Samstag, 31. Mai 2025

Zitate zur Zeit: Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit

Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Wirksamkeit bewegt auch heute noch viele junge Menschen dazu, sich einer Bewegung anzuschließen.

Es besteht die Gefahr, dass die moderne Massengesellschaft den Einzelnen emotional aushungert. In den sorgfältigen Abwägungen des bürokratischen Staates ist oft kein Raum für ein emotionales Bekenntnis.

Wenn jedoch alle regulären Wege, sich einzubringen, verschlossen sind, kann sich das Bedürfnis nach Zugehörigkeit auf elementare Weise Bahn brechen. 
 
Nicht zufällig zog die Nazi-Partei anfangs insbesondere Studenten an, genau jene Gruppe, deren Bedürfnis nach Erfüllung die moderne Gesellschaft kaum noch befriedigen konnte. 
 
Henry Kissinger 


Freispruch vom Parteigericht: Olaf war's nicht

Olaf Scholz hat weder etwas gewusst noch etwas gesagt. Wie seine SPD-Genossen Hans Eichel und Peer Steinbrück konnte er durch Nichtwissen beweisen, dass Cum-Ex-Geschäfte nie seine Sache waren.

Die Gerüchte wollten nicht verstummen. Die Kritiker gaben keine Ruhe. Nicht einmal nach dem Ausscheiden von Olaf Scholz aus dem Amt des Bundeskanzlers gaben dessen Gegner ihre hartnäckigen Versuche auf, das Andenken des vierten sozialdemokratischen Kanzlers zu beschädigen. Natürlich richten sich solche Nachstellungen immer gegen die gesamte Partei. Und mit ihr gegen den fortschrittlichen Flügel innerhalb der demokratischen Mitte.

Scholz wird vieles vorgeworfen. Der Ex-Kanzler sei wankelmütig aufgetreten, er habe gezögert, Deutschland entschlossen an der Seite der Ukraine zu platzieren, ausreichend Waffen für eine Befreiung der Ostgebiete durch die ukrainische Armee zu liefern und die Amerikaner im Boot zu halten.  

Verwickelt in dunkle Geschäfte

Innenpolitisch habe er das Land weiter gespalten, die AfD noch erfolgreicher gemacht und zugelassen, dass ein studierter Philosoph als Wirtschaftsminister die industrielle Basis ruiniert. Der schlimmste Vorwurf aber ist der, dass der Sozialdemokrat als Regierender Bürgermeister von Hamburg in  düstere Geschäfte verwickelt gewesen sein: Scholz habe der Warburg-Bank geholfen, sogenannte Cum-Ex-Geschäfte zu vertuschen. Den Steuerzahler soll das Millionen gekostet haben.

Scholz hat sich immer auf seine eigene Art gegen die Behauptungen gewehrt. Er erinnere sich nicht, erinnere sich nicht genau und er habe keine Erinnerungen an Termine, Gesprächsinhalte und Absprachen. Der studierte Jurist weiß: Bis zum Beweis des Gegenteils reichen die Selbstschutzbunker, um sicher vor jeder Gefahr zu sein. Scholz gelangt es wirklich, bis zum letzten Tag im Amt unbehelligt von Staatsanwälten zu bleiben. 

Abgang einer Schlüsselfigur

Scholz' Genosse Johannes Kahrs, eine der Schlüsselfiguren der Affäre, zog sich zurück. Dem früheren Hamburger Bundestagsabgeordneten, bekannt für sein sektenartiges System an Anhängigkeiten, mit dem er in der Hamburger SPD ein mächtiger Mann geworden war, hatte sich eigentlich ausgerechnet, dank seines Wissen weiterhin steil aufzusteigen in der Partei. Doch statt Wehrbeauftragter werden zu dürfen, wurde er aussortiert. Kahrs wurde mit Hausdurchsuchungen und Strafverfahren überzogen, ihm wurde Bargeld wegbeschlagnahmt und Zeitungen und Magazine wurden mit Details für große Schlagzeilen gefüttert. 

Anschließend war der ehrgeizige und stets medienpräsente Sozialdemokrat mit seinen Kenntnissen keine Bedrohung mehr. Im Dezember 2024 wurde das Verfahren gegen den inzwischen ins Privatleben geflüchteten Ex-Politiker "mangels hinreichenden Tatverdachts" eingestellt.

Drohung über dem Kanzler

Olaf Scholz stand da auch schon vor dem Abschied, nur er selbst wusste es noch nicht. Immer noch schwebte über dem Kanzler die Drohung, dass ihm nach dem Ausscheiden aus dem Amt neu nachgestellt wird. Eine frühere Staatsanwältin, aus naheliegenden Gründen längst aussortiert, gibt keine Ruhe. Medien reiten das tote Pferd, als gebe es keine anderen Themen.  

Umso wichtiger war es, dass seine Partei solidarisch blieb: In einem abschließenden Gutachten hat die Hamburger SPD ihrem Kanzler einen Persilschein ausgestellt. Alles wieder gut. 17 Jahre nach den ersten Schlagzeilen über die Praxis der gezielten Ausnutzung eines Steuerschlupfloches, das die Wochenzeitschrift "Die Zeit" im Jahr 1992 als schönen Trick zur "alternative n Altersvorsorge"  empfohlen hatte, sind die letzten Fragen geklärt.  

Drei Finanzminister schauten zu

Dass die Finanzminister Hans Eichel, Peer Steinbrück und Wolfgang Schäuble die Ausnutzung der bekannten Regelungslücke als legalen Steuertrick über fast 20 Jahre duldeten, sei nie nur unmoralisch und unanständig gewesen, sondern immer schon eine Straftat. Auch wenn kein Gesetz es verbot, eine Aktie rund um den Tag der Dividendenzahlung zu kaufen, um Kapitalertragssteuern erstattet zu bekommen, die man niemals gezahlt hatte, sei das keine  smarte Gestaltungsmöglichkeiten gewesen. Sondern Steuerbetrug. 

An dem waren nach der Lesart der Hamburger Sozialdemokratie Unzählige beteiligt. Nicht aber Olaf Scholz. Der habe getan, was er konnte, aber nichts Falsches. Dadurch sei auch niemandem ein Schaden entstanden, denn die "Warburg-Bank hat alle Cum-Ex-Gelder plus Zinsen in Millionenhöhe zurückgezahlt". Wegen der inzwischen angefallenen Hinterziehungszinsen in Höhe von gut 85 Millionen Euro habe Hamburg sogar ein erhebliches Plus in der Staatskasse zu verzeichnen. Wenn das nicht die Handschrift des Olaf Scholz ist, der auch als Bundesfinanzminister stets ein einfallsreicher Sachwalter der Interessen des Staates war.

Mit sauberen Händen

Und das mit sauberen Händen, wie seine Hamburger Genossen nun nachgewiesen haben. Der Freispruch vom Parteigericht beendet eine Kampagne gegen Scholz, die anfangs mit der Behauptung losgetretenw orden war, dass die Cum-Cum-Deals den Steuerzahler geschätzte 28 Milliarden Euro gekostet hätten. Spätere Schätzungen kamen auf Summen von 50 bis 80 Milliarden, der hart arbeitenden und ehrliche steuerzahlenden Mitte entwendet unter den Augen von Eichel, Steinbrück und Schäuble. 

Zehn Jahre lang weigerten sich alle Bundesfinanzminister, irgendetwas zu unternehmen, damit findige Anleger nicht mehr durch das sperrangelweit offenstehende Tor zur Dividendensteuerrrückerstattung trampeln konnten. Ebenso lange fanden die Amtsblätter nichts dabei, dem jahrzehntelangen Regierungsversagen stillschweigend zuzuschauen.

"Steuerdiebstahl in gigantischem Ausmaß"


Erst seitdem der "Steuerdiebstahl in gigantischem Ausmaß" (SZ) sich als wunderbares Thema herausstellte, auflagenfördernd Wut auf "Superreiche", "Banken", "Manager" und "Spekulanten" zu schüren, geht es regelmäßig um "spitzfindige Juristen, blitzschnelle Aktienhändler, skrupellose Banker" (SZ), die "jahrelang zusammengewirkt haben, um superreiche Geldgeber noch reicher zu machen". 

Die Blicke richteten sich dann aber immer noch nicht auf die Bundespolitiker, die das System mit einem Federstrich hätten zerstören können. Sondern auf den Regionalpolitiker Scholz, der es in seiner Hamburger Zeit mit der aus heutiger Sicht lächerlichen Summe von 161 Millionen Euro hinterzogener Steuern zu tun bekam.

Kleckerbeträge in der Provinz

161 Millionen, das war vor ein paar Jahren noch viel Geld. Doch gemessen am Gesamtvolumen der Cum-ex-Geschäfte fiel die Summe schon damals kaum ins Gewicht. Wenn sich also nach drei Jahren Aufklärungsarbeit herausstellt, dass es in Hamburg "keine Einflussnahme durch die Politik auf Steuerentscheidungen gegeben hat", dann hat Olaf Scholz Warburg-Chef Christian Olearius niemals telefonisch geraten, seine Argumentation für eine Rücksichtnahme auf die finanzielle Lage seines Bankhauses nicht ans Finanzamt, sondern direkt an Finanzsenator Peter Tschentscher – heute Scholz‘ Nachfolger als Erster Bürgermeister – zu schicken. 

Olearius - das ist nach der Befragung von über 50 Zeugen aus unterschiedlichen Abteilungen, Ämtern und Behörden klar - konnte dem Rat mithin gar nicht folgen und die Hamburger Finanzverwaltung ihre Meinung nicht ändern.

Kein einziger Zeuge

Sie tat es dennoch. Einfach so, denn wie es der Zufall will, konnte sich "keine einzige Zeugin und kein einziger Zeuge" an Versuche der Einflussnahme auf sich oder andere erinnert, keiner hatte sie erlebt oder davon auch nur gehört. Olaf Scholz war also niemals der Pate des Hamburger Bankwesens, der aus Angst davor, dass ein wichtiges Geldhaus in seinem Beritt zusammenbrechen könnte, nach Möglichkeiten suchte, am Rande der rechtlichen Grauzone allen Anforderungen gerecht zu werden. 

