Montag, 13. Oktober 2025

Hamburg: Rückbau der Realität

Hamburg ist Überflutungsgebiet. Die Angst vor den steigenden Ozeanen motivierte die Bürgerinnen und Bürger der Stadt, beim Zukunftsentscheid für mehr Klima  zu votieren .
Hamburg ist Überflutungsgebiet. Die Angst vor den steigenden Ozeanen motivierte die Bürgerinnen und Bürger der Stadt, beim Zukunftsentscheid für mehr Klima  zu votieren .

Die Bewegung ist tot, selbst ihre Reste sind außerhalb geschützter Biotope kaum mehr nachweisbar, ihre Führerinnen sind abgetaucht oder moralisch diskreditiert. Was  als Klimaprotest unter dem Namen "Fridays for Future" in Schweden begann und zumindest in Deutschland große Medienaufmerksamkeit erregte, hat sieben Jahre nach dem ersten Auftritt Greta Thunbergs mit ihrem "Schulstreik"-Schild vor dem Parlament in Stockholm, den Weg aller Jugendaufstände genommen.  

Abschied der Kinderarmee 

Wie Attac, die Identitäre Bewegung, Occupy Wallstreet, Extinction Rebellion und die Letzte Generation verabschiedete sich die Kinderarmee leise aus der Geschichte. Zum letzten "Streik" kam kaum mehr jemand. Unter denen, die noch für das Weltklima marschierten, waren die "Omas gegen rechts" am zahlreichsten vertreten. Die greise Vorruhestandsgesellschaft hatte den Protest erfolgreich geschluckt, verdaut und ihm alle Energie abgesaugt.

Im Jahre 7 nach Greta ist auch ganz Deutschland wieder von der Wirklichkeit besetzt. Die halbe Regierung gesteht offen ein, dass Klimaschutz irgendwann zu teuer wird, wenn die Wirtschaft langsam zusammenbricht, weil außerhalb des Landes niemand mitmacht. Die verrückten Prognosen schräger Voodoo-Ökonomen, nach denen der Schutz des Klimas "finanziell ein Selbstläufer" (Mark Schieritz) sei, haben sich als Humbug herausgestellt. Selbst die SPD, deren Kanzler Olaf Scholz noch mit dem Versprechen eines "grünen Wirtschaftswunders" hausieren ging, rudert zurück.  Man bleibe natürlich bei  den Klimazielen, heißt es. Aber noch schneller als bisher geplant werde es nun nicht mehr gehen.

Kampf in ausgesuchten Flecken 

Nicht mehr schneller zur Klimaneutralität? Keine vorgezogenen Ziele mehr? Keine Bekämpfung des Klimawandels mehr in ausgesuchten Flecken irgendwo auf dem Globus, vorangetrieben mit hohem Aufwand und wenig Ertrag. Knickt die Weltgemeinschaft ein, verabschiedet sie sich von den Pariser Klimazielen und dem Vorhaben, alle Ressourcen für ein globales Langfristziel zur Begrenzung der Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad einzusetzen?

Nein! Die Amerikaner mögen ausgestiegen sein aus dem Abkommen, der Rest der Welt mag die vor zehn Jahren  vereinbarten Vorhaben und Vorgaben stillschweigend ignorieren und die EU sich nur damit retten, dass sie durch den Verlust an Wettbewerbsfähigkeit einen industriellen Rückbau erleidet, der direkt auf ihr Klimakonto einzahlt. Doch eine von unbeugsamen Klimakämpfern bevölkerte Stadt im Norden Deutschlands, dort, wo der Wind weht und keine Rechnung schreibt, hört nicht auf, an die große Transformation zu glauben. 

Zukunftsentscheid für Klimaschutz 

Als Hamburg, die Perle an der Elbe, jetzt bei einem Volksentscheid darüber abstimmen durfte, ob die eigentlich für 2045 geplanten Klimaziele vorgezogen werden sollen, war das Votum eindeutig: Die Hamburger gehen über den letzten Vorschlag des wissenschaftlichen EU-Klimabeirats und der EU-Kommission hinaus. Sie wollen ihre Emissionen nicht erst 2045 auf null senken und bis 2040 nicht nur um 90 Prozent reduzieren, sondern um volle 100.

