Freitag, 30. September 2022

Drogensucht: Umbenennung von Entzugserscheinungen

Der Tod kifft mit
Drogenopfer wehren sich: Der Tod kifft mit, aber wer überlebt, muss sich oft "Truthahn" nennen lassen.


Anfang des Jahres hat Recep Erdogan genug. Sein Land wolle international nicht mehr als "Turkey" bezeichnet werden, denn das englische Wort für Truthahn mache Jahrtausende wechselvoller, aber am Ende doch erfolgreicher Geschichte verächtlich, indem 84 Millionen Türkinnen und Türken gleichgesetzt würden mit einem Tier. Zwar handele es sich immerhin um die größte Art der Hühnervögel, die ausgewachsen und gut gepflegt eine Körperhöhe von einem Meter und ein Gewicht von zehn Kilogramm erreichen könne. Doch der auf die bizarren Lebensgewohnheiten des Hautlappenhuhns und dessen augenscheinliche Tölpelhaftigkeit im Alltagsleben abhebende Bezeichnung beleidige jeden anständigen Türk*enden.

Rasche Umbenennung

Die UN reagierte verblüffend schnell. Rascher noch als die Umbenennung von Myanmardasfrüherebirma sich als Synonym für das frühere Burma durchsetzte und viel umfassender als sich "Weißrussland" in Bjelorussland verwandelte, wurde auch "Turley" das einheimischsprachige "Türkiye". Die Vereinten Nationen bestätigten den Wechsel. Seit dem späten Frühjahr wird der inflationsgeplagte und mit der Rückabwicklung demokratischer Errungenschaften beschäftigte Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches an der Südflanke der Nato im internationalen Sprachgebrauch Türkiye genannt. 

Ein Wechsel, der anderen Mut gemacht hat. So wendet sich jetzt auch die Internationale Vereinigung der Opfer des Drogenmissbrauchs (International Association of Victims of Drug Abuse, IAVDA) gegen die übliche Praxis, Entzugserscheinungen nach dem Zittern des Truthahnes als "Turkey" zu bezeichnen. Damit würden  Folgen schwerer Abhängigkeit verharmlost und das Schicksal von leidgeplagten Drogennutzern romantisiert, heißt es im Stockholmer Büro von der IAVDA. 

Menschenverachtende Praxis

Verantwortlich für diese menschenverachtende Praxis werden von vielen Betroffenen Prominente wie der englische Musiker John Lennon gemacht, der mit seinem Lied "Cold Turkey" für die weltweite Verbreitung des Klischeebildes vom zitternden Entzugsopfer gesorgt habe. In Deutschland, heißt es bei der Malchower Niederlassung von IAVDA, habe Christiane F. mit ihrem Buch "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" dieses Bild popularisiert.

Damit soll nun Schluss sein, dafür verwendet sich auch der Weltverband der Truthahnzüchter (World Federation of Turkey Producers, WFTP), bei dessen Mitglieder*nnen schon lange Unmut darüber herrscht, dass die stolzen Zuchttiere, um die man sich so liebevoll kümmere, mit einer fragwürdigen Teildiktatur und den Folgen schweren Drogenmissbrauchs assoziiert werde. "Auch wir haben bei der Uno darum gebeten, die Verwendung dieser Bezeichnung weltweit zu untersagen", bestätigt WFTP-Sprecherin Nancy Kolohres. Bezeichungen in den jeweiligen Landessprachen - etwa Türkei und Truthahn in Deutschland, Türkiye in Ankara und Turkey in den USA - dürften aber bestehen bleiben.

Erst der Anfang

Gute Nachrichten für eine Welt im Wandel, die sich mehr und mehr zurückbesinnt auf Landessprachen, Wurzeln,  Abstammung, regionale Küche und lokale Lieferketten. tragen.  Die frühere "Turkish Airlines" heißt nun schon geraume Zeit "Türkiye Hava Yolları", folgen könnten Qatar Airways  und Emirates, die dann als الخطوط الجوية القطرية und الإمارات anzusprechen wären. Bei der Abwicklung der Fehlstellungen einer außer Rand und Band geratenen Globalisierung sind das unübersehbare Zeichen des Endes einer Ära. In der hatte selbst die EU auf das Englische als erste Amtssprache gesetzt, obwohl in der Gemeinschaft von 440 Millionen kaum sechs Millionen englische Muttersprachler leben, die zudem zumeist auf die abgelegenen Inseln Malta und Irland beschränkt sind.

Reichskraftanlagen: Die braunen Wurzeln der Windkraft

Verschwiegene Wurzeln: Die ersten Windkraftfans träumten in den 30er Jahren von der Energieautarkie.

Reihenweise melden die deutschen Windkraftanlagenbauer Probleme, wirtschaftlich sieht es schrecklich aus, es gibt Entlassungen, Schließungen von Betriebsstätten, Kapitalerhöhungen sind nötig, um wenigstens einen Rest zu retten für den Boom der "Erneuerbaren" (Robert Habeck), der eines Tages kommen wird. Deutschland, vor allem das politische Deutschland und das kommunizierende, es liebt die Vorstellung, Energie aus dem Nichts zu "erzeugen" (Ricarda Lang). Kostenlos dreht die Natur einen Rotor, kein Russe kassiert mit, wie der alte Müller am Ortsrand vor 1.000 Jahren ist das ganze Land bald autark. Und klimaneutral.  

In dunkler Zeit geträumt

Ein Traum, der schon in dunkler Zeit geträumt wurde. Damals, man schrieb das Jahr 1934, stellte der aus dem Rheinland stammende Ingenieur und Unternehmer  Hermann Honnef dem Führer und Reichskanzler Adolf Hitler seine Idee des Reichskraftturmes vor. Bis zu 500 Metern hoch und mit fünf querdrehenden Rotoren versehen, sollte ein einziger Turm eine Leistung von 20 MW bei 15 m/s Windgeschwindigkeit erzeugen - etwa viermal so viel wie ein Standardwindrad heute liefert. Nicht einmal  tausend dieser aus Stahlgestänge zusammengesetzten Riesen, so hatte Honnef ausgerechnet, würden mehr als genug Strom für alle Fabriken und Haushalte in ganz Deutschland liefern. So viel sogar, dass Äcker im Winter beheizt und vier Ernten eingefahren werden könnten.

Honnef war sich damals allerdings durchaus noch bewusst, dass der Wind nicht immer weht. Als er bei Hitler vorstellig wurde, hatte er auch für den Fall einer Frage danach, was bei Flaute passiere, eine Antwort dabei. Werde mehr Strom erzeugt als gerade gebraucht würde, solle die überflüssige Energie einfach in Wasserstoff umgewandelt werden, der dann als Energieträger für Heizungen, Busse und Lokomotiven genutzt werden könne, wenn nicht genug Wind wehe. Hermann Honnef war sich sicher, im ganzen Land Begeisterung für seine Idee wecken zu können: In seinen ersten Turm an der Berliner Avus, höher als der Eiffelturm in Paris, wollte er ganz oben in den Wolken ein Restaurant einbauen, damit Besucher zuschauen könnten, wie sein Reichskraftturm den Wind aberntet.

Der Traum von der autarken Versorgung

Wie das moderne Deutschland heute träumte auch Hitler davon, sein Reich autark zu versorgen. Keine Öl-, Gas- oder Stromimporte mehr, dafür Energie im Überfluss für alle. Auf der Basis des von Werner von Siemens bereits 1867 beschriebenen dynamoelektrischen Prinzips - einer urdeutschen Erfindung also - hatte der amerikanische Erfinder Charles Brush 1887 in Cleveland die erste Windturbine gebaut und Strom für 350 Glühbirnen und mehrere Elektromotoren erzeugt. Honnefs gigantische Krafttürme versprachen nun, die Methode auf nationaler Großebene zu etablieren. Das kleine Problem, dass die damaligen Batterien nicht annähernd genug Energie speichern konnten, würde sicher auch noch gelöst werden können.

Honnefs "Wunderwerk deutscher Ingenieurskunst" klang einfach zu gut, seine Pläne zur Wasserstoffspeicherung gar wie aus einem anderen Jahrhundert. Hitlers Reichskanzleichef Hans Heinrich Lammers verteidigte den Erfinder anfangs noch gegen kleingläubige Kritiker, doch als Hermann Honnef dann wirklich in Hitlers Vorzimmer sitzt, um seine Idee darzulegen, kommt es nicht zum Treffen. Stattdessen wird Honnef von SS-Männern festgenommen und abgeführt, angeblich, weil er beim Konkurs einer Ingenieursfirma Gläubiger betrogen haben soll. 

Ende des ersten deutschen Traums

Es ist das Ende des ersten deutschen Traums von der Gratis-Energie aus dem Wind. Nach Kriegsbeginn soll Honnef seine Großkraftwerke umplanen, weil sie zu  anfällig für Bomberangriffe seien. der Führer wolle "Kleinanlagen. Am liebsten möchte er auf jedem Dach ein Windrad sehen." Honnef baut fünf Modelltürme in der Nähe von Bötzow, 30 Meter hoch und unfähig, stabil Strom zu liefern. Er wird als "Oberclown" verlacht und ignoriert, nur einmal noch betritt er eine große Bühne, als ihm 1952 das Bundesverdienstkreuz überreicht wird. 1961 stirbt Hermann Honnef völlig verarmt, mit ihm stirbt die Idee von der Windkraftnutzung im großen Maßstab.

Donnerstag, 29. September 2022

Energieausstieg: Auf dem Weg in Zone Null

Der Rückbau der Ausstiegsgesellschaft ist keine Tagesaufgabe, sondern eine Transformation.
 
Es war ein Hammer, als die Bundesumweltminister Barbara Hendricks direkt vor der Klimakonferenz von Paris die nächste Stufe des deutschen Energieausstieges ankündigte, um internationale Kritik an der zögerlichen deutschen Ausstiegspolitik zu vermeiden. Nach der Atomenergie und der Steinkohle war nun die Braunkohle dran - zu schmutzig, zu einheimisch, zu deutsch. Ein Leuchtfeuer für eine Welt, in der Klima, CO2 und Biodiversität längst zum Morgengebet von Milliarden Menschen geworden sind. Sie alle schauten nach Berlin, sie alle staunten, wie entschlossen die Deutschen ihre von der Natur vorgesehene Führungs- wie die von Gott vorgesehene Vorbildrolle einnahmen und spielten.  
 

