Montag, 18. März 2024

Nach Händler-Klagen: Kauf-Fonds gegen Umsatzeinbruch gestartet

Gähnend leere Verkaufshallen von Einzelhändlern werden jetzt mit einem innovativen Konzept bekämpft.

Die seit vielen Jahren andauernde Krise des Einzelhandels hat sich zuletzt weiter verschärft, nach dem Zusammenbruch der großen Kaufhäuser erwischte es den Elektronik- und Haushaltsgerätehandel. Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamt (Destatis) gingen die Umsätze in den verbliebenen Kauf- und Warenhäusern im vergangenen Jahr preisbereinigt um 34,8 Prozent zurück. Der Elektrofachhandel litt weniger, aber ebenfalls deutlich: Verbraucher gaben für Haushaltstechnik und Unterhaltungselektronik trotz gestiegener Preise 1,6 Prozent weniger aus, bei Haushaltsgeräten sparten sie sich 2,4 Prozent der Ausgaben.

Hilferufe von Händlern erhört

Händler klagen, Ketten schließen, jahrzehntelang erfolgreiche Geschäftsmodelle brechen zusammen. Nach den Dorf- und Kleinstadtkneipen, den Fleischern, Bäckern und Tante-Emma-Läden schließen nun auch Shops, deren Angebote sich schon immer an die Reichen  und Begüterten in den Bionadevierteln und Beamtenvorstädten richteten. Landunter in den Städten -  doch die Hilferufe aus der Branche werden nun offenbar in den ersten Bundesländern gehört. In Dortmund und Unna wurden jetzt die ersten Kauf-Fonds gegen das Ladensterben gestartet.

Bei diesen sogenannten "Purchase funds to prevent shops dying" (PFPSD) handelt es sich eine Idee aus Mecklenburg, die auf Vorarbeiten aus der damaligen Ex-DDR beruht. Um drohende Leerstände zu vermeiden und die City beleben, nehmen Kommunen und Länder richtig Geld in die Hand. Die Förderung funktioniert so: Wenn die Umsätze in einem bestimmten Warensegment zurückgehen, greift eine solidarische Auffanglösung. 

Der Staat springt ein

Stadt. Land und Kommune springen dann vorübergehend als Käufer ein. Sie zahlt dem Händler 70 Prozent des ausgeschilderten Kaufpreises, an den interessierten Kunden selbst werden die Waren deutlich günstiger abgegeben, nämlich für 20 Prozent des ursprünglichen Preises. Die finanzielle Lücke schließt die Stadt aus dem landesgeförderten Fonds, der etwa im Förderprogramm von Notrhein-Westfalen den offiziellen Titel "Verfügungsfonds PFPSD" trägt. Transport-, Aufbau- und Anschlusskosten etwa bei Kühlschränken, Hifi-Anlagen und Computern zahlen die neuen Besitzer selbst.

"PFPSD ist ein echter Türöffner", schildern Verantwortliche aus Dortmund die ersten Erfahrungen. Erstmals sei es damit möglich, aktiv auf die Klagen von Anbietern einzugehen, die vom Rückgang der Privatausgaben im vergangenen Jahr beeinträchtigt werden. Ein Absatzminus von acht Prozent bei IT-Produkten wie PCs, Laptops und Monitoren, Fernsehern und Haushaltsgroßgeräten wie Wasch- und Spülmaschinen sei für keinen Einzelhändler mehr ohne staatliche Stützkäufe verkraftbar, heißt es dazu.

Vielfalt entsteht

Würden Händler aber ihre Tätigkeit einstellen, drohten den Städten leere Geschäftsräume und tote Innenstädte. "Der PFPSD-Fond schafft in dieser Situation die perfekte Verbindung von solidarischer Hilfe zur Hilfe zur Selbsthilfe." Die Förderung gebe innovativen Geschäften mit modernen Angeboten die Chance, sich neu zu etablieren. "Von der zusätzlichen Vielfalt, die dabei entsteht, profitiert die gesamte City", ist auch das städtische Einkaufsmanagement im mecklenburgischen Walchenberg sicher. 

In NRW stehen für den Einkaufsfonds vorerst eine Million Euro zur Verfügung, 715.000 Euro davon stammen aus dem Programm "Zukunftsfähige Innenstädte und Ortszentren" des Landes NRW, finanziert wird das ganze Unterfangen bundesweit durch eine EZB-Anleihe, die wegen der Innovationskraft der Idee als Sonderfonds außerhalb der normalen Schuldenbremsregeln an den Markt gebracht wurde.

Was wird gefördert?

Gefördert werden Käufe von bis zu drei Artikeln pro Kunde, zeitlich ist die Förderung vorerst auf zwei Jahre begrenzt. Die Stadt betont:"Ziel ist es, die neuen Nutzer auch darüber hinaus in der City zu etablieren." Gefördert wird, was die City belebt: Möglich ist die Förderung für alle Arten von Waren, solange sie die City beleben und im Einklang mit den Quartiersprofilen stehen. PFPSD solle gerade keine neuen Tabus aufbauen, sondern quirliges Geschäftsleben in allen Facetten fördern. 

"Die Bandbreite reicht von Einzelhandel, Dienstleistungen und Gastronomie über Kinderbetreuung und Kreativangebote bis zu urbaner Produktion in Töpfereien", wirbt die Stadt Dortmund auf ihrer Internetseite für die verblüffend einfache Strategie. Innovative Ideen seien "ausdrücklich erwünscht", nur wenige Sortimente, wie beispielsweise Sex-Shops oder Wettbüros, grundsätzlich nicht förderfähig.  Hier laufen aber bereits mehrere Diskriminierungsklagen von betroffenen Sex-Händlern.

Wer Kummer mit dem Absatz seiner Waren habe oder einen Plan für eine Neueröffnung, könne sich jederzeit für die Förderung bewerben. Alle Informationen zu den verschiedenen PFPSD-Fonds finden sich im Internet, auch die entsprechenden Bewerbungsformulare für die regionalen Förderprogramme können dort digital und barrierefrei heruntergeladen werden.

In der Igelstellung: Werbung für den Wehrwillen

Junge Leute müssen wieder lernen, eine Strumpfschutzmaske zu binden.

Sie wissen nicht mehr, wie sich aus einer Strumpfhose und ein paar Zellstofftaschentüchern eine Atemschutzmaske basteln lässt, sie haben keine Ahnung, dass zum selben Zweck im Falle eines feindlichen Giftgasangriffes auch ein paar Scheuerlappen dienen können und der Schulranzen als Abwehrschild gegen einen Atomangriff ist ihnen ebenso fremd. 70 Jahre lang - viel länger sogar, als sie selbst existiert, feierte sich die EU als Friedensmacht auf einem Friedenskontinent, geehrt mit dem Friedensnobelpreis und gewillt, jeden Feind mit gutem Willen und guten Worten zum Niederlegen der Waffen zu überreden.  

Lange überzogene Kritik

Wer höhere Rüstungsausgaben verlangte, stieß bei deutschen Politikern und Medien auf hinhaltenden Widerstand. Jede Mahnung, wenigstens zu tun, was vereinbart worden war, galt als überzogene Kritik. Das größte Problem der deutschen Armee war deren Unterwanderung durch rechte Netzwerke. Die Friedensdividende kam nicht nur dem allgemeinen Wohlstand, sondern vor allem dem Freizeitbudget der nachwachsenden Generationen zugute. Kein Wehrdienst mehr und der Gerechtigkeit wegen nicht einmal mehr ein Ersatzdienst. Keine Gewissensprüfung, und keine Fron im Bausoldatenregiment, keine anderthalb Jahre und nicht einmal 15 Monate mit Taschengeldeinkommen, Frühsport, Stubendurchgang und Kostümierungspflicht.

Welche Kenntnisse und Fertigkeiten dabei verloren gingen, wird jetzt erst klar. Deutschland fehlt es nicht nur an tauglichen Reservisten, die das derzeit aktive Personal in Uniform verstärken und ersetzen könnten. Sondern sogar an flott ausbildungsfähigen Generationen mit rudimentären Kenntnissen in Selbstschutz, Zivilverteidigung und Waffenkunde. Nicht einmal 35 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, der die Bundeswehr zu einer mächtigen Streitmacht mit nahezu einer halben Million Soldaten gemacht hatte, steht im Verteidigungsfall nur eine Restarmee bereit, die selbst in voller Stärke an die Ostflanke ausgerückt jeden Kilometer mit nur hundert Mann und krummen Gewehren verteidigen müsste.

Neue wegweisende Beschlüsse

Ein halbes Jahrhundert nach dem wegweisenden Beschluss der DDR-Führung, dass Landesverteidigung zuallererst eine Erziehungsfrage sei, mehren sich denn auch die Stimmen, die Kriegstüchtigkeit schon dort wieder attraktiv machen wollen, wo Menschen noch junge und formbar sind. Eine Zeitenwende in den Klassenzimmern fordert Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger, ein Comeback des Fachs Wehrkunde und verpflichtende Lehrgänge in Zivilsschutzsachen: Wie damals die Nationale Volksarmee  Frieden und Sozialismus schützte, bis sich ihre Soldaten bei den Verfassern patriotischer Lieder allgemeine Achtung erworben hatten, soll nun die Bundeswehr raus aus der Schmuddelecke der toxischen Männlichkeit, aber auch der Einhorn-Armee mit den rosa Wickeltischen im Work-Lifetime-Balance-Panzer.