Hamburg soll schon in 15 Jahren ganz und gar klimaneutral funktionieren. Mehr als 300.000 Hamburger stimmten für den "Hamburger Zukunftsentscheid für Klimaschutz". Deutlich mehr als die 267.000 Ewiggestrigen, die sich der Idee einer beschleunigten Klimarettung entgegenstellten. Insgesamt reichten knapp über 16 Prozent der Wahlberechtigten aus, um ein Zeichen zu setzen: Die Hansestadt, einst Heimat der Pfeffersäcke, wird die Realität komplett zurückbauen.

Ein später Sieg der Initiatoren von "Fridays for Future", die von 160 Sozialverbänden, NGOs, Umweltverbänden, Gewerkschaften und steuerfinanzierten Initiativen unterstützt worden waren. Die Stadtpolitik war bis hinein in die grüne Fraktion der Hamburgischen Bürgerschaft gegen das Vorpreschen, das sich aus Sicht von Wirtschaftsverbänden und Wohnungsgesellschaften ökonomisch nicht darstellen lassen wird. Hoch im Norden aber, wo große Angst herrscht, von einem demnächst steigenden Meeresspiegel der eigenen Heimat beraubt zu werden, sind die Menschen bereit, große Teile ihres Wohlstandes zu opfern, um ein deutliches Zeichen auszusenden. Ja, Klimaschutz ist möglich, wenn alle die Bereitschaft mitbringen, auch etwas zu opfern.

Kein Ausgleich mehr 

Überwiegend wird es Geld sein, das die Hamburger aufbringen müssen. Fridays for Future mag tot sein, eine Bewegung, die bisher nur insoweit erfolgreich war, als sie Luisa Neubauer zu einer Prominenten gemacht hat. Doch mit dem Erfolg beim "Zukunftsentscheid" hinterlässt der Kinderkreuzzug nun doch auch Bleibendes: Das neue Gesetz, das nach dem Sieg der Befürworter bei der Abstimmung automatisch in Kraft tritt, sieht natürlich wie üblich vor, dass die Einhaltung sogenannter "jährlicher Emissionsziele" in einem aufwendigen bürokratischen Prozess Jahr für Jahr überprüft werden. Darüber hinaus aber ist auch festgeschrieben, dass Hamburg verpasste Ziele nicht einfach wie sonst überall in der EU üblich durch die Verabschiedung neuer, strengere Ziele in weiter entfernter Zukunft ausgleichen darf.

Stattdessen ist ein "frühzeitiges Gegensteuern bei Zielverfehlungen" vorgesehen. Gibt es auch nach der Ausweisung der gesamten Stadt als Tempo-30-Zone noch zu viel Verkehr, muss mit einer Ausweitung von Tempo 30, einem Umstieg auf Tempo 20 oder Einfahrtsbeschränkungen reagiert werden. Auch im Wohnungsbestand wird sich einiges recht eilig tun müssen: Binnen von nur 15 Jahren sind sämtlich heute noch fossil betriebenen Heizungen auszubauen und durch nachhaltige Technologien zu ersetzen.

Die Unternehmen in der Stadt werden beauflagt, ihre Produktionsprozesse von Erdgas, Öl, Kohle und Holz vollständig auf Elektroenergie, Wasserstoff und E-Fuels umzustellen. Wobei Versorgungsnetze für Wasserstoff und E-Fuels erst noch aufgebaut werden müssen, sobald die beiden neuen nachhaltigen Energieträger zur Verfügung stehen.