Neid aus aller Welt

 
Sechs Jahre später beneidet der gesamte Globus die Nation, die den Zweiten Weltkrieg noch verloren hatte, um ihre rasanten Fortschritte beim Rückbau des Energiesektors, beim Umstieg auf den Fleischausstieg und bei der Entdeckung der wohnungsnahen Naherholung anstelle eines ressourcenfressenden globalen Tourismus. Die Energieexpertin Susi Weber sieht im PPQ-Interview gute Chancen dafür, dass die Mehrzahl aller anderen Staaten Deutschland bereits in Kürze nacheifern wird. Die Thermologin des Climate Watch Institutes im sächsischen Grimma plädiert deshalb für höhere Preise im Energiesektor, von Ausstiegsprämien für Heizaussteiger und den Rückbau von Verglasungen im großen Stil.
 
 
 
PPQ: Frau Weber, mit den explodierenden Energiepreisen ist die Bundesregierung unter Druck geraten, die sanktionsgetriebenen Folgen zu deckeln und damit Preissignale auszusetzen, die uns eigentlich beim Energieausstieges helfen sollten. Was halten Sie davon?
 
Weber: Das ist kontraproduktiv. Wir sehen ja im Augenblick gerade, wo sich zeigt, wie abhängig Privathaushalte, Industrie und damit sogar die Politik von billiger Energie sind, wie abhängig wir uns von der gesamten Energiefrage gemacht haben. Deshalb sage ich: Wir brauchen einen schnellen Ausstieg, je schneller, desto besser.. So lange wir viel zu viel Strom im deutschen Stromsystem haben, wird der auch genutzt. Das treibt die CO2-Emissionen trotz unseres beispielhaften Solar- und Windstrombooms nach oben und wir drohen, unsere Klimaziele zu verfehlen. Die Welt aber schaut auf uns, wir müssen anderen Staaten Mut machen und zeigen, dass niemand Angst haben muss vor einem Leben ohne sichere Energieversorgung, ohne billige Strompreise. Wenn wir erst am Ziel sind, wird sich zeigen, dass es auch so geht.
 
PPQ: Welche Erkenntnisse haben Sie, die Sie das glauben lassen?
 
Weber: Wenn wir von Erkenntnissen sprechen, dann reden wir ja immer von Entscheidungen. Kann ich das, was ich beabsichtige, mit dem erreichen, was ich tun will? Ich sage ja, das werden wir. Es geht darum, Kraftwerke abzuschalten, damit unser Strom direkt aus der Steckdose kommen kann. Skeptiker zweifeln diese Möglichkeit an, ich aber sage, das ist noch nie ausprobiert worden und wenn man es richtig macht, wird es auch gelingen. Die unfassbar hohen Preise am Energiemarkt helfen dabei, denn niemand, der bei Verstand ist, wird 10.000 oder 20.000 Euro im Jahr für Strom, Benzin und Gas ausgeben, wenn er das Geld auch in den Ausstieg investieren kann. Wichtig ist, dass wir den Wertewandel bei der Energieversorgung jetzt nutzten und den Menschen sagen, ja, das war von Anfang an der Plan, für einen Moment mag es selbstmörderisch scheinen, aber am Ende der Transformation werden unsere Urenkel im Einklang mit der Natur leben, von ihrer Hände Arbeit auf Feldern vor dem Haus, ohne schlechtes Klimagewissen.
 
PPQ: Ein Ausstieg aus der Versorgung mit Energie also letztenendlich, wie wir sie heute noch kennen?
 
Weber: Perspektivisch sicherlich. Die Verfügbarkeit von billiger Energie führt ja immer dazu, dass es zu einem Überfluss an verfügbaren Produkten gibt, dass Preise fallen und dann nicht mehr die Kosten abbilden, die ein fragwürdiges Gerät wie ein E-Bike, die ein Einfamilienhaus oder ein Fernsehsender haben. In den Jahren des gigantischen Energieüberschuss, als die Preise aus heutiger Sicht gerade zu lächerlich niedrig waren, baute sich so ein Wohlstand auf, den viele Bürgerinnen und Bürger auf ihre fleißige Arbeit und die meisten Politiker auf ihre klugen Entscheidungen zurückführten. Der gemeinsame Wille, sich von der Grundlage des Wohlstandes, von der Basis der Wertschöpfungskette trennen zu wollen, hatte viel mit Schuldgefühlen zu tun, war aber auch von Zögerlichkeit bestimmt. Beckmesser verlangten, erst zu wissen, was danach komme, ehe sie einem Ausstieg aus dem Energiesystem insgesamt zustimmen wollten. Aber ich frage Sie: Kolumbus, als er in die neue Welt aufbrach, hat der vor dem letzten Leinen-los den Anspruch angemeldet, dass auf der anderen seite ein Begrüßungskomitee bereitsteht?
 
PPQ: Sie möchten der Gesellschaft stattdessen einen Kopfsprung ins Ungewisse zumuten, mit allen Risiken und Kosten?
 
Weber: Das ist so nicht richtig. Es mag sein, dass es auf dem Weg für einige Zeit teuer wird, vor allem subjektiv empfunden. Aber! bedenken Sie bitte, dass wir am Ende des Vollzugskorridors zum Ausstieg aus der Nutzung von Energie nicht nur tatsächlich unsere Pariser Klimaziele erreichen werden, das ist ist ganz, ganz vielen Menschen ja sehr wichtig. Nein, wir werden sie deutlich unterbieten, wir werden nahe Null landen! Und zudem: Durch den Verzicht auf Strom, Gas, Öl, Kohle, aber auch Solar- und Windenergie, deren ökologischer Ruf aus meiner Sicht leider besser ist als ihre wirkliche Ökobilanz, erreichen wir einen sogenannten Punkt Zero bei den Kosten für die Energieversorgung. Da wird nichts mehr bezahlt werden müssen, Null. Kein Strom schickt keine Rechnung, kein Gas nicht, kein Öl.
 
PPQ: Aber es wird zweifellos Klagen geben, wenn Menschen frieren, wenn sie feststellen, ihr Shampoo schäumt nicht und sowohl Bäcker als auch Lieblingskneipe haben zu?
 
Weber: Das ist ein Umstellungsprozess wie bei jeder Transformation. Dinosaurier sind dazu bestimmt, auszusterben, man kann das als Teil des Artensterbens beklagen, man kann es mit Blick auf die Biodiversität auch schade finden. Aber so ist der Gang der Dinge. Auf eines kann ich vielleicht noch hinweisen: Heute wird ja viel Propaganda gegen den - aus meiner Sicht recht lauen - Ausstiegsplan der Bundesregierung gemacht, indem man vor sogenannten Blackouts warnt und gezielt Ängste schürt. Dazu kann ich nur sagen, dass die Energiesucht unserer Gesellschaft letztlich die Ursache dafür ist, dass solche Gefahren bestehen. Lösen wir uns davon, gibt es keine Blackouts, weil es gar keine mehr geben kann.

PPQ: Was raten Sie für die private Vorsorge? Muss ein solcher Ausstieg auch energetische Insellösungen umfassen? Oder wären kleine Solarkollektoren und private Windräder weietrhin erlaubt?
 
Weber: Aus der Forschung wissen wir, dass viele Bürgerinnen und Bürger sich als sehr konservativ definieren und auch ein bisschen risikoavers sind. Sie mögen neue Dinge nicht, wollen Chancen nicht erkennen, die sich auftun. Ich glaube, hier hat es keinen Sinn, zu drängeln oder jemanden zu seinem Glück zu zwingen. Wir sprechen hier über ein Generationenprojekt, die Energiewendewelt, die  entstehen soll, wird es sicher nicht in zehn oder 20 Jahren geben, denn wir sind derzeit ja erst in der allerersten Phase des Aufbaus der entwickelten Ausstiegsgesellschaft. In 40 oder 60 Jahren werden Sie diese Frage nicht mehr stellen, da bin ich sicher.

Doku Deutschland: Der regierende Radfahrer

Assoziativ, aber anlasslos hat die Redaktion ein aktuelles Bild des jungen Künstlers Kümram zu diesem Bekenntnistext ausgewählt.  Gemälde: Kümram, Naturkreide gestrichen, karamellisiert

Ich war jedenfalls froh, als ich es hinter mir hatte. Oder anders gesagt: Ich bin froh geworden, als es vorbei war. Sie glauben doch nicht, dass ich nicht immer gewusst habe, wie hinter meinem Rücken gehetzt wurde, wie ich für manche eine Hasssfigur war, nur weil ich meine Arbeit so gut zu tun versuchte, wie ich es eben vermocht habe. Der "Dicke" war ich für die, der Flinta-Mann im Ermächtigungsraum Berlin, den man männlich las, dem man aber übelnahm, dass es keine Homestories gab mit geliehenen Möbeln und Schauspielerinnen am Arm.  

Leben in 19-Stunden-Tagen

Wenn Sie 19-Stunden-Tage haben, und die hatte ich zur Genüge, dann stört Sie das nicht weiter. Es gibt zu tun  und wenn nichts zu tun ist, dann gibt es genug, worüber endlich einmal nachgedacht werden muss, damit man gewappnet ist, wenn ein Frage beantwortet werden muss, die keiner auf dem Schirm hat. Das war meine Rolle, immer, egal, wie der Titel gerade hieß, den ich tragen durfte. Als Dicker habe ich mich nie gefühlt, diese Körperlichkeit, die ich nun einmal habe und mit der mich Mutter Natur gesegnet hat, ist doch auch mein Panzer gewesen gegen eine Welt, die noch viel zu oft auf Äußerlichkeiten schielt und abwertend über alles urteilt, das sich dem geltenden Mehrheitsgeschmack nicht unterzuordnen bereit ist.

Ich hatte wirklich auch Momente, in denen ich das Schauspiel trotzdem verflucht habe, in denen ich eine Rolle spielen musste auf Gedeih und Verderb und ja auch wollte. Ich war ein dienstbarer Geist, ein Mann, männlich gelesen, der sich nicht dafür interessiert hat, aber nicht dafür, anders gelesen zu werden als jemand, der eine Funktion hat. Heute noch, ganz allein in meiner kleinen Wohnung, die ich gemütlich, aber doch eher gutbürgerlich eingerichtet habe, werde ich rot, wenn ich meine Darstellung des Radfahrers denke. Vor laufenden Kameras! der Hintern. Der flatternde Anzug. Dieses gänzlich unstimmige Bild.

Niemand kennt mehr Heinz Erhardt

Die Idee war, Heinz Erhardts Klassiker "Immer die Radfahrer" in einem modernen Gewand wieder aufzuführen, in der Berliner Mitte und für die ganze Welt, die sehen sollte, wie Deutschland nicht nur Klimavorbild in Worten, sondern auch im konkreten Handeln ist. Ein Mann wie ich auf einem Rad wie meinem, für mich war das eine Traumkombination, mit der ich Menschen draußen im lande Ängste nehmen und sie empowern wollte, sich selbst in den Sattel zu schwingen.