Unverkrampft soll das Verhältnis von Mädchen und Jungen zum Waffenhandwerk sein, Erste-Hilfe-Kurse im Unterricht, das Basteln von Scheuerlappenmasken und Grundkenntnisse in Waffenwirkung und Sprengkraft von verschiedenen Geschossen inbegriffen. Die Vorbereitung auf den Krieg mit dem Ziel, "unsere Widerstandsfähigkeit zu stärken", bedient sich dabei des gleichen Instrumentariums wie vor einem halben Jahrhundert. "Die Beziehung der Kinder zu den bewaffneten Streitkräften" sollen diesmal "vertieft" (DDR-Bildungsministerium) werden, indem Schulen ein "unverkrampftes Verhältnis zur Bundeswehr" (Stark-Watzinger) entwickeln.

Werbung für die Waffe

 "Werbung für die Waffe" (Taz), gerade noch Anlass für die deutsche Sozialdemokratie und ihre Gewerkschaften, eine konkrete Bedrohung des Weltfriedens zu entdecken, wird Pflichtfach. Der Versuch, Menschen in einem Alter, "in dem sich zentrale Lebens- und Wertvorstellungen erst noch entwickeln müssen", für die Notwendigkeit bewaffneter Resilienz zu begeistern, gilt nun als besonders vielversprechend, weil Jüngere "anfällig sind sie für militärische Propaganda und Verharmlosung der realen Gefahren eines militärischen Einsatzes".

Ob erst im "Klassenzimmer rekrutiert" (Taz) werden wird oder schon im Kindergarten die frohe Botschaft von den freundschaftlichen Beziehungen zu den bewaffneten Organen Lehrinhalt wird, ist noch offen, aber einer ersten Presseschau zufolge unumgänglich. Vier- und fünfjährige Kinder könnten wieder Bilder von Panzern und Raketen sammeln, um sich auf den Wehrunterricht vorzubereiten, der wie gehabt auf der Grundlage der Liebe zur Heimat "die Bereitschaft zu ihrer Verteidigung als eine entscheidende Frage ethisch-moralischer und staatsbürgerlicher Haltung" macht. 

Buschs bewaffneter Friede

Die Klassiker der hochkulturellen Indoktrination stehen weiterhin bereit: Es könnte wieder "Bewaffneter Friede" von Wilhelm Busch Lehrlektüre werden, die Ballade vom Fuchs, der des Igels Fell haben will: "Weißt du nicht, dass jeder sündigt, der immer noch gerüstet geht?" Der König habe längst Frieden verkündet. Doch der Igel erwidert: "Lass dir erst die Zähne brechen, dann wollen wir uns weitersprechen." Schnell rollt er "seinen dichten Stachelbund" zusammen - "und trotzt getrost der ganzen Welt, bewaffnet als Friedensheld". Löste die Liebe der selbsternannten Friedensmacht DDR zur Wehrhaftmachung ihrer letzten Generation noch Verwunderung aus, könnte er heute die Entwicklung der Wehrbereitschaft und Wehrfähigkeit der Schülerinnen und Schüler fördern und Mädchen wie Jungen auf die Wahrnehmung ihres in der Verfassung verbrieften Rechts auf Teilhabe am Schutz des Friedens vorbereiten. 

Die DDR begründete die Notwendigkeit der sogenannten vormilitärischen Ausbildung 1987 - zehn Jahre nach Einführung des Wehrunterrichtes -  mit den wachsenden Anforderungen, die das moderne Militärwesen stelle. Es reiche nicht mehr, in sechs Wochen Schießen, Robben und Gehorchen zu lernen, sondern nötig sei es, dem kommenden Kanonenfutter den Sinn militärischen Handelns in Zeiten atomarer Bewaffnung und einer drohenden Auslöschung der Zivilisation im Falle eines eskalierenden militärischen Konflikts verinnerlichen zu helfen.

Sonntag, 17. März 2024

Die Zaunkönige: Wer bietet weniger

Das Wettrennen um die niedrigste Obergrenze kennt nur einen Sieger: Die Feinde der offenen Gesellschaft
"Weniger als 100.000" Menschen im Jahr will Friedrich Merz künftig aufnehmen. Der CDU-Chef hofft, damit am rechten Rand punkten zu können. Abb: Kümram

Es waren rechte Populisten wie der damalige ARD-aktuell-Chefredakteur Kai Gniffke oder "Spiegel"-Kolumnist Nikolaus Blome, die zuerst und immer wieder forderten, dass "die Flüchtlingszahlen runter" müssten. Doch obwohl noch längst nicht jede Stadt von der Zahl der Neuankömmlinge überfordert ist, sickerte das süße Gift der Abschottung nach und nach in die bürgerliche Mitte. Dort frisst es sich durch die Verabredung zur Weltoffenheit. Und verschiebt die moralischen Koordinaten eines Gemeinwesens, das noch vor zehn Jahren schon viel weiter war.

Populistische Manöver

Beflügelt vom Erfolg populistischer Manöver im Vorwahlkampf um die Kanzlerkandidatenkandidatur der Union hat der Trend inzwischen Fahrt aufgenommen: EU-Beschlüsse zu Außenlagern, Turbo-Rückführungen und Schnellverfahren werden als Erfolgsmeldungen verkündet. Der Kanzler selbst flüchtete sich populistische Versprechen zu mehr Härte und "Abschiebungen im großen Stil". Die FDP drängte die Bundesländer, härter durchzugreifen. Die Grünen kippten auf einem Parteitag um. Die Linke spaltete sich und der größere Teil ihrer Wählerinnen und Wähler folgt nun offenbar denen, die nach rechts marschieren. Selbst alle verschärften Regeln und aus dem letzten Zustrom gezogenen "Lehren" (Tagesschau) vermochten den "Rechtsrutsch" nicht aufzuhalten. 

Wer politisch überleben will, muss mitrutschen.

Keine Grenzen hinter der roten Linie

Wie stets im politischen Gefecht gibt es keine Grenzen mehr, wenn die rote Linie erst überschritten ist. Wie stets entsteht ein Rhythmus, bei dem jeder mit muss. Der politische Konsens, dass das Grundgesetz keine Obergrenze vorsehe und es deshalb auch keine Obergrenze geben könne, ist mittlerweile kaputtgebröckelt. Begrenzung ja, aber eine Obergrenze?

Nein, sagt die SPD, derzeit. Nein, sagen auch Hinterbänkler der Grünen, die eine Brandmauer bewachen, hinter die längst eine deutliche Mehrheit der Bürger abgewandert ist. Nur 18 Prozent der Befragten sind noch gegen die Einführung einer Obergrenze für Zufluchtsuchende. 76 Prozent der Befragten sprechen sich inzwischen sogar offen für eine Begrenzung bei den Flüchtlingszahlen aus. 

Ohne Empörungsorkan

Nachdem der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer den Wettbewerb um eine Mengenbegrenzung mit dem Satz "50.000 oder 60.000 Flüchtlinge pro Jahr – mehr können das erst mal für die nächsten Jahre nicht sein" eröffnet hatte, blieb der übliche Empörungsorkan an. Selbst dem SPD-nahen RND gelang es mit Ach und Krach, Kritiker beim linkspopulistischen Wagenknecht-Bündnis, bei der FDP und bei der AfD zu finden. Zaunkönige überall, die um die Wette fliegen, immer tiefer.

Für Friedrich Merz ein ermutigendes Zeichen. Der CDU-Chef, der im Herbst erste Erfolge mit einer Gala-Vorstellung als radikalisierte Zahnfee feierte, hat von Söders Vorschlag einer Obergrenze von 200.000 Aufzunehmenden im Jahr die Hälfte abgezogen und Kretschmers Obergrenze von 50.000 bis 60.000 "Asylsuchenden pro Jahr" (DPA) Pi mal Daumen verdoppelt. Mit einem Vorschlag eines Flüchtlingskontingents von "weniger als 100.000" Personen jährlich führt Merz die Union in die anstehenden Wahlkämpfe. Auch sei er für die von der EU geplante Auslagerung der Asylverfahren in noch zu findende Drittstaaten, um die Attraktivität des Fluchtstandorts Deutschland zu senken.

"Türen und Herzen öffnen"

Während die Ampel-Koalition sich noch müht, die notwendigen 1,5 Millionen Zuwanderer im Jahr mit Hilfe eines neuen Gesetzes zur Einführung einer neuen Willkommenskultur zu mobilisieren, liefern sich die Populisten aller Parteien einen wahren Wettlauf um neue Hürden, höhere Barrieren und die Förderung des Fachkräftemangels. Die "Chancenkarte" spielt seit ihrer gefeierten Einführung im vergangenen Jahr keine Rolle mehr, die letzte Erwähnung der wegweisenden Erfindung datiert aus dem November 2023, als Klimawirtschaftsminister Robert Habeck noch Sorgen hatte, dass eine "abweisende Haltung in Ausländerämtern" (Habeck) den dringend benötigten Zustrom von Experten zu Versiegen bringen könnte.