Verdreifachte Sanierungsgeschwindigkeit 

Parallel muss das Drittel der Wohngebäude in Hamburg, das sanierungsbedürftig ist, modernisiert werden. Dazu wäre es einerseits erforderlich, die bisherige Sanierungsrate – das ist der Anteil der pro Jahr als vollsaniert eingestuften Gebäude – von derzeit ein Prozent auf drei Prozent zu steigern. Andererseits müsste geklärt werden, wer angesichts der gestiegenen Baukosten für die mittlerweile auf 80 Milliarden Euro gestiegenen Kosten allein für die energetische Sanierung aufkommen wird. 

Dazu käme der flächendeckend notwendige Einbau von Wärmepumpen, der insbesondere durch den kompletten Rückbau der Gasversorgungsnetze bis 2040 vorangetrieben werden soll. Investitionen sind auch im Verkehrsbereich nötig: Die komplette Elektrifizierung der Mobilität müsse bis 2040 abgeschlossen sein - allein auf die Verkehrsbetriebe der Hansestadt kommen Kosten von rund einer Milliarde Euro für den Kauf von rund 1.300 Elektro-Bussen zu.

Das alles wird sich finden 

Mehr Ehrgeiz, mehr Strenge, höhere Kosten für Mieter, Unternehmen, die öffentliche Hand und Besucher der Elbestadt - Hamburg wagt mit der Zustimmung zu einer eiligen Klimawende ein einzigartiges Experiment. Niemand hat vorab errechnet, wie hoch die Kosten sein werden, niemand weiß, wer das alles bezahlen soll und wer die absehbaren finanziellen Belastungen für Menschen mit mittlerem und geringem Einkommen abmildern wird. 

Dass der Hamburger Entscheid keinen Einfluss auf das Weltklima haben wird, vollkommen unabhängig davon, ob die Stadt ihre Ziele erreicht oder nicht, steht hingegen bereits fest: Wer immer auch vor 2045 klimaneutral wird, überlässt die ihm zustehenden Zertifikate aus dem Europäischen Emissionshandel denen, die es dann noch nicht sind. Wer sich Zeit lässt, bekommt die Überbestände dann billiger. Die in Hamburg eingesparten Emissionen entstehen einfach anderswo in der EU.

Grüne Jugend: Scharflinks zur Klassenfrage

Grüne Jugend: Scharflinks zur Klassenfrage
Henriette Held und Luis Bobga: Das Powerduo wird die Grüne Jugend im Tandem in die Zukunft führen.  


 "Höre, Rübezahl, laß dir sagen, Volk und Heimat sind nimmermehr frei. Schwing die Keule wie in alten Tagen, Schlage Hader und Zwietracht entzwei." 

"Hohe Tannen weisen die Sterne", Lied der Grünen Jugend, 1923 anonym in der Zeitschrift "Jugendland" der deutschen Ringpfadfinder veröffentlicht.

 

Sie sind die Neuen, zwei Newcomer für den Neustart der Grünen Jugend, einem Jugendverband, dem es in den zurückliegenden Jahren gelungen war, die Nachwuchsorganisationen der anderen Parteien in der Öffentlichkeitswirkung deutlich zu übertreffen. Viele Mitglieder hat der Verband nicht. Viele aktive schon gar nicht. Doch interne Machtkämpfe, demonstrative Austritte einer ganzen Vorstandsmannschaft und die folgende Neubesetzung mit einer menschgewordenen Lautsprecherin und einem linkischen Robin-Hood-Darsteller aus Kiel machten aus der Grünen Jugend ein gesamtgesellschaftlichen Unterhaltungsangebot, das immer gern genommen wurde.

Machtmissbrauch und Mobbing 

Bis zum letzten Tag  lieferte vor allem die scheidende Jette Nietzard frischen Stoff für Verschwörungstheoretiker. Machtmissbrauch, Mobbing und politischer Kampf im Gossenjargon waren das Markenzeichen der 26-Jährigen, die Journalisten im Bundestag empfing, als habe sie nicht nur bei der Bundestagswahl kandidiert, sondern ein Mandat errungen. In die Blöcke diktierte die TikTok-Prinzessin der Grünen den Reportern am liebsten Klassenkampfparolen. Als gefühlte "freie Radikale" galten für sie keine Regeln. Nietzard lebte ihren Traum und sie wusste: Je schräger die Ideen und je kruder die Thesen, desto größer die öffentliche Beachtung und je lauter der Applaus aus der eigenen Fankurve.

