Freitag, 24. März 2023

Gestohlene Zukunft: So schrecklich steht es wirklich

Schlimme Nachrichten vom Fortschritt: Er lahmt wegen des globalen Kapitalismus.

Verdammter Kapitalismus! Verdammte Industrialisierung. Verdammte Globalisierung. Immer mehr Menschen weltweit werden immer älter, immer mehr Menschen können Lesen und Schreiben und immer mehr sind deshalb in der Lage, ihre eigene schlimme Situation einzuschätzen: Es steht es übel um den Fortschritt, der Planet wird zugunsten einiger weniger Menschen ausgebeutet, Bildung und Gesundheit scheinen zwar weltweit gestiegen zu sein. Doch wer hat wirklich etwas davon?

Immer länger konsumieren

Nur der Kapitalist, der sich daran erfreut, dass mit steigender Lebenserwartung immer mehr Menschen immer länger gezwungen sind, immer mehr Waren zu konsumieren. Großverlage und Internetgiganten frohlocken zudem angesichts einer Alphabetisierungsrate, die im zurückliegenden Jahrhundert förmlich explodierte. Ohne dieses gestiegene Vermögen der Menschen, Lesen zu können, wären Datenmonster wie Facebook oder Twitter nicht lebensfähig, Magazine wie "Der Spiegel" oder Tageszeitungen wie die "Süddeutsche" fänden kaum ein Publikum und selbst die knappen Ankündigungstexte der Meldungen in der "Tagesschau" blieben für den Großteil der Zuschauer ein Buch mit sieben Siegeln.

Es ist die Schattenseite einer vermeintlichen Verbesserung der Situation, die von Daten des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty beleuchtet wird. Auf den ersten Blick scheint die Grafik (oben) zu zeigen, dass die wesentlichen Fortschritte im 20. Jahrhundert erzielt worden sind. Bei genauerer Betrachtung aber fällt auf, dass der steile Anstieg der Lebenserwartung zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Zusammenbruch des sozialistischen Weltsystems liegt. Mit dem Abschied des Kommunismus von der Weltbühne nahm die Alphabetisierungsrate zwar noch einmal rasanter zu. Das Wachstum der durchschnittlichen Lebenserwartung aber hatte seine besten Zeiten bereits erlebt. 

Offenbarungseid des globalen Kapitalismus

Offenbar ist der globale Kapitalismus zwar in der Lage, die Menschheit Lesen und Schreiben zu lehren - womöglich, weil nur so neue Nutzer für die globalen Datenkraken zu gewinnen sind. Der Zuwachs an Bildung aber führt nicht mehr automatisch zu einem steilen Anstieg der Lebenszeit, die den Opfern des marktwirtschaftlichen Konkurrenzsysteme vergönnt ist. 

Piketty verweist zur Erklärung der offenkundigen Diskrepanz zwischen dem anhaltenden Zuwachs an Bildung und dem verlangsamten Anstieg der Lebenserwartung auf den starken Ausbau des Sozialstaats und die Einführung progressiver Steuern in vielen Staaten im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts. Das Phänomen des Grenznutzens wird hier deutlich: Wo es gut ist, wird es immer schwerer, es besser zu machen. Wo schlecht steht dagegen, wäre es einfacher, aber weil selbst in den Kernstaaten des Kapitalismus die Zweifel am eigenen System wachsen, reicht die Strahlkraft des westlichen Wirtschaftsmodells nicht mehr aus, Nachahmer zu begeistern.

Begeisterung fehlt

Gerade dort, wo es am nötigsten wäre, lahmt der Trend am meisten. Europa, selbst über die EU hinaus, hat die höchste Lebenserwartung aller Kontinente, wobei das kleine San Marino mit durchschnittlich 85 Jahren noch heraussticht. Alle Staaten mit der niedrigsten durchschnittlichen Lebenserwartung aber liegen in Afrika - ein deutlicher Hinweis, was eine weitere ungebremste Klimaerwärmung auch im Abendland anrichten würde. So liegt die Lebenserwartung in der Zentralafrikanischen Republik, in der das Thermometer im Jahresdurchschnitt 33 Grad zeigt, bei lediglich 54 Jahren - beinahe 20 Jahre niedriger als weltweit. Hier bleibt dann auch wenig Zeit, Lesen und schreiben zu lernen: Nicht einmal 40 Prozent der Zentralafrikaner können das. Ein Armutszeugnis für das Kapital.


2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Lesen können und lesen tun sind 2 verschiedene Sachen. Es sind doch nur wenige, die freiwillig
ein Buch in die Hand nehmen. Es ist wie Russisch in der Schule im Osten. Alle hatten es in der Schule und fast keiner hat es danach noch angewendet.

Der lachende Mann hat gesagt…

@Anonym 1 Ich habe mich auf die Unterrichtsstunden - wie auch in Latein - immer gefreut, aber wo hätte man es anwenden können (das Russisch, hehe)? Viel später ist mir dann einmal aufgefallen, daß wir in Gesprächen mit Russen unbeholfen gewesen wären, auch nach den acht Jahren, weil der Unterricht uns nicht fit machte für Alltagssituationen, in denen man die Sprache hätte anwenden können. Fürs Übersetzen langer Artikel in "Ogonjok" war es dagegen gut geeignet.