Das "Fachkräfteeinwanderungsgesetz" (FKEG) sollte "Türen und Herzen" öffnen, Programmierern, Servierern und Windkraftmontierern die Ansiedlung in Deutschland erleichtern. Experten warnten schnell, dass es nicht reichen würde, zugleich aber bereits heute nicht reicht: Selbst wenn alljährlich die 330.000 Menschen kämen, die 2023 den Weg nach Deutschland fanden, wären das allen Berechnungen von Arbeitsminister Hubertus Heil und der Wirtschaftsweisen Monika Schnitzer fast 1,2 Millionen zu wenig. Schnitzer, die den Sachverständigenrat der Bundesregierung leitet, sieht im Versuch, die Zahl der Neuankünfte zu verringern, kommende volkswirtschaftliche Schäden schon angelegt. Wer "die Zahl der Arbeitskräfte halten" wolle, brauche "1,5 Millionen Zuwanderer im Jahr".

Wer bietet mehr

Nur so könne die Einwohnerzahl Deutschlands bis 2040, wenn die endgültige Klimaneutralität hergestellt werde, auf über 100 Millionen steigen, ohne dass es zu weiterem Wachstum komme, wie es der Ethikrat vorgeschlagen hat. "Eine Schwächung der Pull-Faktoren hätte katastrophale wirtschaftliche Konsequenzen für Deutschland", warnt auch der für seine treffsicheren Prognosen bekannte Ökonomiker Marcel Fratzscher. Von Wohnungsbau bis Handel, von E-Auto-Herstellern bis zur Pflege, den Dentologie und der Bundeswehr wäre die gesamte Wirtschaft betroffen, weil keine neue Nachfrage mehr importiert würde. 

Fakten, die Söder, Kretschmer und Merz, aber auch Scholz und Faeser und von der Leyen und sämtliche Populisten von Links und Rechts ausblenden, wenn sie auf einer Begrenzung der Aufnahmekapazität auf 50.000 bis 200.000 bestehen. Das Wettrennen um die niedrigste Obergrenze kennt nur einen Sieger: Die Feinde der offenen Gesellschaft, die immer dort triumphieren, wo Demokraten aus Angst vor verlorenen Wahlen auf Forderungen einer ganz kleinen Clique eingehen, die sich selbst zur Mehrheit erklärt hat.

Ein Hoch aufs Runter: Abschwung bringt Aufschwung

glücklich ist eben nicht, wer viel hat, sondern wer wenig braucht.
Jede Fabrik, die nicht mehr produziert, ist ein Schritt auf dem Planpfad in eine gute und gelingende Zukunft.

Auch die Zahlen des Chemiekonzerns Wacker Chemie bestätigten die alte Weisheit zuletzt. Fast ein Viertel weniger Umsatz, ein Gewinnrückgang um fast zwei Drittel und ein Konzernergebnis, das um drei Viertel niedriger lag als im Jahr zuvor. Doch glücklich ist eben nicht, wer viel hat, sondern wer wenig braucht. Bei Wacker Chemie ist es wie bei Deutschland: Eine geringere Auslastung der Produktionsanlagen führte zu weniger Verschleiß und damit zu mehr Umweltschutz. Das Unternehmen aus Burghausen profitiert davon, ebenso aber auch das Weltklima.

Höhenflug des Niedergangs

Ein Beispiel nur, wie Deutschland in den letzten Monaten Tempo bei der Rückkehr auf den sogenannten Planpfad zu den nationalen Klimazielen gemacht hat. Erstmals seit mehr als 30 Jahren gelang wieder eine zweistellige Senkung beim Kohlendioxidausstoß, erstmals seit der deutschen Unterschrift unter die Pariser Klimaverträge besteht zumindest rein rechnerisch die Chance, dass die globale Führungsnation bei der klimagerechten Transformation bis 2030 tatsächlich in nur sechs Jahren mehr CO2 einsparen wird als im Zeitraum zwischen 1990 und 2023.

Es ist eine Roßkur, die mit vielen Einschränkungen einhergeht. Im Unterschied zur ersten Ausstiegsphase, in der nur eine Reduzierung des CO2-Ausstoßes um ein Drittel gelang, weil die fossile Schwerindustrie unverhohlen weiterproduzierte und die Energieversorgung von Privathaushalten und öffentlichen Einrichtungen weiter rücksichtslos auf billiges Gas, gefährliche Atommeiler und heimische Kohle setzte, geht es jetzt ans Eingemachte. Schädliche Produktionsprozesse müssen zurückgefahren, alte und klimatisch ineffektive Fabriken geschlossen werden. Statt Energie selbst zu produzieren, werden neue Lieferketten geschmiedet, die große Teile des nationalen Stromverbrauchs aus der deutschen Bilanz nehmen. 

Stolz auf den Klimatrick

Klimawirtschaftsminister Robert Habeck ist zu recht stolz auf diesen Trick: "Deutschland ist auf Kurs – erstmals. Wenn wir Kurs halten, erreichen wir unsere Klimaziele 2030", erklärte der Grünen-Politiker bei der Vorstellung des Berichts zu den deutschen Klimafortschritten. Binnen nur eines Jahres ist es gelungen, den CO2-Ausstoß um mehr als zehn Prozent zu verringern

Obwohl die Bundesregierung selbst den Ausbau der Erneuerbaren als "zu langsam" bezeichnet hatte, sieht das Klimaschutzministerium jetzt den beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien als Grund für die überraschenden Klimafortschritte. Aus den derzeitigen Ergebnissen lasse sich errechnen, dass das Zwischenziel einer Senkung von 65 Prozent im Vergleich zu 1990 bis 2030 ebenso erreichbar sei wie die komplette Klimaneutralität bereits zehn Jahre später. Voraussetzung dafür sei jedoch, "weiter hart daran zu arbeiten".

Wohlstand ohne Wachstum

Und nicht weich werden, wenn es schwer wird, sich zwischen Wachstum, Wohlstand und einem guten Leben in einer nachhaltigen und klimaneutralen Gesellschaft ohne weiteres Wachstum zu entscheiden. Mehr Ausstieg, mehr Rückbau, noch mehr weniger energieintensive Produktionsverfahren, dazu weniger Verkehr und weniger Bautätigkeit - in einigen Bereichen ist Deutschland auf einem gute und gelingenden Weg. 

So gut gemacht und zum Besten aller rigoros durchgezogen, ist "Klimaschutz kein Verelendungsprogramm". Trotz aller Sparmaßnehmen dürfen sich wohlhabende Kommunen weiterhin auch mitten im Winter auf mollige 27 Grad geheizten Freibadschwimmbecken leisten. Trotz aller Unkenrufe zeigen die Ergebnisse des Opfergangs so vieler Traditionsunternehmen umgerechnet in Klimazahlen, dass "Politik wirkt" (Die Zeit).

Kapitalismus wirkt

Kapitalismus wirkt, wie der bekannte "Zeit"-Experte Mark Schieritz beschwört, einmal mehr als starker Veränderungsmotor: Wer kann, wandert ab wie lange zuvor angekündigt. Und nimmt damit zusätzliche Klimalasten von der deutschen Rechnung. Dass Robert Habeck einen schuldenfinanzierten "Brücken-Industriestrompreis" (®© BWHF) im Herbst noch für unerlässlich hielt, weil die Frage stehe, "keine Gelder aufnehmen oder keine Industrie mehr haben" (Habeck), erscheint im Nachhinein als Moment der Schwäche und Wankelmütigkeit. 

Dass es nie dazu kam und die "Einigung nach langem Streit" (Der Spiegel) stattdessen in aller Stille beerdigt wurde, ist ein Zeichen für Stärke und Vitalität. Glücklich ist nicht, wer viel hat, sondern wer wenig braucht.

Samstag, 16. März 2024

Zitate zur Zeit: Tod einer Sachverständigen


Mit jedem Satz erzählte sie mehr, als sie wusste.

P.D. James, Tod eines Sachverständigen, 1977

Der Fördermittel-Staat: Gnädige Gaben von ganz oben

Fördermittel gibt es für alles: Mit 100 Euro Begrüßungsgeld werden alle empfangen, die sich freiwillig im am meisten förderungsbedürftigen Landesteil ansiedeln.

Sie fließen hier und sie fließen da, sie kommen sogenannten Töpfen wie der süße Brei, ein nie endender Strom an Geld, auch und lieber "Gelder" genannt, die jeder gern nimmt, auch wenn der Gesetzgeber vor das Ausgeben so umfangreiche Antragsverfahren gestellt hat, dass ein Teil dessen, was da kommt, schon dafür gebraucht wird, es kommen zu lassen. Doch ohne "Fördermittel", ein Sonderbegriff, den die damals noch als Bundesamt Wort bezeichnete Bundesworthülsenfabrik (BWHF) im Herbst 1966 entwickelt hatte, um der Bundesregierung die Vermittlung der Notwendigkeit eines "Notopfers Bonn" zu ermöglichen, geht gar nichts mehr.  

Niemand kann nichts ohne "Förderung"

Kein Dorf kann sich einen Fußweg leisten, keine Stadt eine neue Lampe. Kein Bundesland ist noch in der Lage, irgendetwas zu bauen, fließt nicht ein Zuschuss aus einem "Fördermitteltopf". Selbst der Bund ist angewiesen auf Förderung, er schaut stets sehnsüchtig nach EU-Europa, wo eine 27-köpfige Kommission aus Expertinnen und Experten genau weiß, was wo nottut, angebracht ist und finanzielle Hilfe verdient. Erst dann, wenn die Kommission überzeugt ist, öffnet sie die Taschen und zahlt einen Teil des Geldes, das sie vorher vom Empfänger eingesammelt hat, an ihn zurück, auf dass er Straßen sanieren, Schulen renovieren, Flüsse naturieren, Dächer decken, Filme drehen und Busse kaufen kann. 