Die Reaktionen waren aber so, dass ich sofort wusste: Den Erhardt-Film kennt niemand, keiner, nicht die Leute, die wir zusammengerufen hatten, damit sie über meine Fahrt berichten, und auch nicht die Menschen, die anschließend in den sozialen Netzwerken geätzt und gewitzelt haben. Dort war ich nie zu Hause, aber ich habe mich wohlgefühlt in der Situation, von fern mit Fremden sprechen  zu können, ohne die Antworten fürchten zu müssen.

Einmal wissen, dieses bleibt für immer

Haben Sie jemals in einem Kabinettssaal gesessen, in all der Unklarheit über die Lage, die immer herrscht? Mit dem ständigen Gefühl, nicht zu wissen, was getan werden sollte, und gefragt zu werden, was nun getan werden muss? Das war mein Leben, ein Leben lang. Einmal wissen, dieses bleibt für immer, wie die Dichterin geschrieben hat, der Name fällt mir im Moment nicht ein. Aber Recht hatte sie, unbedingt. Was wir tun, wenn wir solche Posten mit unserem ganzen selbst zu füllen versuchen, ist für immer, es steht in den Geschichtsbüchern, wenn wir nicht mehr sind, und Leute, die wir nicht kennen und nie gesprochen haben, urteilen darüber, ob wir richtig lagen.

Mir war es nie wichtig, wie ich beurteilt werde. Ich kannte seit meiner Schulzeit nie gerecht Beurteilungen, ich war immer das Objekt von Nachstellungen verbaler Art, von brutaler Gewalt der Worte, Abschätzigkeit und Ausschließeritis. Als ich 14 wurde, habe ich mich abgewandt, als ich 37 war, wurde ich entdeckt und erweckt von einem Menschen, dem ich heute noch zu Dankbarkeit verpflichtet bin. Aus einem Unterausschuss, in dem ich ganz glücklich war, ohne je glücklich zu sein, zog ich in die Exekutive, das Machtzentrum Europas, der ganzen Welt damals. So fühlten wir zumindest.

Trümmer des kommenden Krieges

Dass der Verfall eingesetzt hatte, dass wir auf den Trümmern eines kommenden Krieges wandelten, das fühlte ich in den Knochen. Die Ungleichzeitigkeit von, dem der man ist, und dem, der einem als zweidimensionales Selbst in der vielgesehenen Fernsehshow "Tagesschau" begegnet, sie zerreißt einen dort, wo man am wenigstens damit rechnet. Das Herz, von dem "Tagesschau"-Zuschauer meinen, ich hätte keins, fühlt sich für uns, die wir im Mechanismus der Macht zu funktionieren versuchen, an wie ein einsamer Jäger. Ein Leben auf dem Hochsitz, ausweglos.

Oft genug habe ich zu Heiko, der dort aufgewachsen ist, wo ich auch aufgewachsen bin, der aber nicht wegen seines großen, prächtigen Körpers, sondern wegen seines zwergenhaften Wuchses gehänselt wurde, offen gesagt: Heiko, wir bei gehören hier nicht hierher. Er war meiner Meinung, obwohl, er  nicht in meiner Partei war. Doch seine Strategie war Mimikry, als meine habe ich donnernde Dominanz entdeckt. 

Mann für alle Fälle

Es gefiel mehr, der Mann für alle Fälle zu sein, das Mädchen für alles im Männerkörper. Wir strebten nach Frieden, Freiheit und Glück für alle und für uns nach Machterhalt, um all das organisieren zu können. Es schien ja auch alles möglich, echte Probleme kannten wir nicht. nach einem Jahrzehnt glaubten wir alle, dass wir die Herren der Zukunft sind, nach anderthalb, als sich das Ende unübersehbar näherte, wollten wir aber nur noch lebend rauskommen. Ich bin ganz ehrlich froh, dass alles andere danach kam, dass unsere Namen schon vergessen gewesen sind und unser Entscheidungen weggespült wurden, schneller als wir das jemals geglaubt hätten. 

Nun beginnt auch für mich ein neuer Lebensabschnitt. Ich habe bisher nur wenig gemacht, was viele Menschen gern und selbstverständlich unternehmen. Urlaub, Privatleben, ein eigenes Auto, aus dem Mantel der Macht steigen, ihn an der Garderobe abgeben und die Marke wegwerfen. Ich gehe jetzt in den Teil meines Lebens, der mir bisher verwehrt war. Als Mensch. Noch bin ich nicht da, wo ich hin will. Aber auch das muss sich erst finden.

Mittwoch, 28. September 2022

Zitate zur Zeit: Barer Unsinn

Wir stecken tief in der Dekadenz; das Sensationelle gilt und nur einem strömt die Menge noch begeistert zu: dem baren Unsinn. 

Theodor Fontane

Schuss ins Knie: Sanktionen mit maximaler Wirkung

Ursula von der leyen russischer Staatsbankrott
Erst schnitt die EU richtig smarte Sanktionspakete, dann wartete sie auf den russischen Staatsbankrott.
 

So klar wie im April war die Lage selten. "Russlands Bankrott ist nur eine Frage der Zeit", verkündete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kurz nach dem Beginn des völkerrechtswidrigen Überfalls der Russen auf die Ukraine. Schon das allererste, noch recht spontan beschlossene Sanktionspaket war das allerhärteste der Weltgeschichte, es folgten Nummer zwei, drei, vier und dann hörten die Medien auf, mitzuzählen. Es wurde verschärfen und ausgeweitet, nachdem alle Türen für russische Waren zu waren, die niemand brauchte, begann die EU, auch die Annahme der Waren zu verweigern, die sie selbst dringend benötigt.  

Die Kammern der Macht

Es war wie ein Rausch, ausgebrochen in den Kammern der Macht in Brüssel, Berlin und Paris und ansteckend für jedermann, der in Medienhäusern arbeitet, als "Aktivist", Fortschrittswissenschaftler oder aufgeweckter Klugautor. Petitionen wurden herumgereicht, die den sofortigen Verzicht auf Energieträger aus Russland forderten. Offene Briefe der Kerzenmacher der Konsumgesellschaft appellierten an die Mächtigen, sofort, jetzt, gleich und unverzüglich einen Importstopp für "blutgetränktes Russen-Gas" zu verhängen, wie es Prominente Boykottforderer wie die Klimaaktivistin Luisa Neubauer, der Youtube-Aktivist Rezo, der Fernsehwissenschaftler Eckhart von Hirschhausen und der Tatort-Schauspieler Axel Prahl nannten. 

Auch wenn das den sozialen Frieden in Deutschland gefährden würde? Auch wenn das den sozialen Frieden in Deutschland gefährden würde. Wenn die Benzin- und Gaspreise aufgrund eines Importstopps stiegen, könnten die Armen doch mit dem Tesla zur Arbeit fahren. Wenn die Wohnung im Winter kalt werde, könnte der warme Gedanke an die Größe des eigenen Opferganges helfen. Müssten Firmen schließen, müsse der Staat helfen. Die deutsche Wirtschaft, ehemals eine der stärksten der Welt, konnte einen Importstopp auf russische Energie ohnehin locker verkraften, so assistierte die "Zeit": Das bisschen Rezession. Die paar Arbeitslosen mehr. Kein Ding. "Es braucht jetzt nur eine schnelle Entscheidung."

Die alten Verbindungen nach Moskau

Lag es am Zögern des Kanzlers wegen der alten Verbindungen der SPD nach Moskau? Lag es daran, dass auch die Grünen in ihrem Wahlprogramm vorgesehen hatten, das Land der unbegrenzten Erneuerbaren über eine Brücke aus "30 bis 40" neuen Erdgaskraftwerken zu erreichen? Oder lag es am mangelnden Mut der EU, den widerstrebenden ungarischen Diktator Orban gleich mit auf die Strafliste für ausgewiesene Staatsfeinde zu setzen? Die im Monatsrhythmus erlassenen Sanktionspakete der EU jedenfalls weckten vor allem große Erwartungen. Bald schon, so Ursula von der Leyen im Frühjahr, werde das Kreml-Regime zusammenbrechen. "Die Sanktionen fressen sich Woche für Woche tiefer in die russische Wirtschaft", prophezeite die 63-jährige Erfinderin des europäischen "Green Deal", der auch mehr als ein Jahr nach der pompösen Verkündigung ein Papier ist, das noch abschließend beraten werden muss.

Russlands Staatsbankrott war "nur eine Frage der Zeit", das einige Europa aber profitierte vom smarten Zuschnitt des Sanktionsregimes. "Wir haben die Sanktionspakete so geschnitten, dass wir maximale Wirkung in Russland erreichen, ohne uns zu sehr zu schaden", beruhigte die Kommissionschefin selbst aufgeregte Stimmen, die fürchteten, der Schuss Richtung Osten könne nach hinten losgehen. Während die Kommission emsig an einem "Preisdeckel für Einfuhren" (von der Leyen) arbeitete, um "die Einnahmen des Kreml zu schmälern", freute sich Wladimir Putin, dass die EU seine gesamten Kriegsanstrengungen gegen sie selbst finanzierte. 

Was immer es kostet

Nach einem halben Jahr Krieg hat der deutsche Versuch, den Weltmarkt für Gas jenseits der Lieferungen aus Russland unter dem alten EZB-Motto "whatever it takes" leerzukaufen, um die deutschen Speicher zu füllen, die Preise in solche Höhen getrieben, dass Russlands Einnahmen aus fossilen Energieexporten die Kosten der Invasion inzwischen deutlich übersteigen. 158 Milliarden Euro kassierte das Land aus Exporten über den See- und den Landweg, die EU zahlte mit 85 Milliarden Euro am meisten, gefolgt von China mit 35 Milliarden Euro. Allein aus Deutschland flossen 19 Milliarden Euro nach Moskau, das von einer Staatspleite heute so weit entfernt ist wie Deutschland von einem AKW-Streckbetrieb.

Wir haben genug Energie in Deutschland, sagt Robert Habeck. Die Sanktionen wirken, sagt Ursula von der Leyen, ein Zitat übrigens aus dem Jahre 2014, als sie sogar "sehr wohl" wirkten, wenn auch "langsam" (Die Zeit), so dass es noch etwas Geduld brauchen würde, bis Wladimir Putin die weiße Fahne aus dem Turmfenster des Spaski-Turmes schwenken werde, um Bedingungen für eine Kapitulation zu verhandeln. Sieben Jahre sind weltgeschichtlich nichts, selbst die vielkritisierte  Preisentwicklung am Strommarkt, die galoppierende Inflation und der Verfall des Außenwertes des Euro werden eines Tages, etwa beim Rückblick aus dem Jahr 2078 oder für Historiker*innen anno 2480 einen eher sehr kurzfristigen Charakter haben. 