Scholz habe sich vor der Entscheidung der Finanzverwaltung, die Steuern zunächst nicht zurückzufordern, zwar zweimal mit den Inhabern der Warburg-Bank getroffen und einmal mit Olearius telefoniert. Doch obwohl er sich an die Einzelheiten der Gespräche nicht erinnere, sei klar: Scholz habe weder Zusagen gemacht noch überhaupt Einschätzungen abzugeben, sondern nur zugehört und - im Grunde genommen - geschwiegen.

Mit sauberen Händen

Die Hände des Mannes, der sich gerade unfreiwillig aus der ersten Reihe der Politik zurückgezogen hat, sind sauber geblieben. Scholz hat nichts getan, er war an nichts beteiligt, ihm ist überhaupt nichts vorzuwerfen. Wie Eichel, Steinbrück und Schäuble, die über Jahre geduldig beim "Steuerraub" (Spiegel) zugeschaut hatten, ohne dass später jemals jemand fragte, warum eigentlich, ist auch Olaf Scholz ein Finanzpolitiker geblieben, dessen politischen Tugend außer Frage steht. Er hat richtig entschieden, indem er an keiner Entscheidung beteiligt war und nirgendwo Einfluss nahm. Auch sein Nachfolger Peter Tschentscher hat damaliger Finanzsenator nicht an der Behandlung von Steuerfällen mitgewirkt, sondern sich "in besonders bedeutenden Einzelfällen" nur "über den Stand des Verfahrens informieren lassen".

Dass Landesbanken, beaufsichtigt von Landespolitikern, in der ersten Reihe der Cum-ex-Profiteure standen, tut nichts zur Sache. Nicht nur im Süden, wo die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) den Staat nach Kräften um Steuern prellte. Nicht im Norden, wo die HSH Nordbank am großen Betrugsrad drehte.  Wie immer, wenn staatliche Akteure und private Profiteure zusammenarbeiten, stehen die einen am Ende als Saubermänner da.

Schuld sind die anderen


Die anderen aber haben die Schuld zu schultern und damit zu signalisieren, dass auch beim nächsten niemand mitbekommen werde, wenn die Politik ein paar Augen zudrücke und einige Regeln so auslegen, dass die BayernLB in Auslandsniederlassungen in New York und London über 500 Mitarbeiter zum Wohle ihrer staatlichen Eigentümer beschäftigten können, die Sachsen LB in Irland am großen Rad dreht, die Bayern LB mit der Hypo Alpe Adria (67 Prozent) und der MKB Bank nach Österreich und Ungarn expandiert und die LBBW mit der LBBW Securities LLC sogar insSteuerparadies Delaware, USA.

Scholz hatte mit alldem nichts zu tun, die  ruchlosen Machenschaften, die den deutschen Fiskus um Milliarden erleichterten, spielten sich auch in seiner Stadt ab. Doch wie alle Finanzminister und Ministerpräsidenten aller Parteien wusste er lange von nichts. Und später konnte er sich nicht mehr erinnern: Dass die Existenz der Warburg-Bank auf dem Spiel stand? Dass eine neue Finanzkrise hätte ausbrechen können, zumindest in Hamburg? Dass die jahrelange stillschweigende Verwicklung zahlreicher Politiker in den "größten Steuerraub der Geschichte" (Spiegel, SZ) öffentlich werden könnte? 

Keine Belohnung für Verschonung

Niemals hätte das einer wie Scholz vergessen. Wenn er es also nicht mehr weiß, dann hat er es zweifellos nie gewusst. Der "teulische Plan", von dem die Beamtin P. als Zeugin im Untersuchungsausschuss sprach, war einer, den sich sich alleein ausgedacht hatte. So groß waren die Millionensummen seinerzeit ja nicht, um die es ging, als dass es eines Eingreifens bedeutsamer Politiker bedurft hätte. 

So wie sich Eichel und Steinbrück als Sachwalter der Interessen von Arbeitern und Angestellten stets stabil in ihrer Haltung zeigten, Cum-Ex-Praktiken stillschweigend zu dulden, bezeugte Olaf Scholz seinen Wählerinnen und Wählern Respekt, indem er versicherte, dass die 45.500 Euro, die Warburg der SPD gespendet hatte, keine Bezahlung für die verhinderte Steuernachzahlung in Höhe von 161 Millionen gewesen seien. 

Ein Zufall mehr, der im Rückblick unglücklich wirkt. Aber nichts hat mit nichts zu tun, eine politische Verantwortung lässt sich nirgendwo feststellen. Wie seine SPD-Genossen Hans Eichel und Peer Steinbrück konnte auc Olaf Scholz am Ende eines langen Weges durch Nichtwissen beweisen, dass Cum-Ex-Geschäfte nie seine Sache waren.

Freitag, 30. Mai 2025

Jagdszenen in Mediendeutschland: Jette und der Mob

Die personifizierte Mischung aus Selbstverliebtheit und Selbstbewusstsein: Jette Nietzard.

Natürlich hatte sie es darauf angelegt. Es gehört zum politischen Wirkkonzept der Jette Nietzard, die dröge, gedankenfaule Mehrheitsgesellschaft zu provozieren, ihr den Spiegel vorzuhalten oder auch den "Stern". Seit die 25-Jährige sich an die Spitze der grünen Nachwuchsbewegung hat wählen lassen, ist wieder Betrieb in der Provokationsfabrik. Binnen weniger Monate hat die kapitalismuskritische Rheinländerin ihre Vorstandsvorgänger*innen vergessen lassen.  

Für eine "klassenorientierte Politik"

Wo die mit plumper Kommunismuspropaganda den Kampf für eine "klassenorientierte Politik" hatte führen wollen, setzt Nietzard als Gesicht des neuen zweiköpfigen Jugendvorstandes - neben ihr agiert der unauffällige Jakob Blase - ganz auf Personality. Geschult am Vorbild von erfolgreiche  Medienmarken wie Greta Thunberg, Luisa Neubauer und Carla Reemtsma, etablierte sich die studierte Erzieherin in kürzester Zeit als neues Aufregungsangebot. 

Nietzard trat als "freie Radikale" (Stern) auf, sie forderte Orgasmen und Sondervermögen zu Lasten der Jüngeren, sie fantasierte öffentlich über vermeintliche Teilverbote der Nationalhymne und sie wünschte böllernden  Männern, dass ihnen die Hände abfallen mögen. "Dann können zumindest keine Frauen mehr schlagen."

Ein kluger Kopf mit Karriereplan

Hinter der großen, klugen Brille, die die Mittzwanzigerin in Kombination mit einer Art Räuberzivil aus Adidashosen, Schlabberpullovern und Sportschuhen oft wie zehn Jahre ältere Frau aussehen lässt, die sich bemüht, jung auszusehen, steckt ein kluger Kopf mit einem großen Karriereplan. Nietzard weiß, dass sich nur Bekanntheit in Macht übersetzen lässt. Wer die Follower hat, der hat nicht nur Fame, er kann auch Ansprüche anmelden. 

Timon Dzienus, nur drei Jahre älter und Nietzards Vor-Vorgänger in der Chefetage der grünen Kaderschmiede, hat es vorgemacht: Der kindlich wirkende und kindlich auftretende Junge aus Norddeutschland sitzt heute sicher und warm im Bundestag, genauso wie Ricarda Lang und Felix Banaszak, noch etwas älter, aber auf derselben Karriereleiter aufgestiegen.

Unglaublich begeisterte Kämpferin  

Nietzard bekam viel Zuspruch für ihre Provokationen, die Selbstverliebtheit, Selbstbewusstsein und eine umfassende Unkenntnis der Geschichte so geschickt kombinierten, dass immer neue Empörungswellen schwappten, wo die feministische Flüchtlingsrechtlerin sich im Kampf mit den Verhältnissen zeigte. 

Dass die "unglaublich begeisterte Kämpferin für soziale Gerechtigkeit", wie Dzienus seine Nachfolgerin genannt hat, eines Tages zu weit gehen könnte, damit war nie zu rechnen - bis es geschah: Ausgerechnet ein eher lauer und mauer Auftritt mit einem AliExpress-Käppchen und einem auf "ACAB" gefälschten  Adidas-Pullover sorgte dafür, dass Jette Nietzard sich unversehens einer wahren Hetzjagd ausgesetzt sah.

Auf einmal ein Geschäftsmodell 

Auf einmal verhöhnten eigentlich solidarische Medienhäuser sie als "Krawallgurke", ihre Geschäftsmodell wurde abfällig als "Geschäftsmodell Provokation" geschmäht und ihre Auftritte als "Show" gegeißelt. Nietzard konnte schlagartig auch nicht mehr auf Solidarität der Parteialtvorderen rechnen. Als sei die Nietzard-Methode jetzt erst aufgefallen, galt die Aktivistin nur noch als unglaublich begeisterte Kämpferin für sich selbst, schädlich für die Partei, die sie nach Meinung des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretzschmann möglichst schnell verlassen solle.

"Wir sind nicht die richtige Adresse für die Art von Gesinnung, die ihr habt", kachelte der 77-Jährige. Grünen-Chef Felix Banaszak nannte Nietzards Beurteilung der Polizei "inakzeptabel", Cem Özdemir, der Kretschmann als baden-württembergischer Ministerpräsident nachfolgen will, schimpfte, bei den Grünen sei falsch, wer nicht kapiere, "dass die Polizei auch Grünen-Werte verteidige".

Jette Nietzard, die so lange dafür gefeiert worden, die Spaltung der Gesellschaft zu vertiefen und Gräben aufzureißen,  steht auf einmal fast ganz allein in einem Mediensturm, der ihren Fall aufwändiger abhandelte als Israel, Rezession und Friedrich Merz. Ungerecht, aber erhellend: Der gesamtgesellschaftliche Rechtsruck hat die Linke erfasst, die Grünen wenden sich aus Angst vor einem schlechten Wahlergebnis in Baden-Württemberg von den eigenen Leuten ab.

Tod des Klimageldes: Vater Staat braucht es nötiger

Der Kreislauf des Klimageldes: Beim Bürger eingesammelt, verschwindet die CO2-Steuer seitdem in staatlich organisierten  Fördermaßnahmen für dies und das.