Ähnlich verfährt der Bund, ähnlich verfahren die Bundesländer. Jeder gibt auf Antrag, zumindest etwas. Jede zusätzliche Entscheidungsebene hat dafür ein Mitspracherecht, je mehr, desto weiter weg sie vom Ort des Geschehens ist. Welche umfassende Bedeutung Fördermittel in den zurückliegenden knapp sechs Jahrzehnten erlangt haben, zeigt allein schon die Häufigkeit, mit der sie gefordert, versprochen und debattiert werden: Der zumindest archivstatistisch grundehrliche "Spiegel" verwendet den Begriff vor 1980 ganze  zwölf Mal, zwischen 1980 und 1990 45 Mal, im darauffolgenden Jahrzehnt kommt er 177 Mal vor, in den fünf Jahren bis 2005 dann schon 264 Mal. Insgesamt spielten "Fördermittel" in den 55 Jahren von 1949 bis 2005 in 503 Fällen eine Rolle. In den 20 Jahren seitdem waren sie 1.033 Mal Thema.

Abschaffung des Subsidiaritätsprinzips

Vollkommen unvorstellbar, dass es Zeiten gegeben haben soll, in denen sich Städte selbst aufbauten, in denen Infrastrukturen ohne Zuschüsse der nächsthöheren vier Ebenen entstanden, in denen Dörfer Bäume pflanzten, Gemeinden Springbrunnen bauten und Länder vom eigenen Geld Brücken, Straßen oder auch Denkmale errichteten.

Nichts geht mehr ohne, seit das Subsidiaritätsprinzip stillschweigend abgeschafft wurde. Eine Idee, die sich einer allmählich entwickelten Masche des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl verdankt: Der CDU-Mann führte Partei und Staat über ein ausgeklügeltes System, das er "Landschaftspflege" nannte. Kohl gab denen, die ihm Treue schworen, er verteilte Fördermittel dort, wo ihm Gefolgschaft versichert wurde. Es war nicht sein Geld, aber er saß am Geldhahn. Er konnte Firmen retten, Marktplätze aufhübschen lassen und auch sonst alle unterstützen, was die wünschten, die bereit waren, ihn zu unterstützen.

Landschaftspflege überall

Kohls Landschaftspflege erfolgte allerdings noch überwiegend informell. Wie ein Alleinherrscher streute der Kanzler Gnade in Geldform über das Land, formlos zumeist. Unvorstellbar war der Fantasie des Pfälzers, dass sich seine Gutshofgeselligkeit hervorragend verbinden lassen würde mit dem Aufbau einer allumfassenden Bürokratie für die Auslobung von Förderprogrammen, die Annahme von Fördermittelanträgen, die Verteilung der Fördergelder und die Kontrolle ihrer rechtskonformen, antragsgemäßen Ausgabe. 

Erst seinen Nachfolger gelang es, aus die freihändige Verteilung umfassend zu systematisieren, die Bedürftigen vollkommen von den "Fördertöpfen" abhängig zu machen und diese Hunderte Milliarden schwere Umwälzmaschine nicht nur als eine Unerlässlichkeit, sondern als gottgegebene Selbstverständlichkeit darzustellen. Bundestagsabgeordnete sind heute stolz wie Bolle darauf, ihren Wahlkreise Fördermittel für dieses oder jenes verschafft zu haben. Auch die Parlamentarier in Straßburg sparen nicht damit zu prahlen, wie sie sich doch dafür eingesetzt hätten, dass diese oder jene Million genau dorthin fließe, um genau dieses zu fördern.

Hocherfreut über die Hälfte

Dass ein Land wie Deutschland alljährlich 30 Milliarden nach Brüssel schaufelt, um sich hernach hocherfreut etwa die Hälfte des Geldes als "Fördermittel" zurückzahlen zu lassen, die häufig als "Geschenk" (Märkische Allgemeine) gefeiert werden, gilt als ideale Lösung aller Probleme. Dass Beamte, die die Situation vor Ort so gut kennen wie Pinguine den Nordpol, am besten dann Entscheidungen treffen, wenn sie sie selbst nicht betreffen, erscheint als klügste Art, Geld immer an genau die richtige Stelle zu befördern. 

Perfekt wird das Paket durch seine politische Verpackung: Unter den großen, demokratischen Volkswirtschaften der Würde liegt Deutschland mit einer Staatsquote von rund 50 Prozent auf Platz 9. Das heißt, jeder zweite Euro, der im Land den Besitzer wechselt, kommt aus einer staatlichen Kasse oder er fließt dorthin zurück.

Ja, es ist eine Last. Wer überall mitreden will, weil er meint, sein demokratisches Mandat überantworte ihm Wirtschaft, Soziales, Privates, die Infrastruktur und die Zukunft in Gänze, hat jederzeit unendlich viele Bälle zu jonglieren. Das braucht es Mittel für den Wohnungsbau und sie reichen nie. Dort braucht es Hilfe für die eben erst erfundenen "Ernährungsarmen" (®©BWHF). Halbleiterfabriken müssen ebenso gefördert werden wie Solarparks, der Kauf von E-Autos geht nicht ohne Förderung, der von Wärmepumpen, Schulranzen, Mittagessen und Wasserstoffforschern aber auch nicht.

Überforderte Förderer

Längst sind die Förderer selbst völlig überfordert, sie haben den Überblick über all ihre Chefsachen verloren, die Bälle purzeln zu Boden und selbst das wird zuweilen noch gefördert, denn eines darf nie passieren: Dass das System infragegestellt wird, das von Bürgern über Dörfer, Städte, Landkreise und Länder allen erst die Hälfte von allem nimmt, um ihnen dann ein Viertel davon auf Antrag und zweckgebunden zurückzugeben, verpackt als großzügiges Geschenk.

Freitag, 15. März 2024

Brutale Wahrheit: Populisten lassen Wirtschaft schrumpfen

Nach Corona begann die Wirtschaft noch ein kleines Comeback, doch nach der Bundestagswahl ging es abwärts.

Es ist der Preis des Populismus, den jede Gesellschaft zahlen muss, die sich verlocken und verführen lässt. Untersuchungen von Forschern des Kieler Instituts für Weltwirtschaft lassen keinen Zweifel mehr zu: Zwei bis drei Jahre nach dem Machtantritt eines populistischen Regierungschefs beginnt der wirtschaftliche Niedergang eines jeden Landes, der sich auf einen solchen Abweg begibt.  

Ein fataler Einfluss

Der fatale Einfluss von gutgemeinten, aber falschen Wahlentscheidungen der Bürgerinnen und Bürger schlägt so direkt bis in die privaten Geldbörsen durch. Leidtragende sind oft nicht spätere Generationen, wie das in früheren Zeitaltern der Fall war. Sondern genau die Menschen, die an der Wahlurne auf falsche Versprechungen neuer grüner "Wirtschaftswunder" und rascher Erfolge umfassender Umbauten etwa in der Industrie hereingefallen waren.

Einen Zeitraum von 120 Jahre hatten sich Manuel Funke, Moritz Schularick und Christoph Trebesch für ihre Studie "Populist Leaders and the Economy" angeschaut, erstmals erkundeten sie dabei in einer umspannenden Analyse nicht nur die verheerenden Folgen populistischer Machtübernahmen für politische System, die Kultur und die Gesellschaft, sondern deren wirtschaftliche Folgen. 

Aufschwung bleibt aus

Die sind schon anhand der Zahlen und Daten nicht zu leugnen. Folgt auf Phasen wirtschaftlicher Schwäche in entwickelten Industrienationen mit demokratischen Institutionen, klaren gesetzlichen Regeln und einem Staat, der ihnen Geltung verschafft, normalerweise ein zumindest kommoder Aufschwung, bleibt der unter der Ägide von voluntaristisch handelnden Regierungen nicht nur aus, sondern er kann sich auch zu einer Dauerkrise verfestigen

Selbst kühne Rechenspiele, bei denen Währungseffekte benutzt werden, um die Lage zu schönen, und die Vermeidung vermeintlich verbrannter und von Schwarzmalern missbrauchter Fachbegriffe wie dem "R-Wort" nützt dann nichts mehr. "Mittel- und langfristig weisen praktisch alle Länder, die von Populisten regiert werden, unterdurchschnittliche wirtschaftliche Ergebnisse auf - nachweisbar durch einen erheblichen Rückgang des realen BIP und Konsums", schreiben die Autoren.

Negativer Einflussfaktor

Die 51 populistischen Regierenden, die zwischen 1900 bis 2020 in verschiedenen Staaten herrschten, waren vernichtend für die Wirtschaftskraft ihrer Länder. Nach 15 Jahren war das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im Vergleich zu einer von den Forschern angenommenen nicht-populistischen Regierungsgeschichte um zehn Prozent niedriger. Das entspricht einem negativen Einflussfaktor von 0,7 Prozent im Jahr verglichen mit dem optimalen Ergebnis, das erzielt wird, wenn Nicht-Populisten regieren. 

Wirtschaftlicher Zerfall, abnehmende makroökonomische Stabilität und die Erosion von Institutionen gehen typischerweise mit populistischer Herrschaft einher. So erreichten die Vereinigten Staaten unter Präsident Donald Trump ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 2,4 Prozent oder 2,5 Prozent, unter seinem Vorgänger Barack Obama waren es in der ersten Amtszeit nur zwei, in der zweiten nur 2,3 Prozent gewesen. 