Selbst sollte es im Winter zu einer kältebedingten Übersterblichkeit in den vulnerablen Gruppen kommen, handelt es sich nur um ein vorübergehendes Phänomen. Einen Tod muss jeder sterben, wohl dem, der die Gelegenheit bekommt, es für einen guten Zweck zu tun.

Dienstag, 27. September 2022

Vernässung: Als der Osten unterging

Das große Problem der Vernässungen hat sich jetzt in das große Problem der Trockenheit verwandelt.

S
o schlimm war es selten, viel schlimmer nie. Sachsen-Anhalt, ein Bundesland, das zu nahezu 47 Prozent aus Problemen besteht, sah sich inmitten einer nie gekannten Krise einer unerhörten Bedrohung ausgesetzt. "In vielen Regionen unseres Landes haben hohe Grundwasserstände und Vernässungen der Böden in den vergangenen Jahren viel Ärger, Probleme und Schäden auf privaten, öffentlichen und landwirtschaftlich genutzten Flächen verursacht", musste die zuständige Landwirtschaftsministerin einräumen. Der Landesbetrieb für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft sprach von etwa 27 Prozent der Gesamtfläche des Landes, die vernässt oder zumindest vernässungsgefährdet waren.  

Aufregung in Magdeburg

Das "Bundesland der regenerativen Energien" (Haseloff) zahlte bitter für den globalen Klimawandel und obgleich Forscherinnen, Forscher und Forschende des Potsdamer Klimainstitutes Hoffnung machten, dass sich das Problem in Kürze selbst auswachsen würde, herrschte Unruhe in Magdeburg. Die  Vernässung der Äcker lasse die Aussaat verfaulen, der dauernde Regen habe viele Fehler bei der Gewässerunterhaltung aufgedeckt, klagte der Bauernverband. So stünden mit Raps oder Getreide bestellte Flächen seit Wochen unter Wasser, erste Bestellversuche scheiterten, weil die frisch auflaufenden Pflanzen im Wasser verfaulten. Selbst einer zweiten Aussaat drohe wegen der anhaltenden Feuchtigkeit  das gleiche Schicksal.

Ein Land hatte nahe am Wasser gebaut und nun stand es vor dem Abgrund. Das Jahr 2012 drohte das letzte zu werden vor einer kompletten Vernässung der noch nicht einmal vollständig demokratisierten Flächen an der berüchtigten Straße der Gewalt. Ursache allerdings war damals offiziell noch nicht die weltweite Klimakatastrophe, die Deutschland am schwersten und Sachsen-Anhalt noch schwerer getroffen hatte. Sondern eine "nicht an Naturgegebenheiten angepasste Pflege von Gräben und Fließgewässern", die sich zu großen Teilen einer unklaren "Auslegung von Verwaltungsvorschriften" verdankte. Den gesetzlichen Verpflichtungen zur Gewässerunterhaltung werde zwar nachgekommen, beschwerten sich die Bauern. Das Ziel, die an die Gewässer angrenzenden Agrarflächen vor Dauervernässung zu bewahren, werde aber verfehlt.

Aussichtslose Lage

Die Lage war aussichtslos. Erst "mittelfristig", so mussten Landtag und Landesregierung zugeben, werde es möglich sein, Konzepte zu erarbeiten, um "Gewässer schnellstmöglich zu räumen,  Wassermassen abzuführen und Pumpwerke in Betrieb zu nehmen", die die "schädlichen Auswirkungen" (Bauernverband) der allgegenwärtigen Vernässungen zumindest mindern könnten. 
 
Hunderte Hektar unter Wasser stehende Ackerflächen, stellenweise überflutete Verkehrswege und nässebedingte Einschränkungen des bestimmungsgemäßen Gebrauchs von baulichen Anlagen und Grundstücken" (Landtag) waren "sichtbarer Ausdruck dafür, dass die Aufnahmefähigkeit der meisten Böden für weitere Niederschläge erschöpft war". es so viel geregnet, dass die Messstellen landesweit historische Grundwasserhöchststände verzeichneten und Bürgerinnen und Bürger vielerorts über vernässende Keller klagten.
 
Damit aber war der Höhepunkt der Krise auch schon erreicht. Als seien die öffentliche Aufregung um die Mängel bei der "Bewältigung der Gewässerunterhaltung" und der Ruf  nach einem "landkreisübergreifende n Koordination der Pflegemaßnahmen unter Einbeziehung der Betroffenen sowie die rechtzeitige Bereitstellung von Geldern zur Absicherung einer frühestmöglichen Handlungsfähigkeit der Unterhaltungsverbände" allein schon eine Medizin gegen fehlende regionale Koordinierungsgruppen, Maßnahmepläne und eine schnelle Bearbeitung von Anträgen zur Gewässerpflege, verdunstete das Thema unmittelbar nach der großen Flut des Jahres 2013.

Ausgefallene Wasserkatastrophe

Die brachte so viel Wasser, dass das bisschen Vernässung dagegen wie Morgentau in der Wüste wirkte. Alle Forderungen, der "geänderten Grundwassersituation" mit technischen und baulichen Maßnahmen, mit der Installation von Pumpen und der Neuanlage von Entwässerungsgräben zu begegnen, verstummten wie mit dem Messer abgeschnitten. Der zeitweilige Ausschuss „Grundwasserprobleme, Vernässungen und das dazugehörige Wassermanagement“  legte noch eine Karte der "potenziellen Entwässerungsbedürftigkeit" vor. Zudem wurde in der anhaltenden Entvölkerung des Landes eine Vernässungsursache ausgemacht: Seit 1990 hätten die Grundwasserentnahmen um ein Drittel abgenommen, "das hat dazu beigetragen, dass in weiten Regionen des Landes das Grundwasser ansteigt".

Ein würdiger Schlusspunkt bei der Lösung eines Menschheitsproblems, das eben noch aussah, als sei es einfach nicht zu bewältigen. Unmittelbar danach auf immer verschwand die peinigende Problematik der "Vernässung" aus den Augen, aus dem Sinn der Politiker und aus den Medien, als hätte es sie niemals gegeben. Um nach einer wohlverdienten Pause, in der Dürre und Trockenheit das Zepter übernahmen, als Retter vor einem neuen Menschheitsproblem wieder aufzutauchen: Mittlerweile gilt Vernässung als Königsweg im Kampf gegen die Austrocknung.

Putinflation: Kommt der 500-Euro-Schein zurück?

So könnte der neue alte 500-Euro-Schein aussehen, der allerdings in zehn Jahren nur noch die Hälfte der Kaufkraft hätte.


Niemandem wurde etwas weggenommen, als der Rat der Europäischen Zentralbank im Mai 2016 entschied, Produktion und Ausgabe der 500-Euro-Banknote gegen Ende des Jahres 2018 einzustellen und keine neuen Euro-Banknoten in Wert von 500 Euro mehr auszugeben. "Angesichts der internationalen Bedeutung des Euro und des großen Vertrauens in die Banknoten des Währungsraums" versprachen die Währungshüter Stabilität: Der 500-€-Schein bleibe gesetzliches Zahlungsmittel und er könne somit auch "weiter als Zahlungsmittel und Wertspeicher verwendet werden".

Maßnahme zum Selbstschutz

Allerdings müsse das Eurosystem, das die EZB und die nationalen Zentralbanken des Euro-Währungsgebiets umfasst, eben Maßnahmen ergreifen, um sich selbst zu schützen. Diebe, Gängster, Cyberhacker und Zweifler am Gesamtsystem missbrauchten den größten Euroschein, um damit illegale Geschäfte zu betreiben: Viele Geldscheine landeten unter Kopfkissen, in Mafia-Tresoren und bei Steuersündern. Die Deutsche Bundesbank und die Österreichische Nationalbank druckten am 26. April 2019 die letzten 500-Euro-Banknote. Die EZB tröstete Sammler: Die verbleibenden Stückelungen der Euro-Banknoten würden ihren Wert aber ebenso "auf Dauer behalten".

Ein Irrtum, wie sich seitdem auf dramatische Weise herausgestellt hat. Seit der Zusage der EZB, dass der Euro seinen "Wert behalten" werde, verlor ein 500-Euro-Schein etwa 60 Euro an Kaufkraft. Gemessen in Preisen von 2019 lassen sich mit einem 500er heute im Durchschnitt etwa 12 bis 15 Prozent weniger Waren bezahlen. An der Tankstelle reicht einer der Scheine nicht mehr wie damals für 350 Liter, sondern nur noch für 250, beim Bäcker gibt es statt 110 Brote nur noch 100 und am Butterregal reicht nicht mehr für 120, sondern gerade mal noch für 100 Päckchen.

500 Euro sind nur halb so viel wert

Immerhin aber lässt sich mit 500 Euro noch etwas einkaufen und dabei bleibt es vorerst auch. Die Zentralbank aber kann rechnen: Ein Fünf-Euro-Schein, der verglichen mit dem Jahr der Euro-Einführung heute nur noch eine Kaufkraft von 3,61 hat, wird in fünf Jahren gerade noch 2,57 Euro wert sein, ein 200-Euro-Schein noch 142 Euro. Die abgeschaffte 500-Euro-Banknote bewahrt zumindest etwas mehr Restwert: Sie, die seit 2001 stolze 140 Euro an Kaufkraft verlor, wäre 2027 immerhin noch kaufkräftig genug, die Hälfte der Menge an Waren und Gütern zu kaufen, die es für 500 Einführungseuro gab.

Die Notwendigkeit, den 500er Schein wiedereinzuführen, steigt mit jedem Tag. Bei einer stabilen Inflationsrate von sieben Prozent bleibt vom 500er bis zum Jahr 2040 noch ein Restwert von 130 Euro, selbst nach einem Absinken auf fünf Prozent sind es nur 188, bei der von der EZB geplanten Inflationsrate von 2 Prozent plusminus wären es 360. Abgeschafft bleibt die 500 Euro-Note also auf jeden Fall, nur wiedereingeführt bliebe noch etwas übrig, das sich auszugeben lohnt.

Montag, 26. September 2022

Umgang mit Krisen: "Wenigstens Schönreden muss man es!"

Badeparadies Europa EU Werbung
Bei der EU-Kommission in Brüssel arbeitet bereits seit Jahren ein Heer von Beamten daran, die Welt der Europäer als wahres Paradies darzustellen.

