Samstag, 22. November 2025

"Sogenannt": Der kleine, fiese Bruder von umstritten

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Eine sogenannte Idylle: Beim näheren Hinschauen entdeckt das kundige Auge sofort, wie falsch alles ist - die Häuser werden mit Öfen geheizt, Kinder müssen auf den Feldern arbeiten, ein reißender Strom Fluss trennt rechts und links. Abb: Kümram aus der Serien "Variatonen über einen Kampfbegriff", Wasserfarben auf Leimholz

Auf einmal war es wieder überall, eines der wirkmächtigsten, rätselhaftesten und hinterlistigsten Worte der deutschen Sprache. Donald Trump hatte die 28 Punkte seines Friedensplanes für die Ukraine noch gar nicht offiziell und öffentlich vorgelegt, da machte das Papier schon die Runde, überschrieben mit einer einordnenden Bezeichnung. Es handele sich um einen "sogenannten Friedensplan" hieß es allenthalben - eine schöne Tradition in deutschen Medien, die zuletzt bereits den Trumps Gaza-Friedensplan als "sogenannten Friedenplan" überführt hatten, der nur aus Illusion und Spinnerei bestand.

Immer ohne Europa 

Immer geht es ohne Europa zur Sache. Und immer wenn sich etwas tut, das nicht gefällt, wird zum "sogenannt" gegriffen, in Neudeutsch mittlerweile oft "so genannt" geschrieben. Der beabsichtigte Aussagegehalt bleibt in beiden Fällen gleich, das hat die Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in Berlin auf Nachfrage bestätigt: Als kleiner Bruder der beliebten Meinungskampfwaffe "umstritten" werde die Verwendung von "so genannt" und "sogenannt" empfohlen, wenn sich eine objektive Einordnung von Tatsachen, Umständen oder Ereignissen verbiete, weil dabei entstehende Schlussfolgerungen womöglich große Teile der Bevölkerung beunruhigen könnten.

Es wäre denkbar und möglich, Trump einen Friedensplan schmieden zu lassen, der ein Friedensplan ist, auf dem die Unwägbarkeit noch bevorstehender Verhandlungen lastet, der allerdings allemal mehr Chancen auf Umsetzung hat als die bisher von der EU und ihren 27 Mitgliedstaaten vorgelegten null Friedenspläne. Der Eindruck aber, den das auf die deutsche Öffentlichkeit machen würde, wäre verheerend. 

Der Neid führt die Feder 

Trump ist hierzulande vor zehn Jahren in der Rolle des absolut Bösen eingeführt worden. Der damals 69-Jährige verkörperte idealtypisch, was der Verhaltensforscher Konrad Lorenz  bereits 1963 in seinem populärwissenschaftlichen Buch "Das sogenannte Böse" beschrieben hatte. Als "irre" (FR) "Angstmaschine" (Die Zeit) und "wahnsinniger" (Spiegel) "Hassprediger" (Walter Steinmeier) muss Trump der "Kriegstreiber" (taz) sein, der die Demokratie köpft und wenig später einen Atomkrieg mit Russland auslöst, weil er im Sold des Kreml steht.

Die Logik und der gesunde Menschenverstand, sie haben draußen zu bleiben, wenn "von fast allen deutschen Parteien scharfe Kritik" kommt. Kein Friedensplan, den Trump vorlegt, übersteht die erste Begegnung mit der Kompanie der deutschen Kommentäter. In den Schreibmaschinengewehrstellungen der Leitmedien wie in den langen Gängen von Bundestag und Parteizentralen herrscht die Überzeugung, dass kein Frieden allemal besser ist als einer, den der Falsche erreicht hat.

Wer uns den Krieg wegnimmt 

In Gaza ist das doch zu sehen. Kaum hatte Trump seinen "sogenannten Friedensplan" gegen den Widerstand von großen Teilen der pro-palästinensischen Friedensbewegung und der Terrororganisation Hamas durchgedrückt, fiel das öffentliche Interesse am Konflikt zwischen Israel und der islamistischen Terrororganisation ins Bodenlose.  Obwohl sich der "Gewaltexzess zwischen Palästinensern und Israelis so nicht so einfach stoppen" lassen würde, war er mit einem Schlag aus den Hauptnachrichtensendungen des deutschen Fernsehens verschwunden. Kein Genozid mehr in den Schlagzeilen. Keine bösen Juden, die nach der Weltherrschaft im Westjordanland streben.