Ihr Sprecherkollege Blasel versuchte vergebens, mit eigenen schrillen Forderungen mitzuhalten. Der junge Mann aus Kiel, ohne Beruf, ohne Abschluss und auch mit 24 noch ohne Erwerbsbiografie, schlug vor, deutsche Kommunen zu enteignen, Haustiere zu verbieten und das Waffenhandwerk zu einer linken Herzenssache zu machen. Ihm blieb trotzdem nur der Platz im schwarzen Schlagschatten Nietzards. Ohne den er aber auch nicht leben wollte: Nachdem die ein Jahr ältere Sprecherin sich dem Druck der grünen Parteiführung gebeugt und eine erneute Kandidatur als Nachwuchschefin ausgeschlossen hatte, erklärte auch der Student aus Kiel seinen Verzicht auf die Fortsetzung einer Sprecherlaufbahn.

Ostdeutsch und scharflinks 

Wenigstens aber mangelt es der Pionierorganisation der Grünen nicht an Anwärtern für die zum dritten Mal in zwei Jahren vakanten Führungspositionen. Mit Henriette Held fand sich eine verbürgerlichte Version Nietzards, ostdeutsch, aber links. Und mit Luis Bobga ein Blasel-Ersatz, der dem Vorurteil, der grünen Jugend mangele es schlimmer noch als anderen an Vielfalt und Diversität, schon optisch wirksam entgegentritt. 

Such die beiden Neuen haben den Schuss selbstverständlich nicht gehört. Unzufrieden damit, dass die aktuelle Parteiführung die Grünen in die Mitte zu rücken versucht, um die Hälfte ihrer früheren Wähler wiederzugewinnen, die sie im Zuge ihrer konsequenten Klimapolitik verloren haben, wollen Held und Bobga die verlorenen Prozente lieber bei der Linkspartei holen. Held bekam 93,6 Prozent der abgegebenen Stimmen, Bobga, von vielen Delegierten abgelehnt, weil er als Nietzard-Mann gilt, 76,2 Prozent.

Marx statt Marktwirtschaft 

Klassenkampf statt Realpolitik, Marx statt Marktwirtschaft und Klimarettung statt Wohlstandsbewahrung - die beiden Anführer der 16.000 eingetragenen Mitglieder des grünen Nachwuchses haben ihre Politisierung in den Reihen der kurzzeitig medienwirksamen Klimabewegung "Fridays for Future" erlebt. Diese Lehrjahre im Gefühl, Schulkinder seien berufen, die Welt zu verändern, prägen. Aus der Enttäuschung, sich von den Medien etwas vormachen lassen zu haben, als die jeden Tag schrieben, Klima sei die Schicksalsfrage der Menschheit, ist der Glaube erwachsen, die Dinge noch viel grundsätzlicher verändern zu müssen.

Fliegen, Heizen, Essen, Tempolimit - was gestern noch bedeutsam schien, ist für Held, in Berlin geboren und zum Studium in den Osten gezogen, nicht mehr ausreichend radikal.  "Kriege, Inflation, Faschismus und soziale Spaltung - wir dürfen nicht vergessen, dass all diese Krisen miteinander verknüpft sind", hat die 24-Jährige in ihrer Bewerbungsrede ausgerufen, ohne das Klima überhaupt zu erwähnen. Alle diese Probleme seien Ausdruck eines Systems, das Menschen und Ressourcen ausbeute. "Die Klimakrise ist kein Naturereignis, sondern eine Klassenfrage und eine Frage sozialer Gerechtigkeit.