Beinahe wäre es noch dazu gekommen. Drei Jahre hatte sich die Ampelregierung Zeit genommen, die Auszahlung des Klimageldes auf die Schiene zu bringen. Kurz vor Schluss waren dann alle Schwierigkeiten überwunden: Die Geldprobleme durch das vom Verfassungsgericht erzwungene Ende des Klimavermögens aus Merkel-Zeiten. Die Erkenntnis, dass Deutschland Finanz- und Bürgergeldämter keine Kontonummern ihrer Schützlinge besitzen. Und der Streit der Koalitionspartner darüber, wie viel eigentlich jeder bekommen sollte. Alles? Ein bisschen? Oder die symbolische Kugel Eis?

Kein Schaden fürs Klima

Als die Kontonummern da waren, war der Finanzminister weg. Im Wahlkampf spielte die Prämie für alle, die ihr Verhalten daran ausrichten, dem Klima keinen Schaden zuzufügen, dann kein Thema mehr: Weder Grüne noch SPD, FDP, AfD, die Union oder die Linke hatte das Schmankerl noch im Angebot. Nur Friedrich Merz holte es noch einmal aus der Kiste und erhöhte das bisherige Angebot von ein paar hundert auf ein paar tausend Euro im Jahr

Das half ihm womöglich, die Wahl zu gewinnen. Wegen der neuen Weltlage nach dem Angriff des US-Präsidenten auf seine ukrainischen Amtskollegen aber korrigierte sich Merz im Zuge der Neuordnung seiner Auslagen auch in diesem Punkt: Das Klimageld stehe "derzeit nicht auf der Tagesordnung". Die SPD schloss sich im Verlauf der Koalitionsverhandlungen an. 

Sozialer Klimaschutz sei wichtig, weil der geplante steigende CO2 -Preis mit einer sozialen Flankierung einhergehen müsse, "die sowohl zielgerichtete Förderinstrumente als auch ein Klimageld enthält". Jetzt aber sei nicht die Zeit, mit einem solchen Instrument klimafreundliche Entscheidungen auch finanziell attraktiver zu machen als klimaschädliche.

Kassen klamm wie immer

Die Kassen, im vergangenen Jahr mit Einnahmen aus dem europäischen und dem nationalen Emissionshandel in Höhe von rund 18,5 Milliarden Euro aufgepolstert, sind klamm wie immer, Spielräume kann es nicht geben, denn niemand spart in die Krise hinein und keine Regierung kann es sich leisten, der Bevölkerung Geld zurückzuerstatten, das sie selbst schon längst nicht mehr hat. 

Russlands Angriff auf die Ukraine ist eine Bedrohung, der Klimawandel eine andere, die Attacken Donald Trumps auf die europäischen Partner verengen Spielräume weiter. Jetzt geht es darum, sanierungsbedürftige Brücken für künftige Truppenbewegungen fit zu machen, den Klimawandel zu bremsen und ein großes Wohnungsbauprogramm aufzulegen. Aufgaben, auf die sich die Union in den kurzen drei Jahren in der Opposition nicht komplett vorbereiten konnte, auch wenn der dringende Handlungsbedarf in diesen Punkten hier und da aufschimmerte. 

Keine Priorität mehr

Jetzt erst besteht die Möglichkeit, in großen Arbeitsgruppen und Beratungsgremien zu schauen, was zuerst gemacht werden muss, was folgen sollte und was warten kann. Pech für die Bürgerinnen und Bürger: Das Klimageld hat - vier Jahre vor der nächsten Bundestagswahl - keine Priorität mehr. Vater Staat braucht die Milliarden selbst dringender, er ist es auch, der sich nutzbringender für alle ausgeben wird können. 

Nur Lisa Badum von den Grünen entdeckte just in dem Augenblick, in dem ihre Partei die Auszahlung nicht mehr weiter verschieben kann, dass da immer noch etwas fehlt. "Die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung sind dafür gedacht, dass sie für die Bürgerinnen & Bürger und für den Klimaschutz verwendet werden", insistierte sie. Ihre Partei werde "ein Tricksen & Täuschen von CDU/CSU & SPD hierin nicht akzeptieren". Lange genug sind die selbst damit durchgekommen, so lange, dass Robert Habeck  die Milliarden für dies und das ausgeben konnte.

Dabei bleibt es nun dauerhaft. Neben den vielen Sondervermögen -  um die 30 solcher Schattenhaushalte hält sich die Bundesregierung derzeit - ist der Topf mit den Einnahmen aus der CO2-Steuer ein Pfeiler im Fundament der öffentlichen Finanzplanung. Und obwohl die Anhäufung von neuen Schulden seit dem Abschiedsgeschenk des alten Bundestages kaum noch Grenzen - gerade der Union als einer Partei, die Seriosität und Verlässlichkeit wie eine Fahne vor sich herträgt, ist es wichtig, am äußeren Schein festzuhalten, dass nur das Geld ausgegeben wird, das der Haushalt hergibt.

Nicht mehr so beliebt

Dass die Akzeptanz des Klimaschutzes ohne die so oft und leidenschaftlich geforderte und versprochene Kompensation leiden wird, ficht weder Friedrich Merz noch dessen Vizekanzler Lars Klingbeil an. Im Unterschied etwa zu Robert Habeck, dessen Partei mit der Popularisierung der sogenannten Klimaziele  einen märchenhaften Aufschwung erlebte, war beiden das Klima nie Herzenssache, sondern immer nur politische Verwaltungsmasse. Seit das Thema in der öffentlichen Beliebtheit nach unten durchgereicht wurde, besteht keine akute Notwendigkeit mehr, die Milliarden zum Fenster hinauszuwerfen, nur um ein altes Versprechen aller demokratischen Parteien einzulösen.

Statt 200, 500 oder 1.000 Euro direkt an die zurückzuzahlen, denen das Geld durch Heizen, Fahren, Wohnen und Essen abhandengekommen ist, hat es Merz vorgezogen, mit der lange aufrechterhaltenen Zusage kurzen Prozess zu machen. Lieber einmal ganz am Anfang alle vor den Kopf stoßen und dann freie Hand haben, als sich wie die Ampel in eine Situation begeben, in der immer wieder von irgendwem gequengelt wird, wann es denn endlich so weit sei und die Auszahlung beginne. 

Staat als besserer Investor

Der Staat kann es besser, da ist sich die unionsgeführte SPD-Regierung sicher. Statt neue bürokratische Hürden aufzubauen, um auszuschließen, dass die besonders klimaschädlich lebenden wohlhabenden Schichte in den Genuss von Rückzahlungen kommen, setzt Schwarz-Rot darauf, dass durch die Co2-Steuer alles durch noch schneller noch teurer wird, so dass mit noch mehr Geld noch mehr bedeutsame Klimainvestitionen gestemmt werden können. 

Nie war das so wichtig wie heute, wo klar ist, dass bisher enge Partnerstaaten mehr und mehr vom deutschen Sonderweg abweichen. Die EU-Kommission setzt auf Mini-Reaktoren, Nachbarstaaten wie Belgien und Dänemark liebäugeln mit alten und neuen Kernkraftwerken, die Vereinigten Staaten lassen es zu, dass multinationale Großkonzerne Schrott- und Pannenmeiler reanimieren und auf provokativen "Anschalt-Konferenzen" begehrliche Blicke auf den noch betriebswarmen deutschen KKW-Bestand werfen.

Viel Gutes bewirken

Eine einheitliche Position dazu hat die Bundesregierung noch nicht, beim Klimageld aber steht die demokratische Mitte beinahe geschlossen. Trotz der "offensichtlichen Neigung, allen zu geben, was sie wollen" (Südwest-Presse), starb das Klimageld einen stillen Tod, von kaum jemandem auch außerhalb des politischen Berlin betrauert. Läuft alles nach Plan, ist die Idee für immer tot - allein bis zum Ende des gegenwärtigen Klimaplanzielraumes im Jahr 2030 spielt das mindestens 100 Milliarden in die Staatskassen, vielleicht aber auch 200 oder 300.

Geld, mit dem sich viel Gutes wird bewirken lassen. 

Donnerstag, 29. Mai 2025

Ohne Reichweitenbegrenzung: Der Tag des Herrenmenschen

Im Nahen Osten entstand der Brauch, am 40. Tag nach dem Ostersonntag Himmelfahrt zu feiern. Jesus gesellte sich damals zu Gott dem Herren. Deshalb heißt der Tag auch der "Herrentag" oder "Männertag".
 
Unbeobachtet von Freund und Feind verschwand er aus seinem bescheidenen Palast wie weiland Christian Wulff aus seinem Schloss. Der über das Volk der Gläubigen hinaus geliebte Papst Franziskus verabschiedete sich an einem Ostersonntag und im Gegensatz zu Jesus von Nazareth, dem  Nordafrikaner, kehrte der Südamerikaner bis heute nicht mehr wieder. Die Auferstehung, eine Geschichte, die sich allein Augenzeugenberichten verdankt, blieb einmalig. 
 

Abschied von Franziskus 

 
Wie auch die Himmelfahrt, göttlichem Ratsschluss folgend von nun an auf Ewigkeit immer am 39 Tage nach dem Abschied von Franziskus zu feiern. Nur der Autor des Lukasevangeliums (24,50–53 EU) und die Apostelgeschichte (1,1–11 EU) berichten davon, wie der auferstandene Christus vor den Augen seiner Jünger entschwand und gen Himmel fuhr wie eine SpaceX-Rakete.  
 
Doch Glaube ist mächtiger als jeder Beweis des Gegenteils: Seit irgendwann wird Ostern als Einheit von kirchlicher Pracht, Fernsehgottesdiensten und heidnischem Eiersuchen gefeiert. Und Himmelfahrt, 40 Tage danach, als Bierbrauch, der über den Genuss zum Leiden und am Brückentag zur Auferstehung führt.
 
In Deutschland, der am schlimmsten betroffenen Region weltweit, markiert das Fest den Moment im Jahr, in dem nach einem langen Dürrefrühjahr und einem rekordheißen Mai die Hoffnung wächst, es könne zu einem Zollkompromiss mit Amerika kommen, die Ukraine könne sich mit Streckenbeschuss gegen Moskau wehren, die deutsche Wirtschaft unversehens wiederauferstehen und Palästina ein eigener Staat werden, wenn der Judenstaat endlich auf die Mahnungen aus Europa hört, sich nicht zu verrennen im Kampf gegen seine Feinde.
 