Es war unmöglich. Aber es war passiert. Mühsam gelang es den besten deutschen Faktencheckern zumindest, Trumps Behauptung zu entkräften, er habe mittlerweile sieben Frieden gestiftet. Die Wahrheit, wie sie etwa in München gefühlt wird, sieht anders aus. "Viele Erfolge kann der Friedensstifter Trump nicht vorweisen", zählte die Süddeutsche Zeitung kritisch durch, denn so mancher "Konflikt könnte bald genauso wieder ausbrechen". Merke: Wer uns den Krieg fortnimmt, dessen Frieden werden wir nie anerkennen.

Der Todestrieb des Menschen 

Kein Frieden ist sicherer als ein weiterlaufender Krieg. Keine Erklärung für eine Ablehnung eines Friedensplanes besser als der von Sigmund Freud entdeckte Todestrieb im Menschen, dem Konrad Lorenz mit seiner selbstausgedachten "Instinkttheorie" einen "Aggressionstrieb" an die Seite stellte. Destruktivität und Feindseligkeit im menschlichen Verhalten entsprängen einer "erzieherischen und kulturellen Deformation", schlussfolgerte er. Wer einer innerlichen Überzeugung folge, die er für wahr, richtig und gut halte, der reagiere auf jeden Hinweis, dass daran gezweifelt werden könne und vielleicht sogar müsse, mit einer abwehrenden Aufwallung.

Es wird ignoriert, bestritten und relativiert. Es dürfen nicht sieben Friedensschlüsse sein, sondern wenigstens nur sechs, einige davon können zudem als "sogenannt" weiter in Zweifel gezogen werden. Abgeschmeckt mit einer Prise Häme darüber, dass viel mehr versprochen worden war, wird aus der schönsten Absichtserklärung eine peinliche Pleite, über die sich jedermann freuen kann, der sich darüber geärgert hat, dass der Falsche das Richtige tut.

Das Böse in Wortgestalt 

Das Böse in Gestalt Trumps kann auch niemals einen Friedensplan vorlegen. Geschieht es dennoch, dann handelt es sich automatisch um einen "sogenannten Friedensplan". Das Wörtchen ist wichtig, es signalisiert Gänsefüßchen, Vorbehalte, einen Teufelshuf. Was "so genannt" wird, ist nicht wirklich. Was als "so genannt" durch die deutschen Medien geistert, muss mit spitzen Fingern angefasst werden. So genannt heißt Vorsicht. So genannt bedeutet, dass etwas mit einer Bezeichnung versehen ist, die nach Angaben von irgendwem, der gerade nicht genauer beschrieben werden kann, nicht zutreffen soll.

Von den sogenannten Klimaleugnern über den sogenannten Rechtsstaat Ungarn und die sogenannten Reichsbürger bis zur sogenannten Entlastung durch den Industriestrompreis lässt sich mit "sogenannt" alles infragestellen. Wer etwas so genannt hat, bleibt dabei generell außer Betrachtung. Kein Mensch muss wissen, wer Trumps Friedensplan so genannt hat. Klar ist, dass zwischen einem Friedensplan und einem so genannten Friedensplans ein Abgrund an begründeten Zweifeln klafft.

Die stille Meinungslenkung 

Die Vokabel mit ihren neun Buchstaben hat sich zu einer der wirkmächtigsten Waffen der stillen Meinungslenkung entwickelt. Wie der Begriff "umstritten", die verbale Variante des Zehenanhängers den Tote im Leichenschauhaus verpasst bekommen, wirkt sogenannt immer und überall. Die Zweifel, die der Fernsehansager Claus Kleber in einer ganz frühen Phase der Neuordnung der Meinungsfreiheitsgrade hatte untersagen lassen wollen, steigen überall dort automatisch auf, wo das Adjektiv auftaucht. 

"Sogenannt signalisiert Distanz, es markiert eine Zurücknahme des Gesagten oder Geschiebenen. Es entspricht in seiner Wirkung den auf dem Rücken gekreuzten Fingern bei einem heiligen Schwur, nur dass die Geste offen ausgeführt wird. Sogenannt sagt: Der folgende Begriff ist nicht objektiv, sondern nur eine Behauptung Dritter. Sogenannt schwört aber auch, dass es überflüssig ist, zu wissen, wer diese Dritten sind. Es wird, diese Botschaft steckt in jedem so genannt, überall so genannt.