Keine großen Sprünge

Aktuell, darauf weisen die Forscher hin, seien in mehr als einem Viertel aller Länder weltweit Populistinnen und Populisten an der Macht. Das Ifo-Institut erwartet denn auch kaum große Sprünge, gerade im immer populistischer werdenden Europa. In Italien, Ungarn, Finnland und Dänemark Populisten oder sie regieren mit, in den Niederlanden blockiert Geert Wilders seit Monaten die Bildung einer demokratischen Regierung und in Frankreich liegt die "rechtsextreme Marine Le Pen" (SZ) vor dem Wertelager Emmanuel Macrons. 

Auch in Deutschland wirken sich die Wahlergebnisse von 2021 inzwischen auch wie nach dem Lehrbuch aus: "Der Niedergang beginnt in der Regel zwei bis drei Jahre nach Machtantritt", sagen die Forscher und sie verweisen auf das zentrale Ergebnis ihrer Untersuchungen, das leider zu spät kommt, um aktuell noch etwas retten zu können: "Populistische Anführer sind schlecht für die Wirtschaft."

Angela Merkel: So sehr fehlt sie wirklich

2016 empfing Angela Merkel den US-Schauspieler George Clooney und dessen Ehefrau Amal im Kanzleramt, um ihnen Fragen zur richtigen Regieführung bei Politdramen zu beantworten.  


Sie würde fehlen, und wie. Das hatten ihre zahlreichen Freunde und Anhänger, Wähler und Parteigänger immer wieder betont. Angela Merkel, in ihren besten Tagen die mächtigste Frau der Welt, habe zweifelsohne nicht immer alles richtig gemacht. Doch wenn sie erst weg sei, werden jeder bemerken, was für ein Lücke die Ostdeutsche aus Hamburg hinterlasse. Ein Loch geradezu, nicht nur bei Anne Will, zu deren regelmäßigen Gästen sie gehörte, sobald dem Volke etwas noch besser zu erklären war, sondern auch im politischen Alltag, in dem Merkel die Geschickte des Landes mit ruhiger Hand und festem Kurs lenkte.

Unsichtbar wie sie

Ihre Nachfolger haben nun schon zwei Jahre lang alles daran gesetzt, die stille Kraft, die Merkel ausstrahlte, durch eine kollektive Anstrengung zu ersetzen. Doch das Ergebnis ist selbst nach Befinden von Gemeinsinnsendern und den Protokollführern verschiedener privatkapitalistischer Medienheuschrecken verstörend. Ja, der Kanzler führt ebenso unsichtbar wie sie es zuweilen tat. Ja, auch im aktuellen Kabinett weiß die linke Hand oft nicht, was die rechte gerade Gutes tut. Doch kaum jemand in der Welt sucht bei Olaf Scholz, Christian Lindner und Robert Habeck noch so nachdrücklich Rat und Hilfe wie es in der Ära Merkel üblich.

Es ist vieles aus dem Ruder gelaufen. Die Wirtschaft lahmt, seit Merkel fort ist. Die Gesellschaft ist gespalten wie die das Kabinett. Gehen Wahlen schief, fehlt es an dem Land an einer Institution, die energisch eingreift. Seit dem "selbstgewählten Abschied" (RND) der Frau, die die Bundestagswahl 2021 zweifellos auch wieder gewonnen hätte, ist eine Leere im Land, ein Verlustgefühl, das nicht weichen will. Der Osten hat mit ihr seine Stimme und seine einzige Vertreterin auf der Weltbühne verloren. Der Westen eine Frau, die Brücken nach Frankreich gebaut und die USA stets zur Einhaltung von Recht und Ordnung gemahnt hat. 

Verdienste, die bleiben

Das sind Verdienste, die die bleiben, die auch nicht abgegolten sind mit der Verleihung des Großkreuzes in besonderer Ausfertigung, dieser "höchstmöglichen Auszeichnung des Landes" (SZ), die Merkel als erste Hamburgerin, erste Ostdeutsche, erste FDJ-lerin und erste Sozialdemokratin erhielt. Seit einem Jahr ist Angela Merkel die erste Frau, die Großkreuz in Männergröße mit dem 100 Millimeter breiten Schulterband trägt, das vor ihr nur die beiden Rheinländer Konrad Adenauer und Helmut Kohl verliehen bekamen. Dennoch dient sie unermüdlich weiter, ganz im Gegensatz zu ihrem Vorgänger Gerhard Schröder, dem der Bundestag wegen der fehlender Fortwirkungen der Aufgaben seines früheren Amtes  Büro und Privilegien nehmen musste. 

Angela Merkel dagegen zeigt sich ungebrochen emsig, wenn auch nicht auf der ursprünglich für die Fortwirkungsorganisation reservierten Internetseite angela-merkel.de. Mit www.buero-bundeskanzlerin-ad.de hat die 69-Jährige schon seit Sommer 2022 eine Heimat im Datennetz gefunden, auf der Interessierte vom auf neun Köpfe geschrumpften Mitarbeiterstab der Wahlberlinerin über alle Aktivitäten auf dem Laufenden gehalten wird. Acht Erklärungen zu verschiedenen Problemlagen, Todesfällen und Mitgliedschaften hat Merkel allein im vergangenen Jahr veröffentlicht. Dazu nahm sie 15 Termine wahr, fünf davon verließ sie mit einem neuen Verdienstorden, Staats- oder Menschenrechtspreis oder zumindest einer Ehrendoktorwürde. 

Leben und Wirken a.D.

Fortwirkung, von der sich Schröder mehr als nur eine Scheibe abschneiden kann. Seit ihm der Bundestag die Mittel gestrichen hat, liegt die Homepage des Niedersachsen brach. Sie werde "derzeit aktualisiert" und man sei "bald wieder für Sie da" heißt es in einer beispielhaft politischen Interpretation der Lage an die "sehr geehrte/r Besucher*in". Angela Merkel dagegen wirbelt wie gewohnt, im Herbst schon erscheint ihre zusammen mit der "langjährigen politischen Beraterin Beate Baumann" (KiWi) selbstgeschriebene Biografie, die als "politische Memoiren" beworben werden, der einen "exklusiven, persönlichen Einblick geben in das politische Leben und Wirken der Bundeskanzlerin a.D." gebe. 

"Leben und Wirken der Bundeskanzlerin a.D." Die spannendsten Episoden aus ihrer Amtszeit werden da wohl ausgespart. Und die Welt wird weiter auf Nachrichten darüber warten müssen, was Angela Merkel dem US-Schauspieler George Clooney und dessen seinerzeit nur als "Ehefrau Amal" bezeichneten Begleiterin gab, als der Leinwandstar und die auf Menschenrechtsverfahren spezialisierte  Rechtsanwältin der Londoner Kanzlei Doughty Street Chambers im Kanzleramt vorsprachen, um sich Ratschläge zur richtigen Regieführung bei Politdramen geben zu lassen.

Donnerstag, 14. März 2024

EU-Zukunftsmusik: Regieren im Land Übermorgen

Wichtig ist das Design des Zielzeitraums: Die EU spielt am liebsten Zukunftsmusik

Sie versagte dabei, die Grenzen zu sichern, sie schafft es auch nach neun Jahren nicht einmal, die Mitgliedsstaaten dazu zu zwingen, ihre widerrechtlichen Grenzkontrollen endlich einzustellen. Eine europäische Flüchtlingslösung hat die EU schon öfter und vor allem viel lauter verkündet als die Vergrößerung des EU-Parlaments, sie stellt die Weltgemeinschaft mit den meisten Klimazielen und der höchsten Zahl offiziell anerkannter venezolanischer Staatspräsidenten.  

Kein anderer Kontinent

Kein anderer Kontinent hatte einen so erfolgreiche gemeinsamen Einkauf von Impfstoffen, keiner ein so großes Wiederaufbauprogramm nach der Pandemie, kein einzelnes Land nutzte den Krieg in der Ukraine so entschlossen, um über den Aufbau einer gemeinsamen Rüstungsindustrie mit Millionen lukrativer Arbeitsplätze und die Entwicklung einer eigenen Atombombe nachzudenken, ohne irgendwelche falschen Rücksichten auf die völkerrechtlichen Vorgaben des Atomwaffensperrvertrages zu nehmen.

Der Wille Europas ist Gesetz, und was der Wille Europas ist, bestimmen immer noch zwei, drei Dutzend handverlesene Führungspersönlichkeiten, die am besten wissen, worauf es ankommt. Vordringlich natürlich immer darauf, dem Schicksal zu entgehen, das Jesus Christus einst erlitt: Festgenagelt scheiterte der Erlöser am Versprechen, dass die leben werden, die an ihn glauben. Erst ein cleverer Kniff seiner Gefolgsleute verwandelte den Wortbruch in ein tragfähiges Fundament für eine Kirche, die heute reicher und mächtiger ist als jede andere Institution weltweit: "Du hast mir ein Versprechen gegeben", heißt es in 2. Samuel 7, 19, "das bis in die ferne Zukunft reicht. So gütig bist du zu den Menschen!"