Einkehr und Besinnung 


Es ist wahr. Auch zwei Jahrtausende nach der Ermordung des Juden durch italienische Soldaten im Auslandseinsatz ist es deutschen Dichtern, Politikern und Medienschaffenden nicht gelungen, den Nahen Osten zu befrieden. Keine andere als die grüne Außenministerin Annalena Baerbock warb so intensiv und oft um ein Einlenken Israels, um Einkehr und Besinnung, um damit Fluchtursachen zu bekämpfen. Denn Fakt ist: Kein Staat weltweit leidet mehr als Deutschland unter Israel, schlimmen Bildern und der eigenen Verstrickung in die Schuld eines rechtsextremen Regimes, von dem sich auch der neue Bundeskanzler inzwischen ratlos abgewandt hat. 
 
30 Prozent des Internetverkehrs werden durch Hass, mehr als 50 Prozent aller deutschsprachigen Medieninhalte sind dem Klima, Israel, Zöllen und rechter Gewalt gewidmet. Hier klingt nach, was der inzwischen weitgehend vergessene deutsche Papst Benedikt XVI Jüngern und Nichtjüngern der katholischen Kirche einst im Petersdom in die Stammbücher schrieb: "Glaube ist die wahre Aufklärung", wer glaubt, der muss nicht mehr wissen, er kann unbedenklich, formfrei und ohne Einhaltung von Fristen weiterhin der Nutzung aller seiner auf Facebook oder Instagram zum Training der Meta-KI widersprechen.
 

Warten auf Wadephul 

 
Das gibt ein gutes Gefühl, ganz als wenn im Nahen Osten jemand auf Johann Wadepuhl gewartet hätte, der als Anwalt aus Schleswig-Holstein viel darüber erzählen kann, wie eine zwei Staaten-Lösung friedlich umgesetzt werden muss. Lauenburgs und Holstein wurden durch preußische Truppen besetzt. Dänemark glaubte an Hilfe aus Russland und Großbritannien, um seinen Herrschaftsanspruch durchzusetzen. Doch die Welt schwieg. Mit der Erstürmung der Düppeler Schanzen obsiegten die, die sich der dänischen Fremdherrschaft nicht hatten beugen wollen. 
 
Ein Vorbild für Palästina, auf das viel zu selten hingewiesen wird, doch wer wahrhaft glaubt, muss auch das nicht wissen. Wer wahrhaft glaubt, muss über Tatsachen überhaupt nicht aufgeklärt werden. Denn wer aufgeklärt ist, kann nicht mehr ernsthaft und richtig glauben.  Als Rio Reiser sein "Alles Lüge!" in die Welt sang, eine Behauptung, die selbst gelogen ist, spielte er auf diesen Umstand an: Sobald ein Schwindel seine ersten paar Lebensjahre überstanden hat, wird er zur Wahrheit. So gilt es heute etwa als unumstritten, dass Jesus' Auferstehung ein profunder Fakt ist, weil sich das Geschehen nachweislich am Ostersonntag abgespielt hat. Allerdings gab es den Osterglauben bereits vor den ersten Gerüchten über das leere Grab.
 

Die Vorhaut fuhr mit 

 
Jesus war allerdings nachweislich Jude und ob seine Vorhaut mit ihm auferstanden und später die Himmelfahrt gemeinsam mit ihm angetreten hat, ist über Jahrhunderte sehr umstritten gewesen. Erst das Konzil von Nicäa im Jahr 325 beschloss, dass die ihm am achten Tag entnommene Fleischprobe sich aufgrund göttlichen Willens inzwischen selbsttätig zur Rechten Gottes eingefunden habe. 
 
Dort liegt die Vorhaut bis heute wie zum Beweis dafür, dass es die pragmatischen Entscheidungen sind, die die Zeit überdauern. Hätten die Weisen vor 1700 Jahren - das ist länger als die Sowjetunion existierte und sogar länger als es die EU tut - anders entschieden, wüsste heute niemand, wo sich dieser kleine, aber so immanent wichtige Teil des Mannes befindet, der sich wie eine Brücke zwischen Juden- und Christentum spannt.

Wer glaubt, muss nicht wissen, denn er weiß ja, was er glaubt. Das Leben ist stärker als der Tod, das Gute ist stärker als das Böse, die Liebe ist stärker als der Hass, die Wahrheit stärker als die Lüge, der Euro stärker als die Spekulanten und die westliche Gemeinschaft stärker als der russische Aggressor. Wer glaubt, braucht weder Wahrheit noch Wissenschaft.

Himmelfahrt: Herr Merz und der Traum vom Frieden

Merz und der Atomkrieg: Keine Angst
Aufrecht stehen und selbstbewusst zeigen, dass Russland auf verlorenem Posten steht: Friedrich Merz bringt eine ganz neue Temperatur in Europas Eskalationsstrategie.

Die Nacht mit dem Traum, sie war für Herrn Merz mehr als ein Fingerzeig von oben, aus einer feinstofflichen Welt, die aus mehr besteht als aus dem, was der Mensch vor Augen hat, wenn er die Tagesschau anschaltet. Kalter Schweiß und Azetongeruch, so hat Merz Freunden später beschrieben, wie ihn die Angst befiel, wie ihm der Atem stockte und ihm unversehens möglich schien, was bis dahin  allenfalls Stoff für einen gemütlichen Fernsehnachmittag mit der Familie, Kindern und Enkeln gewesen war. "Krieg der Welten"! "Der Untergang"! "Befreiung Teil 1, 2 und 3"! 

Feuchtgeschwitzt und siegessicher

In einem feuchtgeschwitzten Schlafanzug erwachte Herr Merz, kopfschüttelnd betrachtete er die Nacht und allmählich begreift er, dass sie ihm ein Zeichen gegeben hat. Friedrich, Du bist berufen. Friedrich, es ist nicht nur Dein eigenes Land, das darauf wartet, von Dir errettet zu werden. Nein, nein, Deine Mission soll weit größer sein. Sie soll die Wirtschaft wiedererwecken, die Menschen glücklich machen und Frieden schaffen außerdem bis ans andere Ende des anderen Kontinents, der bei Finistère beginnt und hinten, weit hinten auf Kamtschatka endet.

Merz fühlt sich seitdem nicht mehr nur berufen, sondern beauftragt. Es war kein Spaziergang bis hierhin, in das Amt, das andere, auch hübschere, sympathischere und weniger Menschen verhasste Konkurrenten auch gern gehabt hätten.  Doch Herr Merz hat nie gezweifelt. Zu eindeutig war die Berufung, die klar die Aufgabe, die ihm übertragen worden war. Die größte Wirtschaftsnation des Kontinents erretten vor Lieferketten und Kommissionsbürokratie. Den Wählerinnen und Wählern wieder das Gefühl geben, Leistung lohne sich. Wohnungen bauen für die, die sich keine leisten können. Strom bezahlen für die, die ihn am nötigsten brauchen. Zeigen, dass Demokraten auch etwas zustandenbringen können.

Im Schlamm eines Schützenloches

Und, natürlich, die Basis von allem: Frieden schließen. Wie kaum ein anderer Spitzenpolitiker der zurückliegenden Jahrzehnte weiß Herr Merz, wie es ist, im Schlamm eines Schützenlochs auf einem Truppenübungsplatz zu liegen und auf den Befehl zum Sturmangriff zu warten. Als er seinen Fahnenjunkerlehrgang absolvierte, in Kusel, der außerdem Garnisonsstadt des Panzerartillerielehrregimentes 345, die über Jahrhunderte umkämpft war zwischen Deutschen und Franzosen, tobte noch der kalte Krieg und in Herrn Merz wohnte die Erinnerung an Vater Joachim, den Spross einer evangelischen Soldatenfamilie aus Breslau. Niemand soll das mehr erdulden müssen, wenn es nach Herrn Merz geht. Was die Welt braucht, ist Interessenausgleich statt Infanterie. Winwin statt Wehrwille.

Bei den Menschen, die sich selbst außerhalb des Lagers Wagenknecht so sehr nach Frieden sehnen, kam das gut an. Die Zögerlichkeit des SPD-Altkanzlers, der unsicher lavierte zwischen dem Putin-Flügel seiner Partei und den Transatlantikern, die am liebsten selbst in den Donbass marschiert wären, um Geschützstellungen auszuheben, blamierte die deutsche Arbeiterbewegung. 

Ein Deichgraf wie Schmidt

Hatte nicht die SPD auch schon Kriegskrediten zugestimmt, ohne viel zu fragen? War ihr Parteivorsitzender nicht früher ein strammer Leutnant gewesen, gestählt an der Ostfront? Herrn Merz waren die Wünsche der Massen im Traum erschienen: Ja, er würde einen Anführer spielen, wie es sie früher gab. Ein Deichgraf sein wie Helmut Schmidt, ein kniender Versöhner wie Willy Brandt, ein Gigant, der sich ganz selbstverständlich in den Bademantel der Geschichte hüllt, weil er weiß, dass er ihm auf den Leib geschneidert ist.

Die ersten Tage im Amt verbringt Herr Merz ausschließlich im Ausland. Er will sich ein Bild machen, alle Fronten besuchen, die Mannschaften begrüßen und zeigen, dass er hinter den Frauen und Männern steht, die von der Nordmark bis zum Schwarzen Meer bereitstehen, Putin Rollstuhlarmee zurückzuschlagen. Herr Merz hat die Reihen geschlossen und den Schulterschluss mit den wichtigsten Verbündeten wiederhergestellt.

Schulterschluss ohne die Kleinen

Frankreich Emmanuel Macron, zuletzt behandelt wie der Erbfeind, ist wieder gut Freund. Polens Donald Tusk beschwichtigt und der Brite Keir Starmer zurück in der Familie, obwohl er mit einer menschenverachtenden Migrationspolitik und der Unterdrückung von trans Menschen beweist, dass die EU gut daran getan hat, die Briten loszuwerden. Das Zeichen war klar: Europa ist wieder da, sicherheitshalber, ohne dass all die kleinen Gefolgsschaftsstaaten um ihre Meinung gebeten worden waren. Als sich die frühere Post-Faschistin Giorgia Meloni darüber beschwerte, fand Herr Merz ein Arrangement, das es beiden erlaubt, so zu tun, als sei man einer Meinung, nur eben unterschiedlicher Ansicht.