Es kann nur so genannt sein 

Und in der Praxis ist es ja auch so. Vom ersten Moment an, in dem Gerüchte von einem neuen Friedensplan aus Moskau berichteten, kamen deutsche Medienhäuser von links bis rechts und von Gemeinsinnsendern bis zu privatkapitalistischen Medienheuschrecken zu einer stillen, aber allgemeingültigen Übereinkunft. Trumps Friedensplan ist ein "sogenannter". Egal, was am Ende drinstehen wird, das rhetorische Warnschild steht bereits: Achtung, hier wird etwas behauptet, das wir, die wir es besser wissen, für äußerst fragwürdig, übertrieben oder ideologisch belastet befunden haben.

Die Überzeugungskraft der kleinen Vokabel ist groß. Kaum liest oder hört er "sogenannt", wird der Leser oder Hörer skeptisch. Wenn doch jemand, den ich nicht einmal kenne, diesen Experten sogenannt" nennt, wie viel kann dann wohl dessen Urteil taugen? Und wenn ein Gefängnis "sogenannte Liebeszellen" wiedereröffnet, dann ist es sicher wie bei den "sogenannten Erntebescheinigungen". Das wird so genannt. Das heißt aber nicht, dass es wirklich existiert.

Der Riss in der Realität 

Wer das Wort "sogenannt" wahrnehme, erläutert Rainald Schawidow, spüre subkutan unmittelbar einen klaffenden Riss zwischen Realität und Gelesenem. Schawidows Bundesworthülsenfabrik (BWHF) empfiehlt die Verwendung des Begriffes deshalb schon seit Jahren dringend. "Der Anwender verfügt mit dem Wort über die Möglichkeit, etwas zu sagen und etwas anderes zu meinen", erklärt er. Sogenannt signalisiere, dass etwas ist nicht wirklich so sei, sondern "die" es nur so nennen. "Das Wort erzeugt Zweifel, ohne diesen Zweifel begründen zu müssen", sagt Deutschlands führender Worthülsenexperte. 

Das Beste daran sei der Umstand, dass "die", auf die sich der Verwender beziehe, nie genauer beschrieben werden müssten. "Das ist wie bei der Verwendung des Wortes ,gilt', das mittlerweile wie ein Konjunktiv von ist verwendet wird." Wer die jeweilige Geltung beschlossen habe, warum, wieso und mit welcher Bindungskraft, sei nebensächlich. "Gilt gilt einfach überall dort, wo gilt angewendet wird."

Es ist ein "gilt", nur genialer 

Auch bei "sogenannt" verhält es sich so. Doch im Unterschied zum wertfreien "gilt" und zum abwertenen "umstritten" ermöglicht "sogenannt" eine elegante Form der Denunziation. Sogenannt tarnt Werturteile als bloße stilistische Vorsicht. Es hat die definitorische Macht, die Deutungshoheit über Begriffe zu übernehmen, ohne sie durch Ersatzbegriffe angreifen oder durch Beweisführung widerlegen zu müssen. 

"Sogenannt" überzeugt durch Interpretationsspielraum: Jeder Leser wird in Sekundenschnelle davon überzeugt, dass es an ihm ist, den mit "sogenannt" markierten Tatbestand kritisch zu betrachten, weil er - die Bezeichnung sagt es ja - nicht ist, was er ist, sondern nur von irgendwelchen Leuten so genannt wird.

Zur Feindmarkierung empfohlen

Der Feind ist markiert. Das Medium bleibt sauber: Es hat ja nicht behauptet, es sei falsch, es hat es nur "so genannt" verwendet, die verbalen Anführungsstriche um alles. Die Verwandtschaft zu "umstritten" ist unübersehbar. Doch wo dieser politische Kampfbegriff im Kulturkrieg Frontstellungen mitbeschreibt, funktioniert "sogenannt" wie ein Geheimagent. Wer sogenannt benutzt, suggierter, dass er nur beschreibt, was die andere Seite sage – er legt aber nahe, dass diese Seite offensichtlich falsch liegt und aus unlauteren Motive heraus so spreche.

Das Raffinierte daran ist, dass nie gesagt, wer etwas so genannt hat. Die Konstruktion bleibt absichtlich nebulos, sie schafft es so, sich auf eine Instanz zu berufen, die mächtig genug ist, etwas zu bennenen, aber nicht wichtig genug, genannt zu werden. Dadurch entsteht der Eindruck einer anonymen, aber offenbar dummen oder bösartigen Gruppe, die sich diesen Begriff ausgedacht hat – während Medien ihn nur nachnutzen, um einen diffamierenden Nebel zu beschwören, gegen den sich niemand wehren kann. Sogenannt ist als ideologisches Markierungswerkzeug das linguistische Pendant zum Zeigefinger, der Unachtsame warnt: Glaube mir alles, aber glauben denen nichts. 


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