Versprechen als Basis

Nicht zu bekommen, was versprochen wurde, sondern versprochen zu bekommen, dass man es bekommen wird und damit zufrieden sein zu dürfen, ist ein fundamentaler Bestandteil der Europäischen Verträge. Mag es auch sein, dass die EU scheitert, mag es sein, dass ihren führendsten Mitgliedsstaaten nach 75 Jahren Frieden keinen pünktlichen Bahnverkehr mehr haben, keine Autobahnen mehr bauen, ihre Grenzen nicht sichern und im Streit um ihre Energieversorgung von einer Abhängigkeit in die andere schlittern. Fest steht, dass es besser werden wird, nur eben nicht gleich, nicht jetzt, nicht heute. Sondern irgendwann dann, wenn alle gut glauben und sich ausreichend angestrengt haben.

Bis dahin besteht das Regieren auf europäischer Ebene im Erlass von Vorgaben für kommende Generationen. Die großen planwirtschaftlichen Programme, die die EU-Kommission in wachsender Zahl und mit beständig steigenden Volumina produziert, zielen alle auf eine Zukunft, die die greisen Granden der Gemeinschaft selbst nicht mehr erleben werden. Valdis Dombrovskis ist 52, Margrethe Vestager ist, Mark Rutte ist 57, Ursula von der Leyen  65 und Joseph Borell schon 77. 2050, im Augenblick vorgesehen als Jahr der Abrechnung all der hochfliegenden Pläne von Klimaneutralität und nachhaltiger Energieversorgung, wäre Dombrovskis 78, von der Leyen 91 und Borrell immerhin 103.

Aufregungswellen anno 2050

Keine Gefahr für keine der Spitzen der aktuellen Kommission, dass sich dann noch jemand erinnert, wer die großen Leitplanken geschmiedet hat, an denen sich die Aufregungswellen anno 2050 vielleicht brechen werden. Die detailverliebten Vorgaben von heute sind die Erfolge von morgen, und wenn nicht, dann sind die, die sie sich ausgedacht haben, zumindest nicht mehr da. 

Wie schon mit dem Energieausstieg nach einem von den damaligen Parlamentariern festgelegten Zeitplan und bei der Schuldenbremse, die ein Vorgängerparlament seinen Nachfolgern als Kette um den Hals legte, regiert die Generation Heute auch in der EU am liebsten eine weit entfernte Zukunft.  So stellt sie sicher, niemals nach ihrem Scheitern befragt und nie für die von ihr angerichteten Schäden verantwortlich gemacht zu werden.

Gern wird für die Nachgeborenen, noch lieber aber gleich für die Ungeborenen entschieden. Zu hart ist der politische Alltag im Hier und Jetzt, wo alle großen Ankündigungen welche blieben und alle naheliegenden Ziele verfehlt werden. Bequemer ist es, zu agieren, als sei man der Vormund derer, die nach einem kommen. 

Statt für die Gegenwart zu entscheiden, was angesichts grassierender Krisen schwer genug scheint, gießen sie die Zukunft mit Richtlinien, Verordnungen und völkerrechtlichen Verträgen in feste Formen. Das  Zielzeitraum-Design der EU erzählt von einer tiefen Liebe zur Zukunftsmusik. Je maximaler die Entfernung vom Jetzt, desto entschiedener der Festlegung: Bis dann da, jenes aber nicht mehr. Ab dort nur noch so, nie aber anders. 

Politik als Zukunftsmusik

Das Wesen des Regierens besteht im Bemühen, den Eindruck zu vermitteln, dass gerade jetzt, in der fürchterlicherweise besonders schrecklichen Schicksalsstunde der Menschheit, ganz besonders kompetente, weitsichtige und kluge Frauen und Männer am Runder stehen. Sie und nur sie sind in der Lage, die noch folgenden Generation auf Verhaltensregeln zu verpflichteten, auf dass sie, die dazu nicht mehr in der Lage wären, noch wissen, was sie können sollen dürfen und was sie machen müssen sollen.

Immer fuhrwerken die Verantwortlichen weit im Morgen herum, dort, wo sie keiner mehr besser kennen wird als ein 30-Jähriger heute François-Xavier Ortoli, Roy Jenkins oder Gaston Thorn kennt. Die Ewigkeit ist das Land, in dem parteiübergreifend Symbolpolitik betrieben wird. Je unabsehbarer die Entfernung vom Jetzt, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Verantwortlichen jemals wird Verantwortung für die Folgen übernehmen müssen. Ursula von der Leyen unterscheidet sich im Stil, aber nicht im Politikansatz von Robert Habeck, Olaf Scholz oder Annalena Baerbock. Sie alle glauben, dass im fernen Morgen besonders gefragt sind, weil dort Siege zu erfechten sind, indem heute Ziele verkündet werden.

Alternativantrieb: Wasserstoff für das Handtuchfeld

Herbert Haase auf einem der kleinen Elektrotraktoren, mit denen das Handtuchfeld in Sachsen klimafreundlich beackert wird.

Sie taten so, als wolle ihnen jemand ihr Lieblingsspielzeug fortnehmen. Wegen ein paar wenigen Cent, die ihnen der Staat nach vielen, vielen freigiebigen Jahren an unverdienten Subventionen zu streichen  angekündigt hatte, waren Deutschlands Bauern bereit, auf die Straße zu gehen. Nein, halt, falsch: Sie fuhren und blieben dort stehen, wo sie meinten, den größten Schaden für die Gesellschaft anrichten zu können.

Keinen Fußbreit Boden

Mit gezielten Blockaden versuchten die Landmänner und -frauen, den Unmut auf die Bundesregierung zu schüren und Mehrheitsentscheidungen, wie sie in einer Demokratie nun einmal üblich sind, zu ihren Gunsten zu kippen. Nur der Festigkeit der Ampelkoalition, die die Rechten keinen Fußbreit Boden zubilligte, ist es zu verdanken, dass das Land die Krise ohne großen gesellschaftlichen Schaden überstanden hat.

Wissenschaftler aber war eine solche Beilegung durch Druck und Kompromisse nicht genug. der Grundvorwurf der Landbevölkerung bleibe ja bestehen, sagt Herbert Haase vom Climate Watch Institute (CWI) im sächsischen Grimma. Draußen vor den Städten würden Traktoren als Teil der normalen Lebenswirklichkeit begriffen, die großen und häufig teuren Maschinen gülten als Arbeitsmittel, das zu füttern nicht weniger wichtig sei als etwa Kühe, Schweine oder Hühnchen mit Lebensmitteln zu versorgen. "Dieseltreibstoff durch Verteuerung zu verknappen, kommt bei diesen Menschen an als zwinge man sie, sich von Haustieren, langem Haar oder den eigenen Kindern zu trennen."

Bedrohte Lebensweise

Selbst intellektuell einsichtsfähige, häufig biologisch oder sogar vegan wirtschaftende Landmänner hätten ihre traditionelle Lebensweise bedroht gesehen, analysiert Herbert Haase, ein ausgewiesener Kenner der schwierigen Prozesse zur Abkehr von allem, was Deutschland in den zurückliegenden 150 Jahren wirtschaftliche Prosperität verschafft hat. dabei müsse es nicht immer Diesel, der auf dem Feld hilft, Saat und Ernte zu organisieren. "Das ist ein Irrglaube, der insoweit verständlich ist, dass er auf dem Gedanken fußt, Traktoren seien unverzichtbar." 

Haase und seine Wissenschaftlerkollegen jedoch haben auf einem Testacker in Sachsen längst den Gegenbeweis angetreten: Auf der Fläche von der Größe eines traditionellen Handtuchfeldes wird maschinenfrei gewirtschaftet, für Haase eine Entwicklung, die noch über vegane Landwirtschaft und biologischen Landbau ohne Zusatzstoffe hinausgeht. "Im Versuch konnten wir den Verbrauch an Fossilen deutlich reduzieren", rechnet er vor. Eingesetzt wurden ausschließlich Gartengeräte, die auf alternative Antriebe setzen, etwa batteriegetriebene Mini-Traktoren und zu Eggen umgebaute elektrische Rasenmäher. "Insgesamt gesehen liegt unser Dieselverbrauch bei Null", sagt Haase stolz.

Für eine Übergangszeit

Die Erträge hingegen seien im ersten Jahr "durchaus erntbar" gewesen, es wuchs also trotz des Komplettverzichts auf klimaschädlichen Diesel allerlei. Herbert Haase hält den Beweis für erbracht, dass niemand zu Ochs und Pferd zurückkehren oder sich wie in mittelalterlichen Notzeiten selbst vor den Pflug spannen müsse. "Viele Landwirte hätten diese durchaus praktikable Möglichkeit, den Dieselverbrauch kurzfristig zu senken." Für immer müsse das nicht sein, sondern nur für eine Übergangszeit, bis die großen Landmaschinenhersteller die Zeichen der Zeit erkannt hätten und auf  vollelektrische Traktoren setzten. "Im Moment lautet die Ausrede da noch, dass leistungsfähige Akkus  größer als das gesamte Fahrzeug sein müssten, um auf dem Feld eingesetzt werden zu können."

Der Widerstand der Traditionalisten aber wird geringer. Der Hersteller will den kompakten Fendt e107 V Vario vom 4. Quartal 2024 an in Serie bauen und damit ein niedliches Modell von nur einem Meter Breite und 2,5 Meter Höhe, für das endlich nicht mehr überdimensionale Garagen gebaut werden müssen. "Auch das wird viel Ressourcen sparen", ist Herbert Haase sicher. Mit 68 bis 90 PS Leistung können die neuen Mini-Trekker durchaus mit einem VW Up oder einem großen Außenbordmotor mithalten. "Und wer nur rausfährt, um nach den Kartoffeln zu schauen, kommt auch so an."

