse der weit nach rechts gerutschten CDU (Taz) bereits als große Lösung vorgeschlagen hatten. Danach solle sich die für die Union als Partner nicht akzeptable Linkspartei dem unverbrauchten und mit keinem Tabu belegten Wagenknecht-Bündnis anschließen. Gemeinsam entstünde dann wieder eine politische Kraft am linken Rand, die auf Augenhöhe mit der als gesichert rechtsextremistisch eingestuften AGREAFD agieren könne.

Für die CDU, die in Erfurt als Wahlsieger auftritt, wäre es ein schwerer Schlag. Der Landesvorsitzende Mario Voigt sieht sich bereits als Ministerpräsident, in den zurückliegenden Monaten wurden Schattenkabinette gebildet und Postenvergabelisten erstellt. Dass nun eine Stimme zu einer Mehrheit fehlt, ist für den 47-jährigen Mann aus Jena tragisch. 

Minderheitsregierung mit sicherer Mehrheit

Noch tragischer aber wäre, wenn sich die als Tolerierungspartner eingeplanten linken Gegner einer bürgerlichen Politik zusammenschlössen, um gegen die stärkste und die zweitstärkste Partei zu regieren - mit dem Kalkül, dass jedem Gesetzesvorschlag im Thüringer Landtag jeweils eine der beiden rechtspopulistischen Parteien zustimmen müsste, um nicht eine neue deutschlandweite Diskussion über die Brandmauer heraufzubeschwören.

Bodo Ramelow, der so harsch abgewählte Ministerpräsident, hat die Vorlage aus seiner eigenen Partei mittlerweile dankbar aufgenommen. Der Wähler habe ein klares Zeichen gesetzt und einen deutlichen Regierungsauftrag vergeben - außer Rot-Rot-Rot sei gar keine andere Mehrheit zu bilden. 

"Der Ministerpräsident bleibt Bodo Ramelow", gab er einen Ausblick in den aktuellen Planungsstand in Erfurt, er regiere dann mit einer Koaltion aus Linkspartei, SPD und BSW. "Und die CDU toleriert das, damit sie ihren Beschluss einhält", weist der erfahrene Politikstratege einen Weg aus dem Dilemma: "Weil das sie uns toleriert, das ist nicht verboten, das haben sie fünf Jahre lang praktiziert."