Elisabeth Schmeling wurde geboren und aufgezogen in der DDR, sie ist dem Augenschein nach eine Weiße deutsche Kulturwissenschaftlerin und transkulturelle Trainerin für Intersektionalität, Diversitätsinklusion, Rassismus- und Klimakritik sowie für kritische Weißseinsreflexion in Wissenschaft, Gesellschaft, Kultur, Kunst, Sport und Politik. Schmelings Arbeitsschwerpunkte liegen zudem in den Verschränkungen von Diaspora, Beitrittsängsten und globaler Translokalität, bei der Performativität von Anpassungskultur (Spatiality and Coloniality of Memories, Postkoloniales Erinnern) sowie in postkommunistischen Erziehungstraumata, Feminist Future Studies und Critical Race sowie Whiteness Studies.  

Seit 1990 ist sie Bundesbürgerin und Teil der feministischen Bewegung in Deutschland. Als  Politökonomin, Expertin für Nachhaltigkeitspolitik und Transformationsforschung ist Schmeling auch  international aktiv, etwa in der losen Facebook-Gruppe Frauen* bei Facebook. Um mit der Kriegs-, Klima- und Energiekrise zu leben, müsse die Gesellschaft lernen, Dinge zu nehmen, wie sie sind, ohne dabei immer nur auf steigende Kosten, sinkenden Wohlstand und Verelendung zu starren, sagt Schmeling und empfiehlt der Gesellschaft einen entspannten Umgang mit wachsender Armut, winterlicher Kälte und depressiver Stimmung. 

Das alles sei schlimm und manchmal noch schlimmer und für bestimmte vulnerable Gruppen sogar sehr. "Aber wenigstens schönreden muss man es", ist sie überzeugt.

Moralpsychologin Elisabethn Schmeling
Elisabeth Schmeling im Garten.

PPQ: Frau Schmeling, wenn man wie Sie Jahre seit dem Erscheinen des prophetischen Weltbestsellers "Die Grenzen des Wachstums" Revue passieren lässt, sind Sie dann heute mehr oder weniger überzeugt, dass die Welt untergeht?

Schmeling: Gar nicht. Aus der deutschen  Perspektive sieht es zweifelsfrei so aus, als gingen die Dinge unaufhaltsam ihrem Ende zu. Auch meine Alltagspraxis ist so: Der Bäcker hat zugemacht, der Supermarkt erinnert mich an den Intershop, von dem alte DDR-Bürgerinnen mit leuchtenden Augen erzählen. Ich kann mich noch erinnern, dass wir als Kinder früher versucht haben, unsere Eltern dahingehend zu instrumentalisieren, dass sie uns Süßigkeiten kauften, die die Verkaufspsychologen der weltumspannenden Konsumkonzerne an den Kassen platzierten, damit wir dort regelrecht quengelten. Heute erscheint mir manchmal das ganze Leben wie eine Quengelkasse - dies geht nicht mehr, das ist unmöglich. Wer atmet, bringt den Planeten um, wer heizt, mordet den Wald, wer warm duscht, hilft Putin. Ich mahne mich dann immer, in der Krisenaufnahme nicht zu übertreiben. Es ist fürchterlich, aber es konnte doch alles noch viel schrecklicher sein.

PPQ: Menschen wissen nicht, wie sie durch den Winter kommen sollen, Unternehmen schließen, die Natur geht vor Hunde, die Pariser Klimaziele sind schon gar kein Thema mehr und die Bundesregierung mutet an wie ein Gebetskreis. Was soll da Hoffnung machen?

Schmeling: Wenn Sie wie ich mit Tschernobyl aufgewachsen sind, mit der Mauer, Stacheldraht, der gegenseitigen Atombedrohung, Chemiewaffen, Waldsterben, Ozonloch, Soweto, der Schande von Gijon, dann haben Sie im Leben so viele Schreckmomente absolviert, dass Ihnen das unheimlich hilft, sich resilient zu verhalten. Dass da draußen immer wieder Gefahren auftauchen, der islamische Terrorismus, der IS, China, Corona, Krieg vor der Haustür, ist für mich zunächst mal nur faszinierend, weil sich im Grunde genommen nie vorhersehen lässt, aus welcher Richtung der nächste Einschlag kommen wird. Deshalb denke ich auch eher über die größeren Zusammenhänge nach. 

PPQ: Inwiefern hilft das? Inwiefern kann es uns allen helfen?

Schmeling: Sehen Sie, dieser Bericht des Club of Rome, der seinerzeit so viel Furore gemacht hat, weil er den Untergang der Welt nicht nur vorhergesagt, sondern in genau datiert hat, der ist im Lauf der Zeit aus der Wahrnehmung verschwunden. Dafür kam erst dies, dann das, dann etwas anderes. Und nun haben wir den Klimawandel, die globale Seuche und einen Energieausstieg, der zu aller Überraschung mit astronomischen Preissteigerungen für die Nutzung der letzten paar Energieerzeuger einhergeht. Hätte man das wissen können? Sicherlich. Haben wir es wissen wollen? Sicherlich nicht. Und das ist sehr gut so.

PPQ: Wieso gut? Dadurch sind wir doch erst in Putins Falle gegangen?

Schmeling: Das mag so sein. Aber haben wir nicht in all den Jahren wenigstens noch sehr gut gelebt? Was wäre dann anders gekommen, hätte man sich vor 20, 10 oder fünf Jahren entschlossen, auf russisches Gas zu verzichten, während man gleichzeitig aus Kernkraft, Kohle und Öl aussteigt? Die Preise wären dann damals so in die Höhe geschossen, der Wohlstand wäre damals schon abgebaut worden und der Mittelstand zurückgefallen in die Unterschicht. Ich sage deshalb, wir sollten dankbar sein für die gute Zeit, die wir hatten. Besser sie war lang als kurz, auch wenn das Ende uns nun grausam vorkommt.

PPQ: Sie sind bereit, das einfach so zu akzeptieren? Regt sich da nicht auch in Ihnen Widerstand?

Schmeling: Reflexhaft schon, ich habe schließlich auch mal gegen die Haltungen meiner Eltern rebelliert und zeitweise  Öko-Magazine ausgetragen, Secondhand-Klamotten getragen und sogar mal einen Monat lang versucht, nur von Laub zu leben (lacht). Aber leben heißt lernen und erwachsen werden heißt, Realitäten akzeptieren. Mitte der 80er Jahre haben wir Tschernobyl und sauren Regen, Helmut Kohl als Kanzler, den Nato-Nachrüstungsbeschluss, 10 Prozent Zinsen und Verbrüderungsgespräche zwischen SPD und SED für völlig normal gehalten, das war alles einfach Teil unseres Lebensalltags. Heute stehen wir nun vor der Aufgabe, diese neue Welt von Transformation, Zeitenwende und Wohlstandsabbau als normal zu erlernen. Das erscheint vielleicht hart, für jemanden aus Generationen, die noch mit Rauchen, Alkoholtrinken, Party, Bratwurst und eigenem Auto aufgewachsen ist. Es ist aber unerlässlich.

PPQ: Es gibt kein Zurück? Keine Hoffnung darauf, dass wir mit Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit, Energiesparsamkeit und smarten Prozessen eines Tages wieder leben können werden dürfen wie früher?

Schmeling: Keine Chance. Natürlich wird es weiterhin Klimagipfel voll ehrgeiziger Abkommen geben, parallel zu weiterhin steigenden Emissionen. Doch werden Menschen deshalb aufhören, Nahrung zu sich zu nehmen? Werden sie aufhören, dabei nach möglichst schmackhaften Speisen zu möglichst niedrigen Preisen zu suchen? Sie müssen nicht antworten, ich sage es Ihnen: Eher wird die Bundesliga aufhören, Fußball zu spielen und dafür nachhaltig ganz normale Würfel zum Ausspielen der Ergebnisse nutzen als dass das geschieht.

PPQ: Was können wir denn aber aus Ihrer Sicht überhaupt noch tun? Ist denn alles verloren?

Schmeling: Ich finde schon die Frage nicht allzu hilfreich. Im Prinzip ist es zwar richtig, eine eigene Mitwirkung an der Gestaltung des eigenen Lebens anzustreben. Aber wir haben es hier mit wissenschaftlich fundierten Klimaziele zu tun, mit einem Energieweltmarkt, mit Putin und seiner undurchschaubaren Strategie und mit der EU, die die Überschreitung unserer CO2-Budgets stillschweigend hinnimmt, weil alles andere gravierende Konsequenzen nach sich ziehen würde, die dann sicherlich die gesamte europäische Gemeinschaft sprengen würden. Das würde nicht nur sehr teuer werden, sondern noch viel teurer als jetzt. Nein, das ist kein Ausweg.

PPQ: Der liegt aus Ihrer Sicht wo?

Schmeling: Akzeptanz, Anpassung und das Ganze flankiert mit einem Narrativ unablässiger Werbebotschaften. Dass Konsumismus Wohlstand mehrt, ist doch kein Naturzustand, sondern eine Einflüsterung renditegieriger Konzerne. Das brauchen wir alles nicht, wir können auch karg leben. Wer bettelarm ist, ist glücklich, denn er hat nichts mehr zu verlieren. Meine Botschaft lautet also? Weder wie ein Reh im Scheinwerferkegel aufs herannahende Temperaturziel zu starren noch wie ein Faultier irgendwann vom brennenden Baum zu plumpsen, sondern sich klarzumachen: Wir brauchen jetzt Geduld, uns an die neue Lage zu gewöhnen, an verzehnfachte Energiepreise, an leere Regale, an einen Abschied vom 1,5 Grad-Ziel, an die Aufgabe des Traums vom eigenen Auto und vom eigenen Häuschen. An Wärmestuben, an ein Zusammenrücken mit Wildfremden. Aus krisenkommunikativer Sicht ist es umso wichtiger, das alles wenigstens Schönzureden, um das Mindset der Menschen so zu beeinflussen, dass sie die Veränderung stillschweigend hinnehmen. 

PPQ: Dazu bräuchten wir Argumente, die den Wohlstandsabbau als Preis für etwas Erstrebenswertes erscheinen lässt. 

Schmeling: Das ist richtig. Wir brauchen deshalb quantifizierbare Zielgrößen, einen sozialistischen Wettbewerb mit vielen kleinen Zwischenzielen, die den Bürgerinnen und Bürgern zeigen, dass wir auf Kurs sind. Dass wir unbequemer leben, aber dennoch mehr Emissionen als zuvor auszustoßen, darf dabei keine Rolle spielen. Denn je weniger der Kurs als solcher infrage gestellt wird, umso konsequenter ist die Lenkungswirkung von politischen Mitteln wie Verboten, Geboten, Regeln und anweisenden Bitten. Bewegt sich etwas, bewegt sich alles und dadurch werden dann auch die Aufmerksamkeit und die Alltagspraxis der Menschen verändert. 