Merz hat der italienischen Rechtsextremistin versichert, wie wichtig und bedeutsam Italien sei. Meloni durfte sich dafür mit dem sozialdemokratisch regierten Dänemark verbünden, um die über fast zehn Jahre hinweg mühsam ausgehandelten großen europäischen Kompromiss in der Migrationspolitik auszuhebeln. 

Menschenrechte neu interpretieren

Um die "Abschiebung krimineller Ausländer" zu erleichtern, so argumentieren die Italienerin und ihre dänische Kollegin Mette Frederiksen gemeinsam mit den Regierungschefs von Polen, Belgien, Österreich, Estland, Lettland, Tschechien und dem Präsidenten Litauens, müsse die Europäischen Menschenrechtskonvention auf den Prüfstand. Sie verspreche zu viel, locke zu sehr, mache es den Staaten schwer, sich gegen den Ansturm illegaler Migranten zu verteidigen.

Individuelle Überrechte wie sie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in den vergangenen Jahren mehr und mehr herbeiinterpretiert hatte, gehörten zurückgeschnitten. Nationale Handlungsspielräume müssten wiederhergestellt werden - ein Satz, den Herr Merz so nie formulieren würde. Dem er aber auch nicht widersprochen hat.

Ära der Überregulierung

Er beschreibt schließlich, was er will: Aufheben, was hemmt. Wegstreichen, was hindert. Zeichen setzen, die signalisieren, dass die Ära der Überregulierung von oben vorüber ist und die Ideologen in den Parlamenten und Verwaltungssitzen Platz machen müssen für Pragmatiker, die genau wissen, wie Symbolpolitik funktioniert. Alles soll so weitergehen wie bisher. Nur die Außendarstellung soll sich ändern. Herr Merz inszeniert sich als harter Hund. Seine Ansagen setzen Pflöcke: Russland steht nun ganz allein. Israel muss sich warm anziehen. Ein Aufbruch zu neuen Ufern steht an.

Herr Merz hat seine Kritiker überrascht und seine Anhänger in ihrer Ansicht bestätigt, dass da einer kommt, der keinerlei Verwaltungserfahrung hat, aber den brennenden Ehrgeiz, sein eigenes Kapitel im Buch der Geschichte zu schreiben. Noch vor dem ersten Tag im Amt hat Merz mehr heilige Versprechen abgeräumt als Angela Merkel den ihren ersten vier Jahren als Kanzlerin. 

Auf einer blanken Bodenplatte

Und auf dieser neuen, blanken Bodenplatte steht der 69-Jährige nun und ordnet die Bestände neu: Wirtschaft, whatever it takes, auch wenn no ones knows, ob das Geld reicht. Kein Bücken mehr vor den USA, so lange das rote Licht an der Kamera leuchtet. Und eine Spezialoperation zur Beendigung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine: Statt wie bisher Waffen zu liefern, Geld zu schicken und  Russland streng zu sanktionieren, setzt Herr Merz auf  Waffenlieferungen, eine stabile Versorgung mit  Geld und strenge Sanktionen gegen den Angreifer, kombiniert mit der Freigabe weiterreichender Geschosse.

Was über mehr als drei Jahre keinen Erfolg zeitigte, so ist es Herrn Merz im Traum gesagt worden, wird in Bälde wirken. Wenn ein deutscher Kanzler endlich nicht mehr furchtsam nach Moskau schaut, sondern selbstbewusst die Instrumente zeigt, dann wird das Putin beeindrucken. Sollen die Amerikaner sich doch an einem Verhandlungsfrieden mit dem Kreml versuchen und einige wenige europäische Verbündete der Meinung sein, es sei Zeit, mit einem Kampf aufzuhören, bei dem niemand mehr etwas gewinnen werde. 

Die Ukraine soll weiterkämpfen

Herr Merz hat stillschweigend dafür gesorgt, dass die Ukraine weiter für Europas Freiheit kämpfen kann, bis die Bundeswehr in vier, fünf Jahren kriegstüchtig ist und zum Eingreifen bereit. Das Häuflein der als Geiseln im Baltikum eingesetzten "Brigade Litauen", Kopfstärke ein Bataillon, ist ein Beweis neuer deutscher Furchtlosigkeit: Selbst noch nach der russischen Annexion der Krim hatte die Nato die Stationierung von Truppen an der Ostflanke mit rabulistischen Argumenten gegen den Vorwurf verteidigt, es handele sich um eine verbotene dauerhafte Präsenz. Keineswegs, denn es seien zwar immer Soldaten da, die einzelnen Einheiten würden doch aber aller paar Monate abgelöst. 

Eine vertrauensbildende Maßnahme, die Russland zwang, seine Beschwerde kleinlaut zurückziehen. Nein, niemand wollte Putin provozieren, anfangs nicht einmal mit schweren Waffen. Doch auf der Suche nach der roten Linie, hinter der der Kreml-Diktator Putin auf eine neue Eskalationsstufe nicht mehr nur mit Warnungen und neuen Drohnenbombardements antworten wird, hat der neue Kanzler einen wichtigen Schritt gewagt: Feuer frei für die besten Nato-Raketen!

Angriff auf den Feldherren

Kiew könnte nun  Moskau direkt angreifen, selbst den Kremlsitz des Feldherren.  Merzens Genehmigung für Fernangriffe ohne Reichweitenbeschränkung bezieht sich ausdrücklich auf sämtliche militärischen Stellungen. Im Traum ist Merz gesagt worden, dass es auch diesmal gut ausgehen wird. Kein Russe wird Kerneuropa angreifen, noch nicht, denn auch Putins Generalstab weiß, dass die Bundeswehr noch nicht bereit ist für das große Aufeinandertreffen.

Kühl und berechnend setzt Herr Merz auf die Alternative. Jetzt, wo Russland kurz davor steht, hohe Zölle auf Düngerexporte in die EU zahlen zu müssen und seine Schattenflotte nicht mehr in Rostock einlaufen darf, braucht es vielleicht wirklich nur noch die Drohung mit Fernangriffen, um dem Traum vom Frieden näherzukommen. 

Wo Donald Trump verhandelt und den Despoten lockt und schmeichelt, dass es jedem aufrechten Demokraten den Magen umdreht, setzt Merz selbstbewusst auf Druck. Mag sein, dass Sanktionen gegen Kuba in 60 Jahren keinen Systemwechsel bewirkt haben. Mag sein, dass das noch härter sanktionierte Mordkorea heute Russlands wichtigster Munitionslieferant ist. Doch wer sagt denn, dass Russland ähnlich lange durchhält?

Zusammenbruch Zeitfrage

"Es wird schmerzhaft für Russland", hat Merzens Außenminister Johann Wadepuhl den Kreml schon vorab gewarnt. Jetzt ist Russlands Zusammenbruch wirklich nur noch eine Frage der Zeit. Bald wird Deutschland Europas ja größte Armee besitzen. Bald werden modernste Panzer, Flugzeuge und Geschütze zur Verfügung stehen, die Putin zeigen werden, dass er hätte früher auftsehen müssen, wenn er die EU wirklich hätte unterjochen wollen.

In Kürze schon wird allein Deutschland mehr Geld für Rüstung ausgeben als Russland. Das Zeitfenster für Putin, ganz Europa zuerobern, wird sich dann unaufhaltsam schließen. Und wenn alle Glück haben und nichts schiefgeht, erfüllt sich der Traum vom Frieden genauso, wie er Friedrich Merz erschienen ist.

Mittwoch, 28. Mai 2025

Handelskrieg mit Amerika: Die EU will zollfähig werden

Zoll EU Besteuerung an Innengrenzen
Vom Grundprinzip her gesehen ist die EU eine Zollunion, allerdings belegen sich die Mitgliedsstaaten gleichwohl mit zahlreichen  Zöllen, die wegen der Rechtsstaatlichkeit aber nicht so heißen. 

250 Milliarden Überhang, jedes Jahr. 250 Milliarden, die aus den USA mehr nach EU-Europa fließen als aus Europa in die Vereinigten Staaten. Eine Überschussrechnung, die den amerikanischen Präsidenten schwer verärgert. Donald Trump ist überzeugt, dass sein Land diese Summen nicht dauerhaft aufbringen kann, um so viel mehr Waren vom alten Kontinent zu kaufen, als der in den Staaten shoppen geht. Zumal die Vereinigten Staaten ja auch noch Chinas Massenproduktion aufsaugen müssen, um das Gleichgewicht in der Weltwirtschaft zu bewahren.

Je länger, je schlimmer

Je länger, je schlimmer, hat Trump mit Blick auf die Staatsschulden der USA beschlossen, die es dem mächtigsten Land der westlichen Welt unmöglich machen würden, erfolgreich um die Aufnahme in die EU zu bitten. Die USA reißen alle Maastricht-Kriterien, schlimmer sogar als viele EU-Staaten, die diesbezüglich freie Hand haben - wer einmal drin ist, fliegt nicht raus, selbst wenn er nicht einzige Regel einhält und das für immer.

Mit einer Zolloffensive ohne Beispiel verschreckte der ohnehin gefürchtete Republikaner im April Freund und Feind. Nicht nur gegen fremde Mächte mit unlauteren Absichten schwang er den "Zoll-Hammer" (Bild). Sondern auch gegen die Partner in Europa. Trump drohe mit Mega-Zöllen für alle, die nicht die Knie beugen und einen Deal anbieten.

Werte im Visier   

Neben China besonders im Visier: Die europäische Wertegemeinschaft, die es mit über 450 Millionen Einwohnern auf einen Anteil von gut sieben Prozent an der Weltbevölkerung bringt und damit ein Bruttoinlandsprodukt von knapp 18 Billionen Euro erzeugt. 340 Millionen US-Amerikaner schaffen 25 Billionen Euro, ein Phänomen, das in Brüssel immer wieder bestaunt wird, dort aber auch als Beweis dafür gilt, dass sich Amerika den Einkauf in Europa durchaus leisten kann.

