Dienstag, 22. Dezember 2009

Bierbowle im Atomkraftwerk

Es war genauso kalt wie jetzt, schreibt der Berlinpankowblogger in einer bemerkenswerten Abrißexkursion zum ehemaligen Atomkraftwerk in Greifswald. Es geht zurück in den Winter 1984. Und in ein Land, dessen Schwerarbeiter sich von "Bierbowle" und Monteurskaffee" ernähren. Die Rezepte dürfen auf Silvesterpartys nachgebraut werden:

Gut zwei Jahre vor dem Gau in Tschernobyl bauten wir das Atomkraftwerk Lubmin. Direkt an den Ostseestrand. In Ruf- und Stromversorgungsweite Polens. Mit Stahl aus dem Westen, Arbeitern aus der DDR, Schweißelektroden aus dem Osten. Experten vom ZIS, dem Zentralen Institut für Schweißtechnik Halle. Und Monteuren aus Merseburg und Halle. Von der IMO (Industriemontagen), vom MLK (Metalleichtbaukombinat), vom SKET (Schwermaschinenkombinat Ernst Thälmann). Und Experten aus Russland, die sich auskannten mit Atomkraftwerken. Die auch schon den Bau des Reaktors in Tschernobyl betreut hatten.

Die Experten, die Spezialisten, die Abteilungsleiter, die Monteure – sie waren immer da. Im Zwölfstundenschichtdienst, Tag und Nacht, im Mittwoch/Mittwoch-Rhythmus. Mittwoch bis Mittwoch auf Montage, Donnerstag bis Dienstag frei. Geschlafen im Arbeiterwohnheim Greifswald. Oder eher gehaust. In Zweiraumwohnungen. Küche mit Elektroherd und Kühlschrank, Bad mit Wanne, zwei Zimmer mit jeweils zwei Doppelstockbetten. Ein Zimmer mit Tisch und Stühlen. Zum Doppelkopfspielen. Und zum Saufen. Bierbowle zum Beispiel. Beliebt nach der Nachtschicht (18 bis 6 Uhr). Am Abend vorher angesetzt.

Zutaten: Ein (einigermaßen) sauberer Wischeimer, Früchte aus der Dose, aus dem Glas. Pflaumen, Pfirsiche, Aprikosen, Kirschen – was auch imer da war. Zucker drüber und Ruß. Also Schnaps, so hochprozentig wie möglich. Am besten Primasprit. Wenn nicht, dann Korn, Goldbrand. Alles, was dreht. Abdecken, über Nacht stehen lassen. Am Morgen dann, nach dem Duschen, Bier drauf. Helles, Pils, Dunkles, Bock – egal. Hauptsache genug, um den Wischeimer bis zum Rand aufzufüllen. Umrühren, fertig. Dann in Gläser abgefüllt. Doppelkopf- oder Skatkarten auf den Tisch und ab ging die Post. Morgens um sieben. Bis zehn/elf Uhr waren alle voll. Ab in die Koje. Viele gleich in ihren Arbeitsklamotten. Um nicht zu viel Zeit mit Anziehen vertrödeln zu müssen.

Kurz vor fünf fuhr der Montagezug. Morgens wie abends. Von Greifswald nach Lubmin. Ein Zug voller Monteure. Ein Schichtzug voller Karo-Qualm, Schweißgeruch, Männersocken-in-Arbeitsschuhen-Gestank. Und voll. Sitzplätze gab´s nur für altgediente Monteure. Wehe, ein Neuer hatte sich auf einen Platz eines alten Hasen gesetzt. Da gab es schon gleich mal Dresche. Oder zumindest die Androhung derselben. Natürlich gab´s auch Kaffee. Monteurskaffee. Monteurskaffee sah aus wie Kaffee, wurde aus Kaffeetassen getrunken. War aber keiner. Wodka oder Goldi mit Cola. Morgens, kurz vor Fünf im Schichtzug.