PPQ: Wie kann jeder für sich dabei helfen? 

Schmeling: Ja, kann er. Voraussetzung ist, dass wir die Menschheit nicht mehr unbedingt als lernbereite, anpassungsfähige und kreative Spezies wahrzunehmen versuchen, die hunderttausende Jahre Geschichte überlebt hat und ihre Zukunft selbst gestalten kann, sondern als ferngelenkte, von fremden Mächten und Großkonzernen einem Konsum-, Bequemlichkeits- und Anspruchsnarrativ unterworfene tumbe Masse, die mit Appellen an Vernunft und Eigenverantwortung nicht erreichbar ist. Lösungen für das restliche  21. Jahrhundert müssen deshalb so kommuniziert werden, dass jene, die überzeugt werden sollen, sich  überzeugen lassen müssen - sei es durch das Schüren von Ängsten, sei es durch klare Schranken für die Weiterführung eines ressourcenintensiven Lebens. Die Corona-Maßnahmen haben gezeigt, dass alle bereit sind, alles mitzumachen, wenn alle mitmachen müssen. Die meisten sind nicht bereit, ihr Verhalten zu verändern, ehe nicht alle dazu gezwungen werden. Dann aber sind sie erfahrungsgemäß mit Feuereifer dabei.

Krieg, Klima, Wetter: Die letzten Tage der deutschen Menschheit

Klima Wasser bis zum Hals
Beinahe bis zum Halse steht der Menschheit das Wasser.

Der Klimawandel ist längst schmerzhaft in Deutschland angekommen: extreme Hitze, lang anhaltende Dürre, Starkniederschläge mit Überschwemmungen und Tornados, Trockenheit, dann wieder Regen, Sonne, Wind und Frühlingstemperaturen, die an einen April erinnern: Mal zu warm, mal zu kalt, kaum einmal direkt am und auf dem langjährigen Durchschnittsbereich. Herbert Haase vom Klimawatch-Institut im sächsischen Grimma (CLW) widmet sein neues Buch mit dem Titel "Die letzten Tage der Menschheit" diesen Fragen.

Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Welche Folgen haben ständige Abweichungen vom Klimadurchschnitt? Und was lässt sich tun, um Wetter zu haben wie früher, als es den Begriff Starkregen nicht gab und der Deutsche Wetterdienst (DWD) noch nicht 210 000 manuell erstellte Wetterwarnungen sowie rund 10 000 Un- wetterwarnungen und extreme Unwetterwarnungen  im Jahr herausgeben musste - immerhin 600 am Tag oder umgerechnet 3,5 pro DWD-Beschäftigten.

Was hat das mit der Klimakatastrophe zu tun? Woher kommen die schon im Niedrigtemperaturbereich rot glühenden Wetterwandelkarten? Was lässt sich aus den dort gezeigten Anlassfarben herauslesen,  ökologisch, ökonomisch, politisch und gesellschaftlich?Und wer wird das alles bezahlen können - die umfassende Grundsanierung von 40.000 Kilometern Schienennetz der Bahn, die 6.000 kaputten Brücken, von denen 2.500 einsturzgefährdet sind? Den Ausstieg aus den Fossilen und die Neuanschaffung von 37 Millionen Elektrokraftfahrzeugen binnen eines Jahrzehnts? Die Verschrottung derselben Anzahl an Verbrennern durch Export nach Osten? Den Ausbau der Ladeinfrastruktur parallel zur Umrüstung des gesamten Landes aus Wärmepumpe mit Windantrieb?

Der Countdown läuft

Haase, ein Mann seines Fachs, weiß es auch nicht. Doch die Klimaexperten der Vereinten Nationen schlügen Alarm, sagt er, "das 1,5-Grad-Ziel steht auf der Kippe und könnte bereits in den nächsten fünf Jahren gerissen werden". Deutschland stände dann blamiert da wie bei der Helmlieferung an die Ukraine. "Völkerrechtlich hätte ein solcher Verstoß vermutlich nicht sofort Konsequenzen", glaubt der Wissenschaftler, "doch was nicht ist, kann noch werden". Mit seiner Entscheidung zur augenblicklichen Bindungswirkung jugendlicher Ängste vor kommendem Unheil habe das Bundesverfassungsgericht gezeigt, dass frühere rechtliche Hürden zwischen einer von vorherigen Generationen zu garantierenden hübschen Zukunft und einer lebenswerten Gegenwart obsolet sein können. "Der Menschengerichtshof könnte das eines Tages ebenso sehen."

Die Gradzahl, festgeschrieben im Pariser Kliamabkommen, steht dennoch bedrohlich im globalen Raum, sie verändert sich nur wenig, zu wenig, wie Haase findet. Werde der Wert nicht weiterhin angepasst - Haase rät zu 2,5 Grad - könnte er nachhaltig überschritten werden. Diese Aussicht habe dann aber schon zuvor vermutlich massive Folgen mit zunehmenden Schäden für den Menschen und unsere Lebensgrundlagen. "Intakte Teile der Wirtschaft werden zurückgefahren, Freiheitsrechte müssten eingeschränkt werden, wir ständen vor der Frage der Triage bei der Energieversorgung." Nicht jede und jeder könne dann immer mit Strom versorgt werden, Priorität hätten Verteidigungsanstrengungen, Altenheime und die Lieferung medizinischer Güter.  

Erwärmungsangst und ihre Auswirkungen

Eine Welt, die Herbert Haase in seinem Wissenschaftsthriller im Detail beschreibt. Seine Revolution im Klimaschutz, bevor uns die Zeit davonläuft, ignoriert das "Weiter so wie bisher" als Option. Die globale Erwärmungsangst sei sinnstiftend für eine ganze Generation, folgert der Forscher: Bis heute betrage die globale Erwärmung bereits 1,1 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit, ohne dass die höheren Temperaturen dazu geführt hätten, dass weltweit Wohlstandverluste eingetreten, sich Hungerkrisen gemehrt und Extremwetterereignisse linear zugenommen hätten. "Dennoch gehört die Furcht vor den letzten 0,4 Grad Erwärmung bis zum Pariser Klimaziel schon fast zu unserem Alltag."

Eine irrationale Angst, allenfalls vergleichbar mit der urdeutschen Furcht vor der Geldentwertung und der Angst der Franzosen davor, dass Deutschland Europa dominiert. Nach Herbert Haases kritischen Berechnungen verursacht das Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber globalen Entwicklungen, die von Deutschland aus kaum zu regeln sind, massive Zerstörungen. Intakte Kraftwerke wurden reihenweise abgeschaltet, stattdessen errichteten wirtschaftlich interessierte Großkonzerne Windkraftanlagen mit einem Gesamtgewicht von 150 Millionen Tonnen Stahl, Beton und Hochleistungsplastik allein in Deutschland. Große Teile des Materials wurden auch China importiert.

Untergang der Osterinsel

Bilder, die Haase an die Jahre vor dem Untergang der Osterinsel erinnern. Dort scharten sich die verzweifelten Menschen zusammen, um ihre berühmten Moai-Statuen zu aufzurichten, die den Klimawandel aufhalten sollten. Heute sind es die hohen, schlanken Türme mit den Windrotoren, die wie eine Beschwörung noch vorhandener Hoffnungsschimmer dafür stehen, "dass wir das 1,5-Grad-Ziel erreichen werden". Dass die Politik wieder und wieder betone, den Ernst der Lage erkannt zu haben, beunruhige ihn, so sagt der Wissenschaftler. "Im Normalfall geschieht das allen historischen Erfahrungen nach immer erst, wenn es schon viel zu spät ist, eine Krise abzuwenden."

Herbert Haase sieht den Ausstieg aus den fossilen Energien mit großer Zufriedenheit, doch er bleibt skeptisch was den Ersatz durch bisher großtechnisch nicht einmal prototypisch vorhandene Technologien angeht. "Der Energieausstieg ist im vollen Gange, und auch die Wirtschaft denkt um", beschreibt er, "aber der Wandel hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft innerhalb weniger Jahrzehnte benötigt letztlich wahrscheinlich doch eine stabile Energieversorgung." Das Heizen, die Stromversorgung  und den Betrieb auch von lebensrettenden Systemen in Krankenhäusern abhängig zu machen vom "Wollen", wie es der führende deutsche Klimaforschende Mojib Latif empfohlen hat, halte er für ebenso blauäugig wie die Idee, ein "komplettes Umdenken" (Latif) könne Haushalte und Wirtschaft in Deutschland künftig mit Energie versorgen.

Sonntag, 25. September 2022

Doku Deutschland: Senior in Sparmodus

Heinz Müller ist ein Sparer der ersten Stunde. schon im März, draußen war es noch bitterkalt, begann der 73-jährige Heidenheimer, sein kleines Einfamilienhaus zu dämmen. "Ich habe Steinwolleplatten im Baumarkt gekauft, sie mit dem Bollerwagen nach Hause gefahren und sie an die Fassade geklebt", beschreibt der frühere Schichtingeneur  bei einem großen Getränkehersteller. Müller muss experimentieren, denn den "chemieversuchten Kleber", wie er ihn nennt, zu nehmen, den die Fachfrau im Baumarkt empfohlen hat, lehnt er ab. "Das zerstört unsere Umwelt doch erst recht", sagt er. Gibt aber auch zu, dass er sich später revidieren musste. "Mein Plan, das mit der im Mittelalter üblichen Mischung aus Dung, Blut und Lehm zu erledigen, ging nicht auf."

Senior in Sparmodus

Zum Ausgleich hat Heinz Müller seine Heizung in den Sparmodus versetzt und seine Duschgewohnheiten strikt umgestellt. "Das war noch, ehe die Bundespolitik mit ihren Sparappellen begonnen hat", sagt er schon ein bisschen stolz. Er habe die Situation annehmen wollen, die möglichen  Szenarien im Kopf durchgespielt und sich Gedanken gemacht, wie er sich damit freiwillig anfreunden könne. Der Spritpreis sei ihm seit jeher egal, er fahre so wenig, und wenn, dann nicht weit. Im Ruhestand sei es sogar noch weitaus weniger geworden, denn er müsse nun nicht mehr jeden Tag zum Arbeitsplatz fahren. 