Es polterte überall nach der Zollkriegserklärung aus Washington. Aber nirgendwo poltert es so lange wie im Handelsstreit zwischen den Wertepartner dies- und jenseits des Atlantik. Mit den Briten kam Trump flott überein. Man schloss ein Abkommen, über das nicht viel bekannt wurde, außer dass es existiert. Die Chinesen zeigten die Instrumente, aber auch mit Peking fand sich ein Kompromiss, der beiden Seiten Zeit erkauft, um sich in der Mitte oder wo sonst auch immer zu treffen. Nur mit EU-Europa, das vom ersten Tag an bekundete, seine Interessen "verteidigen" zu wollen, geht es nicht voran.

Strafzölle für China

Die Staatengemeinschaft, die seit Oktober vergangenen Jahres Strafzölle von bis zu 35 Prozent auf chinesische Elektroautos erhebt, um die lahmende eigene Autoindustrie zu schützen, hat zuletzt einen Aufschub von vier Wochen ausgehandelt. Die für den 1. Juni vorgesehenen Zölle auf aus der EU eingeführte Waren in Höhe von 50 Prozent treten erst am 9. Juli in Kraft. Bis dahin lebt die Hoffnung, dass es so schlimm vielleicht doch nicht kommen wird. 

Denn die Kräfteverhältnisse sind klar: Deutschland, das außer Puste geratene Zugpferd der lahmenden EU-Wirtschaft, exportiert doppelt so viel in die USA, wie es dort bezieht. Was die USA nicht abnehmen, bleibt liegen, denn die gelegentlich geäußerte Hoffnung, Indien, die Philippinen und Kenia könnten doch als neue Märkte einspringen, entstammen eher einem wirren Fiebertraum als wirtschaftlichem Kalkül. Alle diese Staaten täten das und viel mehr andere täten es auch. Könnten sie es denn bezahlen.

Keine Alternative

Können sie aber nicht. Die EU ist ein Hochpreisstandort, der über Jahrzehnte darauf trainiert wurde, den US-Markt zu beliefern. Im Tausch gegen Medikamente, Medizintechnik, Ausrüstung und Kraftfahrzeuge bezieht Europa aus den Staaten vor allem Rohstoffe - selbst das von Robert Habeck auf dem Höhepunkt der Energiekrise eilig georderte Flüssiggas aus Katar stammt nicht aus dem South-Pars-Gasfeld im Persischen Golf, sondern aus Texas. Der Rettungsschirm, den Habeck heldenhaft spannte, war Made in USA.

Aber die Menge reicht nicht, sie reicht Trump überhaupt nicht. Erstmals hat ein US-Präsident nicht nur beklagt, dass die stets über Handelshemmnisse empörte EU seit Jahrzehnten höhere Zollsätze auf importierte US-Waren aufschlägt als sie selbst beim Export in die Staaten zahlen muss. Nein, zum ersten Mal hat ein Präsident erkennen lassen, dass es damit vorüber ist. 

Ein Kommunist am Verhandlungstisch

Was EU-Handelskommissar Maroš Šefčovič bei seinen Verhandlungsversuchen in Washington anbieten konnte, reichte bisher offenbar nicht. Was genau der frühere Kommissar für Interinstitutionelle Beziehungen und Vorausschau der EU-Kommission von der Leyen I den Amerikaner vorschlug, ist allerdings geheim. 

Nicht geheim ist, dass der Slowake Ende der 80er Jahre am Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen ausgebildet wurde, damals ein Kommunist, heute "Kommissar für Handel und wirtschaftliche Sicherheit, institutionelle Beziehungen und Transparenz". US-Handelsminister Howard Lutnick, studierter Wirtschaftswissenschaftler und Jahrzehnte Chef der Investmentbank Cantor Fitzgerald, weiß damit sofort, womit er es zu tun hat. 

Die Geldquelle der EU

Die EU, die seit Jahren versucht, sich eine eigene Steuerhoheit von den Mitgliedsstaaten einräumen zu lassen, hat selbst höchstes Interesse an hohen Einfuhrsteuern. Der ursprünglich als Zollunion gegründete Stattenfamilie fließen die Zolleinnahmen auf Importe aus dem außereuropäischen Raum zu. In Brüssel heißt das "Eigenmittel". 5,7 Milliarden Euro macht das im Jahr. Zölle bedeuten gutes Geld für die Kommission, die aus dieser ständig sprudelnden Geldquelle 14 Prozent ihrer Ausgaben deckt.

Das geht nur, weil die Einfuhrabgaben auf amerikanische Autos viermal so hoch sind wie die, die US-Importeure auf EU-Fahrzeuge zahlen müssen. Wegen Trump wird die Kommission nicht ablassen von der einzigen Einnahmequelle, über die sie selbst verfügen kann, ohne bei den notorisch klammen Mitgliedsstaaten betteln zu müssen. 

Dumm nur, dass der, der mehr verkauft und weniger kauft, bei Importabgaben immer weniger einnimmt als der, der mehr kauft und weniger verkauft. Schlechte Karten für Europa - denn hohe Einfuhrzölle auf Öl und Gas oder ein Google- und Apple-Zoll wäre im Inland schwer zu erklären. Und sehr viel mehr ist es nicht, was Europa aus Amerika bezieht. Um ernsthaft zollfähig zu werden, müsste die EU tun, was Trump fordert: Mehr importieren.

Europa setzt auf Härte

Trump weiß das und er zeigt sich kompromisslos. Während die EU stolz verkünden lässt, sie setzte "auf Härte", agiert der US-Präsident wie ein Angler. Mal zieht er die Rute an, mal lässt er Leine. Mittlerweile sind es nur noch altgediente Dauerfunktionäre wie der Sozialdemokrat Bernd Lange, die von "EU-Gegenmaßnahmen" schwärmen und davon, wie Trump mit Harley- und Whiskey-Zöllen in die Knie gezwungen werden wird. Peanuts.

Etwas einfallsreicher geht Friedrich Merz vor, der die alte Baerbock-Idee aus dem Keller holte, Europa könne ja die US-Techkonzerne für die Politik des US-Präsidenten haftbar machen und die eigenen Bürger zur Kasse bitten. Für die Bundeswehr keine guten Nachrichten, denn deren funkelnagelneue Cloud-Strategie mit dem wunderbaren Namen pCloudBw baut auf digitale europäische Souveränität mit Hilfe der Google Cloud. 

Geschlossene Gemeinschaft

Deutschland aber hat mit dem allem nichts zu tun. Angesichts der Gefahr, dass die Wirtschaft im Land im dritten Jahr der Rezession noch heftiger abschmiert, wenn Trumps 50-Prozent-Zollsätze in Kraft treten, verweist die Regierung des EU-Staates, der am stärksten von einem Zoll-Tsunami getroffen werden würde, auf die Zuständigkeit der EU für Handelsfragen. Auch Finanzminister Lars Klingbeil sieht in der "Geschlossenheit" der Gemeinschaft die stärkste Waffe gegen Trump. Zusammen zuschauen. Zusammen scheitern. Zusammen leiden.

Geht sie nach hinten los, droht den Experten der Bundesregierung zufolge so viel Schaden nicht. Mindestens "die Hälfte des erwarteten Wachstums" falle damit weg, wollen  Ökonomen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln berechnet haben. Weniger geht gar nicht, denn nach der letzten Prognose des DIW wird das BIP in Deutschland im Jahr 2025 ohnehin nicht wachsen.

Lars Klingbeil: Der Mittemäßige

Lars Klingbeil Finanzminister der Arbeiter
Einer, der sich für die hart arbeitende Mitte gern schmutzig macht: Der neue alte SPD-Chef Lars Klingbeil ist jetzt der Finanzminister der kleinen Leute.

Schon kurz vor der Bundestagswahl war es so weit. Die deutsche Sozialdemokratie, damals noch repräsentiert von einem mächtigen Trio aus Kanzler Olaf Scholz und den beiden gleichberechtigten Parteivorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil, kündigte für später, nach einer möglicherweise gewonnenen Wahl und einer Fortsetzung der erfolgreichen rot-grünen Fußgängerampelkoalition, eine stärkere Fokussierung der eigenen Politik auf die hart arbeitende Mitte an. 

Für die Fleißigen im Land

Die vielen Fleißigen draußen im Land sollten endlich mehr von dem haben, was sie für alle erarbeiten. Schluss mit immer weiter steigenden Steuern und immer höheren Abgaben. Schluss mit Gängelung im Detail und strengen Vorgaben für die bescheidenen Einfamilienhäuschen, die sich dieser oder jener gegen jede ökonomische Vernunft irgendwo an den Stadtrand hatte stellen lassen.

Es war ein Weckruf, der zu spät kam. Nicht einmal mehr 17 Prozent der Bürgerinnen und Bürger glaubten der SPD, dass sie es ernst meint. Die frühere Arbeiterpartei, seit dem abrupten Ende der Schröder-Ära hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht, eine Vertretung der kleinen Leute zu sein, und dem Drang, sich für die ganz Schwachen starkzumachen, stürzte brutal ab. Binnen von nur drei Jahren verlor sie ein Viertel ihrer Wähler. Verglichen mit Schröders letzter Bundestagswahl 2005 blieben ihr nicht einmal mehr die Hälfte der damaligen Wähler treu.

Die Konstante aus dem Apparat

Für das, was nach dem Abgang des Kanzlers Scholz und der schnell für die Misere verantwortlich gemachten Parteivorsitzenden Saskia Esken an SPD übrig blieb, war das ein Warnschuss. Lars Klingbeil, die Konstante im Parteiapparat, hatte es kommen sehen. Aber was hätte er denn tun sollen. Seit er in der Abenddämmerung der Schröder-Jahre zum Chef der SPD-Nachwuchsorganisation Junge Sozialisten gewählt worden war, drängte die Partei nach links - weg vom neoliberalen Kurs des Niedersachsen Schröder, weg von "fordern statt Fördern", weg von Hartz 4 und einem für sozialdemokratische Verhältnisse geradezu libertären Staatsverständnis.

Als Nachwuchskader ohne jede Berufserfahrung außerhalb des sozialdemokratischen Biotops, in dem er mit Politikstudium, Abgeordnetenbürohilfsdiensten und einer Anstellung als Jugendbildungsreferent bei der SPD geradezu schulbuchmäßig groß wurde, war Klingbeil unter den Jüngeren, die mit nach links drängten und zogen. Mit 26 zog er unverhofft in den Bundestag ein, als ein erfahrener Genosse über eine Gehälteraffäre stolperte. Doch es reichte nicht zum Wiedereinzug und Klingbeil musste vier Jahre als Büroleiter des SPD-Landeschefs von Niedersachsen überwintern.