Gezielt kleine Traktoren

Setzen alle Bauern künftig gezielt kleine Traktoren dort ein, wo große nicht unbedingt benötigt würden, hülfe das dem Klima schon sehr. Nach Berechnungen der Taz würde damit jährlich allein rund eine  Milliarde Liter des momentanen Verbrauchs von 33 Milliarden Litern eingespart. Da lohnt es sich, die wenigstens einen oder zwei der kleinen E-Traktoren anzuschaffen, auch wenn  sie 50 bis 100 Prozent teurer sind als ihre alteingesessenen fossilen Kollegen. Wenn erst alle überzeugt sind, würden die Preise zudem sinken, so dass gebrauchte Modelle beinahe kostenfrei zu haben sein werden. 

Um die Monster zu ersetzen, die heute noch die Krume plattfahren, ist dann genug Geld da. Hoffnungen richten sich hier vor allem auf Biodiesel als alternativen Treibstoff, hergestellt aus Raps, der auf Feldern angebaut werden könnte, die durch den zunehmenden Fleischverzicht weiter Teile des Bevölkerung frei werden. Um fossilen Diesel komplett zu ersetzen, würden weniger als zehn Prozent der Agrarfläche benötigt - knapp die Hälfte dessen, was heute an Ackerfläche für Energiepflanzen genutzt wird. Ein schöner Nebeneffekt, denn die freiwerdenden Gebiete könnten zügig wiederaufgeforstet werden. 

Pfeiler der Elektrifizierung

Auch mit Blick auf den geplanten Umstieg auf eine Elektrifizierung bietet sich das an. Greift erst die Bundeskraftwerksstrategie mit ihrem klaren Fokus auf grünen Wasserstoff, der mit Hilfe von überflüssigem Wind- und Sonnenstrom aus Wasser und Kohlendioxid hergestellt wird, sind sogenannte E-Fuels erste Wahl für den ländlichen Einsatz. Die leichten Mehrkosten durch die vielfache Umwandlung eines Energieträgers in den anderen lassen sich durch den gezielten Aufbau großer Überkapazitäten senken. Zudem könnten pfiffige Landwirte ihre Maschinen mit Wasserstoff aus eigenem Biogas betreiben, den sie in der Freizeit "mithilfe des selbst erzeugten Stroms herstellen." 

Paar Druckbehälter hingestellt, paar Lehrgänge besucht, paar Prüfungen absolviert, fertig. Als echte Alternative nennt Haase zudem sparsamere Anbauverfahren, etwa das Pflügen ohne Pflug. Da der tief in den Boden eindringe, trotzdem aber gezogen werden müsse, verbrauchte das viel Energie. Die spare der Landmann  zu hundert Prozent, wenn er auf das Pflügen verzichte. Stattdessen könne an Regentagen versucht werden, Saat oberirdisch auszubringen. "Manches wächst auch so an." Wenn Unkraut die vielversprechende Saat bedroht, brauche es keine schwere Technik. "Das geht mechanisch mit Hacke und Hand."

Mittwoch, 13. März 2024

Einheitswippe auf der Kippe: Liegender Leuchturm

Eines Tages wird keine Klassenfahrt mehr an der Wippe vorbeikommen.

Im sächsischen Leipzig bauen sie eine eher gestreckte Variante, die Freiheit und Einheit zugleich ehren soll. Im nahegelegenen Halle wird mit dem Zukunftszentrum Deutsche Einheit und europäische Transformation ein nach oben ausgestreckter Elfenbeinturm errichtet, der künftig Millionen Besucher anziehen wird. Doch das wahre deutsche Mahnmal für den Anschluss der Ostgebiete an das Vaterland kann nur in Berlin stehen, der nur knapp zur Hauptstadt gewählten Mauermetropole, die wie keine andere Stadt weltweit bis heute geteilt ist: Im Westteil haben die Demokraten die Oberhoheit. Im Osten aber ist etwas im Rutschen.

Langfristiges Leuchtturmprojekt

Ein Leuchtturmprojekt wie das vor 20 Jahren erstmals angedachte Einheitsdenkmal vor dem Berliner Stadtschloss könnte hier heilen, alte und neue, unsichtbare Gräben zuschütten und ein Zeichen setzen für die "Bevölkerung", der im Deutschen Bundestag nur mit einem Mahnmal im Innenhof gedacht wird. 2007 beschloss der Bundestag den Bau in feierlicher Atmosphäre. Die sagenhafte friedliche Revolution und der Zusammenbruch der tragenden Mauer des kalten Krieges würde mit einem Monument gewürdigt werden, das nur zehn Millionen Euro kosten würde, zahllose kommende Generationen aber dennoch daran erinnern würde, das die Einheit so teuer erkauft war, dass SPD und Grüne ihren von Ostdeutschen und Konservativen lautstark geforderten Vollzug mit Rücksicht auf die Haushaltslage energisch ablehnten.

Nicht einmal die große "amerikanische" (Peer Steinbrück) Finanzkrise, die vor allem deutsche Staatsbanken reihenweise umkippen ließ, konnte die Baumeister irritieren. 2009 lobte die damalige Bundesregierung einen internationalen Wettbewerb aus, der Kulturschaffende in aller Welt aufforderte, den Zusammenbruch des Kommunismus im Osten, das Verlangen der Ostdeutschen nach Marktwirtschaft, Freizügigkeit und Wohlstand und das dann doch noch erreichte Einlenken der deutschen Sozialdemokratie als monumentales Werk zu gestalten. Eine Fachjury sichtete mehr als 500 Vorschläge, ohne sich auf eine Entscheidung einigen zu können.

Erster Anlauf ergebnislos

Das Verfahren endet ergebnislos. Doch schon vier Monate später - es sind verrückte Zeiten, in denen Verwaltungsentscheidungen rasend schnell vonstatten gehen - startet der nächste Wettbewerb. Diesmal kommen nur noch 386 Entwürfe, aus denen die Jury zweieinhalb Dutzend als womöglich brauchbar auswählt. Ein Zuschlag fällt nicht, dafür aber gibt es drei Preise und zwei Anerkennungen, nur verbessern müssen alle Preisträger ihre Entwürfe noch. 

Vier Jahre nach dem historischen Bundestagsbeschluss, es ist 2011, das Jahr von Arabischem Frühling, Fukushima und der Aussetzung der Wehrpflicht in Deutschland, votiert das Bundeskabinett für ein Skulptur des Büros Milla und Partner. Deren 50 Meter lange Halbschale aus Klimametall sollen Berliner und ihre Gäste bald zu Fuß erobern dürfen. Ein begehbares Objekt, das keine Schulklasse auf Klassenfahrt auslassen wird.

Kraft des Volkes

Die Kraft des Volkes, das das Gleichgewicht in der Gesellschaft immer wieder neu aushandelt, gegossen in ein Bildnis, das Deutschlands neuer Größe angemessen scheint. Es beginnt nun die Phase der Umsetzung des Monumentalwerks, wenn auch nicht unverzüglich und sofort. Kritik kommt auf, Bedenken und Angst: Ist es sicher. Kann etwas ins Rutschen kommen? 

Der Denkmal- und Unfallschutz sind ein Thema und als Ersatz für einen Neubau bringen  Verfechter des Historischen das Brandenburger Tor ins Spiel, das letztlich ja bereits genug Symbol sei für alles. 2015 ergeht dennoch die Baugenehmigung, allerdings hat sich der kalkulierte Baupreis nun auf 17 Millionen Euro um 70 Prozent erhöht. Verglichen mit anderen Projekten in der Stadt, die einst "Welthauptsatdt" werden sollte, ist das Kleingeld. 

Hürden für die Wippe

Als wahre Hürde entpuppen sich nun auch Denkmal- und Naturschutz. Fledermäuse tauchen am Bauplatz auf und mit ihnen die Furcht, sie könnten von der fertigen Wippe vertrieben werden. Im Bundestag, es ist nun der dritte damit befasste, bleibt der Wille dennoch stark: Geld wird noch nicht zur Verfügung gestellt. Aber die vierte mit dem Bau befasste Regierung schreibt die Wippe in ihrem Koalitionsvertrag fest. Hat aber nicht mit den Altlasten gerechnet. Kostbare Bodenmosaike an der Baustelle drohen zum Opfer des Gedenkens an die Heldentaten der Ostdeutschen zu werden.  Der Regisseur Christoph Lauenstein nutzt die Gelegenheit, um Urheberrechtsansprüch anzumelden: Schon  1989 habe er eine Wippe in einem Kurzfilm gezeigt. 

Das wirkt: Die erfolgreich umgesiedelten  Fledermäuse haben die Verzögerung genutzt, um zurückzukehren. Die Stadt Berlin, ohnehin schlechtgelaunt, weil sie inzwischen der Ansicht ist, dem Bund das Baugrundstück zu günstig überlassen zu haben, erlässt strenge Natur- und Artenschutzauflagen, die nicht unmöglich einzuhalten sind, aber nur mit Hilfe von viel mehr Geld.  2019 erhebt der Naturschutzbund Klage. Erst 13 Jahre nach dem Baubeschluss entsteht westdeutschen Stemwede die Stahlkonstruktion für die Ostwippe, an der der Osten nicht einmal wie sonst als verlängerte Werkbank mitwirken darf.