Meine Entscheidung stand im Grunde genommen nach einer Nacht fest", erinnert er sich. Damals, als die Talkshows noch in Dauerschleife über den Krieg berichteten und Militärexperten die Vormarschtaktiken der Russen bei Youtube erklärten, habe er sich "ein für allemal" entschlossen, nur noch Fahrrad zu fahren, wenn er Besorgungen zu machen habe. "Zumindest, wenn das Wetter mitspielt und das Ziel in erreichbarer Entfernung liegt", wie Heinz Müller konkretisiert. Seine ökologischen Überzeugungen seien lange gereift, "im Grunde genommen hat es mit meiner Vorliebe für Äpfel angefangen, ging dann weiter mit Biofleisch und das habe ich dann auch hinter mir gelassen." 

Ein Mann klarer Überzeugungen

Müller ist heute Ethiker aus sich selbst heraus, ein Mann klarer Überzeugungen und praktischer Überlegungen, der in Kosten-Nutzen-Kategorien denkt. Seine Einkäufe erledige er nicht täglich, sondern nur, wenn er etwas brauche. Sein Haus habe er winterfest gemacht, einen klimaneutralen Kanonenofen eingebaut und dazu einen "durchaus funktionierenden Rauchabzug" durchs Fenster, für dessen Konstruktion er sich das Glasschneiden mit Hilfe von mehreren Youtube-Videos selbst beibrachte. Müller räumt ein, dass er vom öffentlichen Nahverkehr weiterhin nicht begeistert ist. "Ich weiß, das sollte man nicht sagen, aber es ist eben so."

Dafür aber sei er schon immer für ein Tempolimit gewesen, weil er selbst noch nie schneller als 130 gefahren sei, ausgenommen, ein Stau oder unerwartete Bauarbeiten auf seiner Strecke zwangen ihn dazu, um verlorene Zeit aufzuholen. "Das verdanke ich dem kleinen Preußen in mir", gesteht Heinz Müller, "der zwingt mich, pünktlich zu sein, wenn ich eine Verabredung habe." Das sei wohl eine genetische Sache. Vielleicht hänge es mit seinem Vater zusammen, der Uhrmachermeister gewesen sei und "der pünktlichste Mensch, den ich kenne oder besser kannte".

Tugend aus dem Garten

Eine Tugend, die Heinz Müller jetzt im Alter in seinem kleinen Garten wiederfindet. "Dort wächst, was man sät", sagt er. Standen hinterm Haus, das er seit dem Tod seiner Frau und dem Auszug der Kinder allein bewohnt, früher nur ein paar Tulpen, "die liebte meine Frau eben", finden sich durch heute Stachelbeeren, Tomaten, Gurken und Bohnen. "Pflanzen, die ich kenne und bei denen ich mich sicher fühle." Als überaus belesener Mensch definiere er ganz allein für sich, im Sinne von Kant, "was für mich Vernunft und vernünftig heißt". Richtschnur dabei sei ihm aber das, was die Gesellschaft kollektiv definiert habe. "Ich brauche keine öffentliche Stelle, die mir das vorschreibt, ich schaue relativ regelmäßig bei Anne Will und Maischberger rein, lese die 'Zeit' und bin Tagesschau-Fan." Dort bekomme man automatisch mit, was gerade angesagt sei.

Zum kollektiven Verzicht, wie er mit dem Kalten Wirtschaftskrieg angesagt war, sei er von Anfang an bereit gewesen. "Es ist doch so, dass man in meinem Alter keine neuen Jacken, Hosen oder Socken mehr braucht." Alles, was er im Leben noch benötigen werde, finde sich in tiefen Schränken und in zahllosen Koffern, in die noch zu Lebzeiten seiner Frau verpackt worden sei, "was zu schade zum Wegschmeißen ist, weil man es ja später noch mal beim Malern brauchen kann." Früher, als es noch wichtig war, habe er aber doch nie gemalert. "Meine Lise meinte, ich eigne mich nicht dazu, auf eine Leiter zu steigen." All die in einem ganzen Leben gesammelten Kleidungsstücke ständen ihm nun zur Verfügung. "Ich bin auch schon ein bisschen stolz, dass das alles noch passt."

Knappheit als Erleichterung

Wenn das Gas knapp wird, werde er das sicher auch spüren, doch Heinz Müller setzt darauf, die begonnene Dämmung noch vor dem ersten Schnee fertigzustellen. "Und dann habe ich ja auch noch den Ofen, der ist einsatzbereit." Gerade nach dem heißen Klimasommer aber freue er sich auch schon ein bisschen auf Monate mit ein paar Grad weniger Hitze. 

"Wird es zu kalt, zieht  man eben mal einen Pullover mehr an." Komme es ganz hart, plane er, sich den neuen Ölradiator auf seine Füße zu stellen, weil die seiner Erfahrung nach immer zuerst eiskalt würden. "Sind die Füße erst warm, folgt der Rest  automatisch", schildert er seine Lebenserfahrung. Vielleicht ändere er aber auch sein Duschverhalten und gehe nur noch aller paar Wochen unter die Dusche. "Manchmal sehe ich ja sowieso über Tage hinweg niemanden."


Google Street View: Eine deutsche Erfolgsgeschichte

Google Street View Deutschland
Der deutsche Bann gegen Google Street View hat bis heute sichtbare Spuren hinterlassen.

Die ganze Welt stöhnt unter der Fuchtel eines profitgierigen US-Konzerns. Überall hat Google, die große Datensaugmaschine, die Menschen unterjocht, die Fassaden ihrer, ihre Straßen, ihre Fenster, Gartenzäune und Lichtsignalanlagen zu Quellen neuer gewaltiger Übergewinne gemacht. Überall? Nein, ein kleines, störrisches Volk mitten in Europa hält stand, auch 15 Jahre nach Einführung von Googles Street-View-Dienst, den wachsame Politikerinnen wie die damals noch als Arbeitsministerin dienende Ursula von der Leyen und ihre Verbraucherschutzkollegin Ilse Aigner sofort als Bedrohung der Privatsphäre des öffentlichen Raumes erkannten und mutig benannten.  

Konzertierte Aktion

In einer konzertierten Aktion mit allen angeschlossenen Sendeanstalten und Verlagshäusern gelang es den beiden Unionspolitikerinnen, binnen weniger Wochen eine Atmosphäre der Angst im Lande zu erzeugen. Rentnerkommandos gingen auf die Barrikaden, Menschen, die Angst davor hatten, im Internet zu landen, zeigten vor allem Welt Gesicht, um dagegen zu protestieren, dass ihre Hausaußenwände künftig selbst in Honolulu, Kapstadt und Kamtschatka für jedermann zu sehen sein sollten.

Ein Unterfangen, das womöglich mehr und nachhaltigeren Erfolg hatte als die beiden allein auf die populistische Bedienung der Wünsche wütender Verschwörungstheoretiker bedachten Politikerinnen auch nur erhofft hatten. Zum 15. Jahrestag des Startes von Street View jedenfalls sind nicht alle Völker unterjocht, ist nicht jede Regierung zu Kreuze gekrochen vor den Besitzergreifungsfantasien des amerikanischen Tech-Konzerns. 

So wie sich Bosnien-Herzegowina bis heute gegen eine Erforschung durch Street View wehrt, steht auch Deutschland mit sich allein in der geschlossenen Front der Verweigerungstaaten: Bosnien ist bisher von Google einfach noch nicht bedacht worden mit Erkundungsfahrten der Spionagefahrzeuge mit den zahllosen Kameras. Deutschland aber hat sie, im Schulterschluss mit der gesamten EU, die sich allerdings dann doch nicht an entsprechende Beschlüsse hielt, einfach so strikt verkompliziert, genehmigungspflichtig gemacht und verboten, bis Google den Versuch, auch Deutschland zu erfassen, einfach aufgegeben hat.

Letzter Hort des Widerstandes

Stolz ragt diese letzte Feste der Ritterschaft vom Weißen Fleck heute aus der Weltkarte, ein Oase, die an Zeiten erinnert, in denen Straßen nicht virtuell abzulaufen waren, sich Sehenswürdigkeiten nicht vor einer Reise am Computer angeschaut werden konnten und berühmte Plätze schon aufgesucht werden mussten mit allen CO2-Konsequenzen, wenn man sie sehen wollte. Deutschland als Digitalnation findet sich porträtiert im Bild, das das Land bei Google Street View abgibt: Ein  leerer Fleck, voll mit sich selbst, seinen funkelnden Vorurteilen, der Anmaßung einer Politikerklasse, die alles weiß, ohne irgendetwas begreifen zu müssen und die deshalb eines Tages, wenn irgendwem auffällt, wie abgehängt der ganze Staat bei Google ist, vermutlich ein Gesetz erlassen  wird, das Internetkonzerne verpflichtet, alle deutschen Straße abzufotografieren und umgehend ins Netz zu stellen.

Wenn Ursula von der Leyen erst merkt, wie unterschiedlich Google die EU-Untertanen behandelt und wie groß der digitale Gap zwischen allen und den Deutschen ist, könnte sie einen Digital Service Act verhängen, der Milliardengelder als Sanktion für irgendwen androht, der verhindert, dass Deutschland bei Street-View wie Polen, Indien, Bolivien, Ghana und Kirgistan wird.

Es geht ihnen doch gut

Unnötigerweise, denn obwohl Deutschland auf Googles Street-View-Karte (oben) ein weißer Fleck ist, lebt es sich hier für viele viel besser als dort. Ilse Aigner zum Beispiel brachte es dank ihrer entschlossenen Initiative gegen die neuartige Software zwar nicht wie geplant zur bayerischen Ministerpräsidentin, doch als Landtagschefin im Freistaat ist sie dauerhaft gut untergebracht. Auch Ursula von der Leyen scheiterte erfolgreich: Mit ihrem fürsorglichen Eintreten für die ganze kleine Gruppe deutscher Verschwörungstheoretiker, die glaubten, Google wolle durch ihre Wände gucken, hatte die Frau aus Niedersachsen zwar eigentlich Bundeskanzlerin werden sollen. Aber als Kommissionspräsidentin der EU gefällt es ihr nun vermutlich sogar noch besser. 

Weniger Verantwortung und schon gar keine vor jemand Konkretem, dafür aber mehr große Reden, Initiativen und Pläne, die jedermann so schnell vergisst, dass nach jedem stets vor dem nächsten ist. Die reale Welt draußen bleibt auch dort, der Versuch der Amerikaner, auch in Deutschland alle Straßen mit speziell aufgerüsteten Pkw mit 360-Grad-Kameras abzufahren, um Deutschland ins Netz zu bringen, endete wie die elektronische Patientenakte, D-Mail, das E-Rezept und der Versuch, einen Bundes-Bitcoin erfinden zu lassen.  