Von links nach rechts

Dann war er wieder da und seit dem geht er auch nicht mehr weg. Schon 2015 hat sich Lars Klingbeil neu orientiert. Er ist nun kein Vertreter des linken Parteiflügels mehr, sondern einer des gemäßigt rechten. In der Partei gilt er als umgänglicher Pragmatiker. Als Generalsekretär stand er für den unverhofften Erfolg bei der Bundestagswahl 2021, als ein Schmunzeln des CDU-Kandidaten Armin Laschet der SPD das Kanzleramt in den Schoß fallen ließ. 

Sein Ruf, der Architekt des Erfolges zu sein, verhalf ihm zum Sprung an die Spitze der Partei. Und seine Entschlossenheit, von dort nicht zu weichen, sicherte ihm nach der verlorenen Bundestagswahl 2025 die ganze Macht in der SPD: Als alle anderen noch Wunden leckten und sich fragten, wie es nun weitergehen solle, verkündete Lars Klingbeil seinen Wechsel an die Spitze der geschrumpften SPD-Fraktion. Von dort aus hatte er ersten Zugriff auf ein Ministeramt. Er wählte mit dem Selbstbewusstsein des studierten Politikwissenschaftlers das Finanzministerium.

Eine neue sozialdemokratische Ära

Lars Klingbeil ist seitdem Vize-Kanzler und entschlossen, eine neuerliche sozialdemokratische Ära einzuleiten. Im Zentrum aller Bemühungen steht jene "hart arbeitende Mitte", eine unbestimmte Menge Volks, von dem der 47-Jährige hofft, möglichst viele zählten sich dazu. Wie immer wird alles besser werden, wenn alles so kommt wie geplant. Wie immer ist kaum mehr die Rede davon, warum es nicht schon früher besser geworden ist. Klingbeil versucht, sich als Arbeiterführer neu zu erfinden, den nicht mehr zuerst die kümmern, um die man sich kümmern muss. Sondern die, die sich eigentlich gern selbst kümmern würden. 

An der Seite des Unionskanzlers, den er noch vor kurzer Zeit im Verdacht hatte, "die demokratische Mitte unseres Landes zu spalten", tritt Klingbeil auf wie eine Mischung aus Vernunftpolitiker und Visionär. Ohne dass er jemals öffentlich erklärt hat, welche Gründe ihn dazu bewegen, soll die SPD sich im Schröderschen Sinn neu erfinden: Klingbeil hat ihr die Flausen nicht etwa ausgetrieben, die den früheren Generalsekretär Kevin Kühnert und seine - derzeit noch amtierende - Parteivorstandskollegin Saskia Esken immer wieder von einem neuen sozialistischen Experiment hatten träumen lassen. 

Früher war er gar nicht da

Er tut einfach so, als sei das nie geschehen, als habe die SPD nicht am Ruder gesessen, als der Dampfer Deutschland Fahrt ins wirtschaftliche Abseits aufnahm und die größte Sorge der Parteiführung darin bestand, sich immer neue paternalistische Zumutungen für immer mehr Menschen als notwendige Maßnahmen auf dem Weg in ein noch besseres Morgen beschreiben ließen.

Aus heutiger Sicht war Lars Klingbeil nie zugegen, wenn frühere Kabinette all die Sachen beschlossen, für die sie später abgewählt wurden. Der Hüne, einige Zentimeter länger sogar als der hochaufgeschossene Friedrich Merz, meldete sich in der Regel im "Kampf gegen rechts" zu Wort, ein nimmermüder Mahner und Anprangerer, dem schon vor Jahren schwante, dass die Brandmauer die tragende Wand der deutschen Demokratie ist. In die Niederungen der Haushaltspolitik aber begab sich der neue Finanzminister lieber nicht. 

Das Leben im Detail regeln

Klingbeil denkt größer, immer schon. "Wir müssen die Alltagssorgen der Menschen lösen", hat er seiner Partei schon ins Stammbuch geschrieben, als die noch dabei war, die Klimaprobleme der ganzen Welt zu lösen. Die Formulierung allerdings verrät, wie Klingbeil funktioniert: Der "Rocksänger und Verteidigungspolitiker" (Watson) hat den alten SPD-Glaubenssatz tief verinnerlicht, dass Parteien nicht einfach nur "an der Willensbildung mitwirken", sondern berufen sind, das tägliche Zusammenleben zu im Detail regeln. 

Die "moderne Volkspartei", als die er eine sanierte und renovierte SPD sieht, hat als neue Zielgruppe die im Blick, von denen sie am wenigsten weiß: "Wir wollen, dass es spürbare Veränderungen gibt für Menschen, die hart arbeiten und die zu Recht erwarten, dass unser Land besser funktioniert", hat Klingbeil formuliert, ohne sich in Einzelheiten  zu ergehen. "Umfassende Reformen" (Klingbeil) sollen den Beitragsanstieg bremsen, sogenannte "Strukturreformen" sollen es sein, die die Beiträge "dauerhaft stabil halten". Leistungskürzungen kommen nicht infrage, auch die Rente bleibt sicher, selbst wenn der Finanzminister "nicht dauernd angerufen und nach mehr Geld gefragt werden" kann, wie Klingbeil schon vorab klarstellte.

Keine höheren Beiträge, keine gekürzten Leistungen, keine höheren Zuschüsse. Das klingt nach einem brauchbaren Konzept und wenn der Plan aufgeht, hätte Lars Kingbeil nicht nur die SPD wieder als Partei der Fleißigen etabliert, sondern auch die Mathematik besiegt.


Dienstag, 27. Mai 2025

Die Ostmulle, der neue Liebling des Westens

Die Ostmulle, künstlerisch umgesetzt: Hinten an der Wand ein Deutschland-Wimpel.

"Die Wessis sind entweder Kommunisten oder Faschisten. Dazwischen tun sie es nicht." 

Gerd Gerber, Tischler aus Gera 

 

Was soll das sein, "Ostmullen"? Wo finden die sich, wenn nicht in den typischen Westblättern, die vor Jahren schon begonnen hatten, sich ihren eigenen Osten zu erfinden, mit Hakenkreuzmädchen und Kindermorden in Freibädern, zu denen ganze Ortseinwohnerschaften applaudierten, wie das Topfen im Kindergarten es so gelehrt hatte.

Die "Ostmulle", so schildert es die Hamburger Wochenschrift "Die Zeit" der Leserschaft in den echtholzparkierten Bionadevierteln der Republik, sei eine Frau, die "in kurzen Videos ihre Lippen bewegen zu Hardtekk oder Rechtsrock oder auch nur mutmaßlichem Rechtsrock". Mit Hilfe von "Lorbeer-Tattoos" machten diese Ostmenschen auf TikTok "rechte Ideologie zu Pop", zu populärem Stoff als, für den es Exil-Ostler wie den "Zeit"-Expeditionsreisenden Cornelius Pollmer braucht, um die Nachbarschaft über dessen Existenz zu informieren.

In den Steppen von Sachsen

Der Exilsachse Pollmer ist beileibe nicht der erste Ostflüchtling, der sich hinausgewagt hat in die Steppen von Sachsen, die Thüringer Täler oder die weiten, weitgehend entvölkerten ehemaligen Landschaften Mecklenburgs. "Auf verlorenem Osten" reisten schon Dichter, Denker und Filmregisseure. Sie beschrieben das Leben an Bushaltestellen und vor geschlossenen Kneipen, die Dankbarkeit der BMW-Fahrer und den Hass der bei der Frühverrentung Zuspätgekommenen. 

Mit einem mutigen Spontanausstieg aus einem Deutschlandticket-Zug "in einer beliebigen ostdeutschen Kleinstadt" aber stieg noch nie jemand ein in eine ethnologische Enthüllung der dunkelsten Seiten der schwarzen Seele der Vielfaltsrepublik: Hier draußen ist der zivilisationsgewohnte Reporter ganz allein. Er trifft auf Deutschland mit ländlichem Raum und "sehr eigenen Ideale von Mode und Ästhetik". Heidi Reichinnek wird als Referenzpunkt nicht ausdrücklich genannt, aber der gemusterte Körper der Linkspolitikerin, von fern an einer in endlosen Stunden hoffnungsloser Langeweile bemalte Schulbank erinnernd, dürfte vielen "Zeit"-Lesenden bekannt sein.

Alle sichtbaren Körperflächen

Diese "oft exzessive Ausgestaltung aller sichtbaren Körperflächen" ergibt nach Pollmers Erkenntnissen ein "in Summe zuweilen fast tribalistisch anmutendes Gesamtbild von Mensch", das nicht auf junge Linke und Grüne beschränkt ist. Im Osten sehen sie alle so aus: Die "maulfaulen Männer in karierten Dreiviertelhosen, in deren längst müde gewordenen Ohrläppchen gewaltige Tunnelringe schaukeln". Daneben die "Omas in ihren wattierten Steppjacken, unter denen Plastikstrass in feinen Blättchen schimmert". Und eben auch und vor allem die "Ostmullen", das Aushängeschild, das die Medien der demokratischen Mitte vor einigen Wochen aus noch körperwarm aus den TikTok-Zitzen zapften.

Ostmullen, das sind die, in denen "politische Ahnungslosigkeit auf digital verschönerte Dummheit trifft". "Ostmullen" würden vielleicht die Verstaatlichung der Deutschen Bahn fordern, hätten sie nicht anderes zu tun: Sie müssen Lipsync-Videos machen, aber nicht zu Taylor Swift und Adele, sondern zu eben jenem "Hardtekk oder Rechtsrock oder auch nur mutmaßlichem Rechtsrock". Hinter ihnen und ihren Tattoos, ihrer Schminke, ihrer Dekolletés, ihrer Weltanschauung, ihrem Selbstbewusstsein hängen im Kinder- und Jugendzimmer "auch mal Deutschland- oder Reichskriegsflaggen". Das sei "sehr verstörend", raunt der Reporter, obwohl Wahlplakate zuletzt gar nicht so viel anders aussahen.