Punkt sechs ging´s dann los. Auf der riesigen Baustelle. 500 Meter breit, zwei Kilometer lang. Vom Gerüst oben der Blick bis hinüber zur Greifswalder Oie, bis nach Rügen. Und nach Polen konnte man sehen, entlang der Strommasten. Es ging um den Bau von “Block fünf und sechs“. Vier Blöcke waren schon in Betrieb. Versorgten ein Zehntel der DDR und Westpolen mit Atomernergie. Oder “Strom aus dem Kernkraftwerk“, wie es damals hieß. Auf der Baustelle gab es überall Alarmlampen und -sirenen. Für den Falle des Falles. An den nie einer wirklich gelaubt hat. Deshalb störte es auch keinen, dass bei einigen Notfall-Rundumleuchten die Anschlusskabel lose heraus hingen. Das war eben so.

Der Bau von Block fünf und sechs kam aber sowieso nicht recht voran. Kein Stahl, keine Schweißelektroden, kein dies, kein das. Immer hat irgendwas gefehlt. Manchmal haben die Monteure das erst gemerkt, wenn sie vor Ort waren. Oben auf dem Reaktorblock, in 60 Meter Höhe. Dann ging es wieder runter. Über unendlich lange Gänge, Gerüstleitern. Durch tonnenschwere Sicherheitstüren, über rutschige Verbindungsschächte. Unten angekommen war dann Pause. Frühstückspause. Manchmal auch schon Mittag. Dann gab es bei manchen Monteurskaffee. Andere hatte noch ein Schluck Bierbowle in der Thermoskanne.

Block fünf ging 1989 in Probebetrieb.Und wurde wieder abgestellt. Nach dem Protest von Umweltgruppen. Wie auch der Rest des Kernkraftwerkes. Denn was die Monteure schon damals wussten, wurde nach 1990 auch offiziell bekannt: Die Baupläne für Lubmin waren Kopien aus Tschernobyl. Aber das hat 1984 noch niemanden gestört. Bei Bierbowle und Monteurskaffee ließ es sich aushalten. Auch im Winter.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Ist Strom aus Kernenergie nicht unmoralisch?

Wer die Erderwärmung begrenzen will, muß Atomkraftwerke abschalten, auch weil sie via Kühlwasser Flüsse und Umgebung aufheizen und selbst im sogenannten Normalbetrieb Radioaktivität emittieren (das heißt: abstrahlen).

Die Atomwirtschaft ist eine Branche, bei der trotz Privatisierung in realsozialistischer Manier immer noch der Staat haftet, falls etwas schief geht. Sie steht völlig ungerechtfertigt im Ruf, billigen Strom zu produzieren. Die externen Kostenfaktoren bei der Erzeugung von Kernkraftstrom hat, unter Helmut Kohl, das damalige Bundeswirtschaftsministerium 1992 durch die renommierte Baseler PROGNOS AG berechnen lassen. Diese Studie der PROGNOS AG trägt den Titel: "Identifizierung und Internalisierung der externen Kosten der Energieversorgung." Aus ihr geht hervor, daß bei Berücksichtigung der externen Gesamtkosten der wirkliche für die deutsche Volkswirtschaft entstehende Preis einer Kilowattstunde Kernkraftstrom schon damals circa 4 DM betragen hat. Das wären heute circa 2 €. Die günstigen Produktionskosten für Ökostrom betragen bei Windkraftstrom 0,06 Euro pro Kilowattstunde. Der Höchstpreis für solaren Ökostrom beträgt inklusive 19 % Mehrwertsteuer aktuell 0,68 Euro. Wenn aber der Kernkraftstrom mindestens doppelt so viel kostet wie die erneuerbaren Energien, warum, in Himmels Namen, sollen wir uns dann diese ganze entsetzliche Umweltproblematik (Tschernobyl!) der Kernenergie weiterhin "ans Bein binden"?!

Quelle:
www.fair-news.de/news/42275/