Für hier reichen Amateuraufnahmen

In Deutschland müssen Amateuraufnahmen reichen, die eigentliche Funktion des dreidimensionalen Kartendienstes, Nutzern einen virtuellen Spaziergang durch einen Ort zu gestatten, gibt es auch 15 Jahre nach dem Start des Straßendienstes nicht, weil die deutsche Politik auf die Barrikaden ging, als Google zwischen 2008 und 2009 begann, Deutschland zu fotografieren. 

Wie ein Testmanöver für spätere Angstkampagnen erscheint heute die damals medial weit verbreitete Warnung vor "massenhaften Verletzungen der Privatsphäre". Wer die "digitale Erfassung von Wohnungen und Grundstücken" plane, so hieß es in einer absurden Übersteigerung des Eigentumgedankens, der handele mit personenbezogenen Daten, wenn er die Bilder ins Internet übermittele.

Google zieht den Stecker

Damit war dem Rechtsstaat auferlegt, Street View für "nicht zulässig" zu befinden. Die Bundespolitik mobilisierte das Volk, 19 Millionen deutsche Hausbesitzer wurden aufgefordert, ihre Fassaden verpixeln zu lassen. Zwar gingen dann nicht einmal 250.000 Einsprüche bei Google ein, die meisten aus den Bionadevierteln von Hamburg, Berlin und München. Doch Google reichte das, um den Stecker zu ziehen. Dafür, dass Street View keine zusätzlichen Einnahmen generiere, sei der Aufwand zur Bearbeitung der Einsprüche zu groß. 

Ein Sieg deutscher Wesensart und - vor allem - deutscher Politiker über Innovation und Fortschritt, ein Triumph der irrationalen Angst, mit dem sich das Land vom Digitalen symbolisch verabschiedet hat. Knapp anderthalb Jahrzehnte später ist Deutschland eines der Länder, aus denen heraus die Abrufzahlen für Street-View-Bilder am höchsten sind. Selbst aber lässt sich die Kernnation der EU nicht in die Karten schauen. Ursula von der Leyen, die seinerzeit auf der Bremse saß und die Street-View-Affäre nutzte, sich als virtuelle Lebensschützerin zu inszenieren, hat das Digitale mittlerweile als Lebenssaft der europäischen Zukunft entdeckt.

Die 20er Jahre sollen nun "Europe's Digital Decade" werden.

Samstag, 24. September 2022

Zitate zur Zeit: Der Knopf zum Kragenplatzen

Schwarzer Jesus
Humor haben sie auch in Hamburg bei der "Zeit".

 

Humor ist der Knopf, der verhindert, dass uns der Kragen platzt.

Joachim Ringelnatz

Ostdeutsch*innen im Westen: Die ewig Heimatlosen

Werbeauftseller Express Rheinland
Regionalstolz, wie er vielen Geflüchteten aus dem Osten immer noch begegnet: Bei uns liest man Express.


Sobald es Sören Käsebier wieder überkommt, dieses Gefühl endloser Hilflosigkeit und Fremdheit, nimmt er sich eine Bleistiftzeichnung zur Hand, die ihm sein Freund Mohamed Salaman gezeichnet hat. Sie zeigt einen nackten Mann in einer Glasflasche, die Hand des Eingesperrten ragt aus der Enge des Flaschenhalses. "So fühle ich mich“, sagt Käsebier, "mein ganzes Leben ist der Versuch, dem Eingesperrtsein in meine Herkunft zu entkommen.  

Aus einem Krankenhaus in Sachsen

Das Leben des Mittvierziger war nie leicht, schon ganz am Anfang nicht. Als es vor mehr als vier Jahrzehnten begann, in einem Krankenhaus in Sachsen, dort, wo der Freistaat am wildesten und verlassendsten ist, bekam Käsebier noch "einen blauen Pass in die Hand gedrückt", wie er erzählt. Er hat ihn noch, das kleine Büchlein mit dem Aufdruck "DDR", das ihm seinerzeit den Weg in die Freiheit eröffnete, als die Mauer fiel. Sören Käsebier hält das Büchlein in Ehren, obwohl es längst entwertet wurde und er heute einen richtigen bundesdeutschen Pass besitzt. Aber dieses Dokument weise ihn als Nachkommen ostdeutscher Eltern aus und verleihe ihm so eine Identität, die er nicht abstreifen könne und wolle. "Das ist, was ich bin, auch wenn ich schon lange nicht mehr dort lebe."

Käsebiers Eltern sind ostdeutsche Geflüchtete aus Pirna, sein Vater kam sogar viele Jahre zuvor mit seinen Eltern aus Schlesien. Beide Elternteile wurden DDR-Staatsbürger*innen, diese Staatsangehörigkeit vererbten sie auch ihrem Sohn und seiner Schwester. Nicht, dass es ihm viel geholfen hätte: So wie die meisten DDR-Bürger wurde auch Sören Käsebier sofort nach dem 3. Oktober 1990 Bundesbürger. Nach anderer Lesart des Völkerrechts war es sogar schon alle Jahre seines damals noch so jungen Lebens zuvor, ohne es selbst zu wissen. 

Mit dem Mauerfall ins Rheinland

Mit dem Mauerfall gingen die Eltern dann ins Rheinland", erinnert er sich. Dort studierte er Daseinsfürsorge und Urbantechnik, fand eine Arbeit und verdiente schon als junger Angesteller gutes Geld. "Es war aber eben nie so viel wie meine einheimischen Kollegen und Kolleginnen bekamen", klagt er. Obwohl er schon als Kind in den Westen kam, galt er dort schon in der Schule als der Ostler. "Ich sprach so, ich hatte diese Auffassungen", beschreibt er. 

Seine Familie war in diesen Jahren immer wieder getrennt, weil der Vater auf Montage fuhr, anfangs im Westen, als der Aufbau des Ostens dann losging, vermehrt in der alten Heimat. Mutter und Vater hätten sich dann zeitweise getrennt, aus seiner Sicht auseinandergerissen von den neuen Lebensumstände, der Buntheit und den Möglichkeiten des Westens. "Später haben sie aber wieder zusammengefunden, allerdings daheim in der Nähe von Pirna."

So verpasste er mehrere Familienfeste und auch die Umgestaltung des heimatlichen Dorfes durch mehrere Dorferneuerungsprogramme bekam er kaum mit, wie er sagt. Was heute beinahe aussieht wie ein normales, wenn auch armes Stadtviertel in einer Kleinstadt am Rhein, mit engen Gassen zwischen den Wohnhäusern, mit doppelt verglasten Thermofenstern und hier und da bröckelndem Putz, manche Mauer noch von Staub und Smog geschwärzt, ist doch immer noch ein Stück Land, das auf Fremde widerborstig wirkt.

Widerborstig wie Käsebier seine offizielle Heimat am Rhein empfindet: "Ich kenne hier viele, viele Leute", sagt er, "und die meisten sind wirklich nett, freundlich und zugänglich." Nur eng zusammen komme man kaum. "Da bleibt immer eine unsichtbare Barriere."

Millionen sind vulnerabel

Kein Einzelfall. Migrationsforscher*innen gehen davon aus, dass von den etwa 2,3 Millionen in den alten Bundesländern registrierten früheren DDR-Bürgerinnen und -Bürgern viele besonders vulnerabel seien, weil sie ihnen der Zugang zu Emotionen und Seelen ihrer alteingesessenen Nachbarn bis heute fehle. Die Gründe für diesen Unterschied reichen bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten zurück: Hier war der Westen, der vorpreschte und in Windeseile Wohlstand produzierte. Dort der arme Vetter im Osten, der seine Bürger auf später vertröstete, wenn der große Sieg über den Kapitalismus zünftig gefeiert werde.

Mehrere Flüchtlingswellen wurden von den unterschiedlichen Lebensbedingungen ausgelöst. Die, denen es gelang, in den Westen zu kommen, bekamen dort dieselben Ausweise wie die Einheimischen, aber je nachdem, ob sie in Bayern, Norddeutschland oder tief im Süden landeten, wurde ihnen die alte Bundesrepublik nur eine mehr oder weniger alternative Heimat, aus der der Blick sehnsüchtig oder nostalgisch immer noch dorthin ging, wo früher der Lebensmittelpunkt gewesen war. 

Sonderrolle der Geflüchteten

Die Sonderrolle, sie wird den in den Westen Geflüchteten auch von außen zugeschrieben. Der "Ostbeauftragte" der Bundesregierung etwa ist für Sören Käsebier ein rotes Tuch, betone er doch schon mit seinem Vorhandensein die mangelnde Inklusion der neu Hinzugekommenen. 

"Der Osten ist sicherlich noch in meinem Herzen, aber wenn ich dort hinkomme, dann ist es ein fremdes Land für mich." Der Westen aber sei genauso, die Frage, woher kommst du, lasse bei ihm bis heute Schweiß ausbrechen. "Eigentlich liebe ich das Rheinland sehr, aber ich habe das Gefühl, dass die Politik nicht will, dass ich dort bleibe. Es ist wie eine verschmähte Liebe."

Dabei macht er alles mit. Karneval, Kölsch trinken, Allah und Alaaf. "Aber ich bin eben auch mit den Geschichten einer verlorenen Heimat aufgewachsen, sie sind Teil meines inneren Konfliktes." Eine Freundin habe er einmal gehabt, aber auch die entstammte einer Familie von Geflüchteten aus Thüringen. "Wie ich war sie hier gut integriert, arbeitete in der Filmindustrie, lebte lange in einer WG mit Westdeutschen", sagt er, "aber fragte man sie nach ihrer Identität, antwortete sie Kölnerin mit Thüringer Wurzeln." Ihm sei das zu wenig gewesen, denn er begreife sich in seiner ganzen Vielfalt. "Ich bin Rheinländer aus Sachsen, aber Mutter kam aus Mecklenburg und Vater aus Schlesien."

Trennung unumgänglich

Die Trennung war unumgänglich, allein schon seinem Glauben an eine spätere Rückkehr nach Pirna geschuldet, aber auch seinem Bedürfnis nach Harmonie und Zusammenhalt "in guten und schlechten Zeiten". Seine Verbindung zum Land seiner Eltern, in dem noch zahlreiche Verwandte und Bekannte leben, wenn auch auf niedrigerem Wohlstandsniveau, sei nie abgerissen, sie drohte jedoch durch die bedingungslose Assimilationsbereitschaft der Freundin zu reißen. "Ich musste in dieser Situation eine Entscheidung für mich treffen, und das habe ich getan."