Kiloweise Nasenringe

Aber die Leute im Vordergrund waren immerhin keine Ostler aus elenden Kleinstädten in der Provinz, an der "Straße der Gewalt". Keiner dieser neuen Nationalisten summte ein Landser-Lied, niemand hatte in Textmarker-Pink gefärbte Haare, im Gesicht "reichlich Blech verschraubt und vertackert" und "eine erstaunliche Häufung von Nasenringen". Zeug, das die gewöhnliche Ostmulle kiloweise mitschleppt, wenn sie bei Tiktok Followerjagd geht wie die "Zeit". Nur eben nicht in seriösem Fummel Marke "Ist Trump der korrupteste Präsident" oder "Macht Frankreich jetzt einen auf Trump". Sondern mit Preußen, Bismarck und Deutschtümelei.

Wer sich in der beliebigen ostdeutschen Kleinstadt nur kurz und wagemutig am Bahnsteig die Beine vertritt, bekommt vielleicht nicht einmal eine Ostmulle zu sehen. Aber die "Zeit" hat sie gefunden: "bretthart verstrahlte Ost-Underdogs, die komplett verstanden haben, was die Wendung "Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert" bedeuten kann". Man liest keine "Zeit" und vermutlich auch das örtliche Amtsblatt nicht. Der verschobene Sendetermin von "Hart aber wer" ist einem egal. Und das Verfassungsschutzgutachten zur gesichert rechtsextremistischen AfD bedeutet so viel wie dem schlossernden Opa seinerzeit der wütende Hinweis des VEB-Betriebsdirektors, wer das staatsfeindliche Pamphlet des Neuen Forums unterschreibe, bekomme mächtig Ärger.

Freiwild singen, Freiwild sein

Weil die Ostmullen dem Westen den Respekt für alles verweigern, was er ihnen gebracht hat, abgesehen von Textmarker-Pink gefärbten Haare, Nasenringen und mutmaßlichem Rechtsrock, ist für sie der dicke Knüppel der Verachtung gerade gut genug. Man kann die nicht erziehen, man kann sie nur verächtlich machen, an ihren Körpern mäkeln, ihr Aussahen ins Lächerliche ziehen und in Misogynie schwelgen. Ostmullig sein heißt Freiwild singen und Freiwild sein für die Betrachter aus dem Westen, denen das letzte Urteil über die Zulässigkeit eines solchen Phänomens zusteht.

Ob "Bautzen City Girl", "Chemnitz City Girl" oder "Cottbus City Girl" - was niemand mitbekam, als es der rechte Konferenzredner Martin Sellner als "massiven metapolitischen Dammbruch" feierte, bekommt die rechte Reichweite jetzt, wo die Frauen, "die zwischen Taille und Saum des bauchfreien Tops einen permanenten Lorbeerkranz am Körper tragen", mit ihren "Fußball-Shirts mit einem Adler drauf" (Die Welt) ihren Grusel in die Bürger- und Beamtenhaushalte im demokratisierten Teil des Landes verklappen.

Jetzt auch noch das: Starker Euro

Sdhwacher Eur knittriger Dollar
Das neue Ziel der EZB ist es, dem Dollar Konkurrenz zu machen.

Die Zölle, die Spaltung, die Wirtschaftsflaute wegen der hohen Energiepreise und der schweren Bürokratielasten. Als sei das alles noch nicht genug, hat EZB-Präsidentin Christine Lagarde jetzt auch noch einen "stärkeren Euro als Antwort auf Trump" angekündigt. Als seien fast 15 Prozent Kursgewinn der Gemeinschaftswährung seit Anfang Januar noch nicht genug, plant die Europäische Zentralbank eine weitere Stärkung des Euro, der seit seiner Einführung vor 25 Jahren etwa die Hälfte seiner Kaufkraft verloren hat. Nach großem Hin und Her aber im Vergleich zum US-Dollar etwa dort steht, wo er am Tag seiner Einführung notiert worden war. 

Die ausgefallene Dollar-Alternative

Alle Versuche, mit dem neuen Einheitsgeld eine Alternative zum Dollar zu etablieren, sind bisher verpufft. Je nachdem wie die Wirtschaft in Europa und in den Vereinigten Staaten lief, ging es mal runter und mal hoch. Den eigenen Anspruch aber, zur Weltreserve- und Haupthandelswährung zu werden, löste die von Wohl und Wehe der Hinterzimmerverhandlungen der mittlerweile Eurostaaten  abhängige Währung nicht ein. Weltweit gehandelt wird in Dollar, nicht nur Öl und Gas. Wer mehr exportieren will, der tut am besten daran, seine eigene Währung zu schwächen, um es Käufern leichter zu machen, sich für seine Produkte zu entscheiden.

Ausgerechnet diesen Effekt will Christine Lagarde nun ausgerechnet in einem Moment mit einem "stärkeren Euro" konterkarieren? Natürlich, die frühere Finanzministerin hat nur Jura studiert, nicht Volkswirtschaft und nicht Ökonomie. Doch dass eine starke Währung einem schwachen Wirtschaftsraum nicht eben hilft, sich zu berappelt, müsste selbst sie wissen. Und sie weiß es ja auch. Als Lagarde von einem "starken Euro" sprach, meinte sie keine Währung, die stark im Sinne von wertvoll ist, verglichen mit anderen Währungen. Diese Interpretation stammt von der deutschen Nachrichtenagentur DPA, einer Wahrheitsfabrik von legendärem Ruf, aus der nahezu die gesamte deutsche Presselandschaft ihre häufig frei flottierenden Informationen bezieht. 

Nicht mehr ganz gesund

DPA-Meldungen sind beliebt, weil das sogenannte Agenturprivileg es den Abnehmern der Nachrichten gestattet, sie zu übernehmen, ohne dass der Inhalt auf Richtigkeit überprüft werden muss. DPA hat immer recht. Und wenn nicht, dann haben es zumindest alle gleich falsch. Unvergessen sind die "Ehec-Toten", die meist "nicht mehr ganz gesund" wurden. Aber auch die geheimnisvolle Verwandlung eines inszenierten Werbebildes, das ein Regierungsfotograf im Kanzleramt anfertigte, in ein journalistisches Großwerk schafft nur die Agentur, die von sich selbst sagt, sie habe sogar die Selfies der Mitglieder des Nationalsozialistischen Untergrund fotografiert.

Etwas anderes darf behauptet werden, aber die Verbreitung fällt schwer. DPA verfertigt nicht nur fantasievolle Informationen, DPA sorgt als Facebook-Faktencheck-Partner auch dafür, dass sie richtig bleiben. In Deutschland bleibt es deshalb absehbar auch bei einer angeblichen Forderung Lagardes nach einem "starken Euro", obwohl die 69-Jährige bei ihrer Rede in der Berliner "Hertie"-Schule ausschließlich öffentlich von einer "stärkeren Rolle" der Gemeinschaftswährung geträumt hatte. Überall wo in Englisch berichtet wird, beklagt Lagarde  ausgiebig die seit Jahrzehnten zu verzeichnende Stagnation der "globalen Rolle des Euro", nicht dessen Kursschwäche. 

Die große Wohlstandslücke

Die hat ihre Ursachen in der von Lagardes Vorgänger Mario Draghi im vergangenen Jahr beklagten  "großen Lücke im Bruttoinlandsprodukt" zwischen EU und USA, die sich in den letzten Jahrzehnten "aufgetan" (Draghi) habe. Mit der Folge, dass das "verfügbare Pro-Kopf-Einkommen in den USA seit 2000 fast doppelt so schnell gestiegen sei wie in der EU und die europäischen Haushalte den Preis in Form eines entgangenen Lebensstandards gezahlt" hätten. 

Für Lagarde aber sieht die Welt ganz anders aus: Irgendwie ist auch daran Trump schuld, der aber hat sein Blatt wohl nun überreizt und so ist es Zeit für ein "global euro moment", wie es die gelernte Juristin nennt. Der Euro soll Weltleitwährung werden, wieder einmal. Diesmal beflügelt durch einen von der EU geschaffenen "tieferen, liquideren Kapitalmarkt" mit einheitlichen Regeln von Lissabon bis Tallinn, einer "größeren militärischen Stärke" und der Sicherheit einer Region, die ihre Sicherheit "mit harter Macht bewahren" können. Von Bürokratie, technologischem Rückstand durch verweigerte Innovationen und den hemmenden Folgen einer beständig ehrgeiziger werdenden zentralen Planwirtschaft in der EU sprach Lagarde nicht.

Der Euro als er

Für die Zentralbankchefin ist der Euro so etwas wie ein lebendes Wesen. Sie nennt ihn liebevoll "er", als habe das, was in einem niemals endenden Strom aus den Trillionenpressen der EZB kommt, einen eigenen Willen. "Der Euro wird nicht automatisch an Einfluss gewinnen – er muss ihn sich verdienen", rief die EZB-Chefin eine Binse Marke "Junge, streng dich an, im Leben bekommt man nichts geschenkt" in die Hertie-Schule. Das Publikum erfuhr zudem, dass die "Rolle des Dollar" seit Jahren rückläufig sei und der Greenback mittlerweile "nur noch 58 Prozent der internationalen Reserven" ausmache. Der niedrigste Stand seit Jahrzehnten, aber der Anteil des Euro liege schon bei 20 Prozent - nach mehr als 25 Prozent vor 15 Jahren.

Wenn das nicht Hoffnung macht, dann kann zumindest später niemand die Hoffnung verlieren, wenn es wieder nicht klappt. In Europa hängt fast ein Fünftel der Wertschöpfung am Export, Lagarde nannte "30 Millionen Arbeitsplätze", die direkt davon abhängig seien. Der jetzt ausgerufene Kurs auf eine "Stärkung der internationalen Rolle des Euro" solle sich "positiv auf den Euroraum auswirken", der das dringend nötig hat, weil die Wirtschaften der Euro-Staaten in der Regel sogar noch schlechter laufen als die der EU-Länder mit eigenen Währungen. Lagarde hat verkündet, dass Kredite in der EU günstiger werden könnten, was die Binnennachfrage stütze. Zudem hätten Wechselkursschwankungen dann weniger Folgen, da mehr Handel in Euro erfolge, und Europa sei dadurch "besser gegen Sanktionen gefeit". Wirrer wirds nicht mehr, außer bei DPA.