Am Ende ein unglücklicher Zufall

2021 meldet die Baufirma die Fertigstellung des Sockel. Fest steht damit, dass in zwei Jahren, zum 16. Jahrestag des Baubeschlusses, alles fertig sein wird. Ganz knapp geht das dann doch daneben. Dafür aber wird es noch mal teurer. Corona. Lieferketten. Inflation. Fachkräftemangel. Irgendwas mit 20 Millionen könnte aber reichen, wäre nicht nun auch noch das Stahlbauunternehmen Heinrich Rohlfing in die Insolvenz gerutscht - ein unglücklicher Zufall nach 92 Jahren Firmengeschichte, in der das Unternehmen einen Krieg und etliche Krisen überstanden hatte, ohne das Stahlbauen einzustellen.  

Dieses Jahr wird es nun nichts mehr, vielleicht aber kommendes. Das nächste runde Jubiläum, bei dem gewippt werden muss, ist erfreulicherweise erst 2029. Reichlich Luft für das berühmte Deutschlandtempo.


Partei der neuen Gerechtigkeit: Eine für alle

Bei den führenden Köpfen der EU hat sich Renhold Herger (r.) bereits vorgestellt. 

Sie sind überall, in vielen kleinen Dörfern, winzigen Bundesländern von nachrangiger Bedeutung. Sie machen Schlagzeilen bis zum Tag ihrer Gründung, verschwinden danach aber meist schnell wieder unter "Sonstige" in den Tabellen der Demoskopen. Es gab noch nie so viele Parteineugründungen wie in den zurückliegenden zwölf Monaten, alle wollen sie in die Parlamente, vor allem das EU-Parlament in Straßburg gilt als lohnendes Ziel, vielleicht zum letzten Mal, denn in fünf Jahren könnte eine Prozenthürde schon jedes schnelle Spekulieren auf ein paar lukrative Sitze verhindern. 

Die Welle an politischen Gründungen, offiziell begründet mit der Unzufriedenheit der Initiatoren mit dem Angebot der bisher etablierten Parteien, birgt aber auch Gefahren für die Demokratie: Statt die Demokratie in den zulässigen Grenzen zu bereichern, versuchen allzu viele politische Glücksritter, sich an den Rändern breit zu machen, um den demokratischen Block dort anzuknabbern, wo er am verletzlichsten erscheint.

Gerechtigkeit als Antrieb
Hot-Bird-Kassiererin Tessi Trabazian ist auch PNG-Mitglied.

Alles, nur nicht das ist Anliegen von Reinhold Herger, einem gebürtigen Ostdeutschen, der sein Glück global mit der Gründung mehrerer erfolgreicher Unternehmen gemacht hat, nun aber "etwas zurückgeben" will, wie er selbst sagt. Nicht sein Ego treibe ihn, versichert er, es gebe also überhaupt keinen Grund, sich vor seiner Gründungsinitiative ähnlich zu gruseln wie vor den Maaßens, Wagenknechts und Erdogans.

"Ich empfinde meine Idee als einen Ausdruck einer lebendigen Demokratie, die jedem Bürger auferlegt, sich auf eine Weise einzubringen, die ihm selbst am besten entspricht", sagt der Sohn eines DDR-Grenztruppenoffiziers, der den Grundstein zu seinem erfolgreichen Geschäftsimperium mit der auf Singvögel spezialisierten Fast-Food-Kette "Hot Bird"  legte.  

Erfolg mit Rote-Liste-Wochen

Über Jahre sei er mit der Verwaltung seiner Filialen in aller Welt, mit der Organisation der berühmten "Rote-Liste"-Wochen und zahllosen anderen Aktivitäten "recht eingespannt" gewesen. "Die Konkurrenz schläft nie, also darf man selbst auch nie schlafen", lacht er. Lange habe er Parteineugründungen auch eher skeptisch begrüßt. "Mir war das einfach oft zu viel special interest", umreißt der weltläufige Sachse, dem der Parteien-Boom in Deutschland Mut gemacht hat: "Erdogan-Partei, Maaßen-Partei, Wagenknecht-Partei, da ist auch für uns noch Platz", sagt er und verweist darauf, dass die Traditionsparteien nicht einmal mehr so täten, als nähmen sie die anstehende Schicksalswahl um Europa ernst.  

Natürlich sei prinzipiell jede neue Partei geeignet, das Gemeinwesen zu bereichern, Muff und Filz der etablierten Parteienlandschaft abzuschütteln und selbst über kurz oder lang einen völlig eigenen und einzigartigen Muff und Filz hervorzubringen, der für neue Wählerschichten attraktiv ist. "Ich muss aber sagen, dass ich mich selbst dort nicht gesehen habe, denn ich bin von Haus aus kein Mann für die große Bühne."

Weg mit dunklen Gedanken

Hergers Sinneswandel setzte ein, als er beim Studium der Parteiprogramme der bereits fortgeschrittenen Neugründungen feststellen musste, "dass mir das alles nicht gefällt". Reinhold Herger brütete tagelang über dem dunklen Gedanken, "dass sich so ja doch wieder nichts ändern wird". Er beriet mit Freunden, engen Vertrauten und Geschäftspartnern, die ähnlich wie er selbst mehr und mehr unter den Standortnachteilen leiden. 

Herger zählt sie alle auf, die Ursachen. Der Klimawandel, der unzureichend ausgebaute öffentliche Nah- und Fernverkehr, der hohen Krankenstand und der von den hohen Hürden bei der Einwanderung ausgelösten Fachkräftemangel. Deutschland habe großes Glück, dass wenigstens die Regierung keine Fehler mache und die Situation damit noch mehr verkompliziere. "Wenn man sich vorstellt, dass ihre Entscheidungen auch noch Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft haben könnten, dann sähe es düster aus." 

Im Park der Ostalgie

Keine Einzelmeinung, sondern ein allgemeines Grummeln. "Jeder Kollege sieht das so, viele weinen nachts in die Kissen, wagen aber nicht, sich öffentlich für Änderungen stark zu machen." Dabei, denkt der zuletzt mit dem Aufbau des "Parks der Ostalgie" in Brandenburg beschäftigte Unternehmer, sei das so dringend notwendig! "Was wir brauchen, sind höhere Renten, höhere Löhne und Gehälter, niedrigere Mieten, bessere Sozialleistungen und einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhalt." 

Als echter Selfmade-Man kam Herger von der Beschreibung des Problems unmittelbar zu einer Lösung: "Deutschland braucht eine Partei der neuen Gerechtigkeit", sagt er, "die für eine bessere Verteilung des Wohlstands sorgt, der noch da ist." Und wenn also niemand diese Partei gründet, "tja, dann müssen wir das wohl selbst in die Hand nehme", hat er seinen Unterstützern am Ende einer langen Beratungsnacht im Schloßhotel Gerbersee gesagt, das er eigens für ein geheimes Vorbereitungstreffen angemietet hatte. "Und wir sind weder entdeckt worden, noch konnte sich jemand einschleichen", sagt er stolz.

Überraschung auf dem Parteienmarkt

Die Partei der neuen Gerechtigkeit - schnittig abgekürzt so PNG - kommt so als echte Überraschung auf den deutschen Parteienmarkt. Bei der Gründungsversammlung im Kongresszentrum, das zu Hergers größter "Hot Bird"-Filiale in Guben gehört, beschlossen sich die aus mehr als 4300 Internetbewerbungen handverlesenen Gründer gleich durch ein komplettes Grundsatzprogramm. "Wir wolle ein kostenloses Grundeinkommen für alle, gekoppelt an die automatische Diätenerhöhung im Bundestag in den Sommerferien", sagt der vorläufige Parteivorsitzende. 

Das Bestechende an der Idee sei, dass das kostenlose Einkommen allen Bürgerinnen und Bürger in gleicher Höhe voll ausgezahlt werde, erst mit der Steuererklärung sollten etwaige Arbeitseinkommen, Rentenzahlungen und alle anderen Versorgungsleistung gegengerechnet werden. "Wir gewähren aber allen den gleichen Freibetrag von 999 Euro pro Kopf, der mit einem Steuersatz von Null belegt wird." Durch diese Flatsteuer bekämen am Ende alle Bürgerinnen und Bürger ein gleich hohes Einkommen. "Gerechter geht es gar nicht."

Gegen die Schere

Neid, Missgunst, die soziale Spaltung, die Schere zwischen Arm und Reich: Reinhold Herger sieht die  PNG mit ihren Vorschlägen zentral platziert, um der angestrebten neuen sozialen Gerechtigkeit rasch zum Durchbruch zu verhelfen. "Eigentlich wollten wir uns ja auch PNSG nennen, aber das NS traf nicht überall auf helle Begeisterung", sagt Herger. Man müsse da heute ja sehr vorsichtig sein, "gerade eine junge Bewegung wie unsere verbrennt schnell im Mediensturm, wenn die politische Konkurrenz ihre Pfründe verteidigt." Die PNG sei aber gut aufgestellt, "ohne Schwachmaten und Spinner", man werde sich seiner jungen Haut erfolgreich erwehren können, ist Herger zuversichtlich. "Die Menschen im Land können auf uns zählen und wir setzen darauf, dass viele ihr Kreuz bei den EU-Wahlen bei uns machen.