Malen nach Zahlen 

Vulgärmarxismus, nach Zahlen als Ausmalfarbe gepinselt in ein mechanistischen Gesellschaftsbild, in dem Menschen wie Schachfiguren funktionieren.  Held studiert Rechtswissenschaft mit dem Schwerpunkt auf Umwelt- und Klimarecht und wie die Dinge laufen, könnte sie ihren Abschluss in der Tasche haben, wenn der Gesetzgeber das Prinzip des "Bau-Turbo" auch in allen anderen Bereiche anwendet. Weil es zu viele Vorschriften gibt, die sich nicht ändern lassen, werden Vorschriften beschlossen, nach denen die Vorschriften nicht gelten.

Henriette Held stand beim Bundeskongress der Grünen Jugend hinter dem Rednerpult und sie schon bei ihrem ersten Auftritt auf der großen Bühne gebärdete wie eine Alte. Die berühmte Fingerfigur des sogenannten "Fliegers" wurde gezeigt, auch die der "Brandmauer", es folgt wie immer der "Goldene Reiter". anschließend der Doppelaufrüttler und schließlich die unerlässliche "Arbeiterfaust" samt der "Grünen Glucke". Inhaltlich legte Held sich fest: "Wir brauchen eine Grüne Jugend, die kämpft, die sich organisiert und niemanden zurücklässt", rief sie den Delegiert*innen zu, "eine Jugend, die für unsere Zukunft streitet: für eine Zukunft, vor der wir keine Angst haben müssen, sondern auf die wir uns freuen können."

In ihrer eigenen Welt 

Wer jenes Wir ist, wer sie weiß, was es braucht, und wieso sie sicher ist, es beschaffen zu können, verriet Henriette Held nicht. Dafür aber gestattete sie einen tiefen Einblick in ihre eigene kleine Welt und den schweren Weg, den sie gegangen ist, "weil ich einen Ort gesucht habe, an dem sich zwischen all dem Weltschmerz wieder Hoffnung finden lässt". Die Grüne Jugend war dieser Ort. Und "ich will, dass noch viele weitere Menschen hier einen solchen Ort finden."

Das Angebot steht und so schlecht die Zahlen der Grünen im Moment auch sind, Held und Bobga werden deshalb nicht einknicken und beginnen, nun auch noch Politik für die hart arbeitende Mitte anzukündigen. Ihnen geht es um die eigene Blase, die Bubble, die in den Bionadevierteln der universitären Großstädte lebt und es gern sehen würde, dass  die Restgesellschaft ihre Bedürfnisse für wichtiger hält als alles andere. Im Mittelpunkt des "Wir", von dem Henriette Held predigt, steht das Ich einer selbstverliebten Generation, die ein Übermaß an Selbstsicherheit aus der Überzeugung zieht, dass das ganze Leben eine Fortschreibung ihrer behüteten Kindheit als Helikopterkind sein wird.

Eine Welt ohne Probleme 

Held kommt aus dieser Welt, die eine ernsthaften Probleme kennt. In ihrer Bewerbungsrede hat sie weder über Wirtschaft noch über Industrie, nicht über Steuern, Abgaben oder innere und äußere Sicherheit gesprochen. Eines ihrer Themen war der "Kulturpass", eine Ampel-Erfindung, die Corona-geschädigten Jugendlichen dazu bringen sollte, Konzerte, Theatervorstellungen und Museen zu besuchen. Genutzt hat die Zielgruppe die gute Gabe der früheren Kulturministerin Claudia Roth nie. Immer blieben Millionen übrig. 

Ideen, den Rohrkrepierer auf Steuerzahlerkosten abzuschaffen, erteilte Henriette Held eine Abfuhr: "Kultur ist kein Luxus und kein bloßes Nice to have – sie ist ein Fundament unserer Gesellschaft." Alte weiße Männer sollten "uns" (Held) nicht vorschreiben, "was Kultur ist und was nicht." Wenn Jugendliche das Angebot nutzen, um Comics zu kaufen und ins Kino zu gehen, dann sei das ihr gutes Recht. Denn "gehört zu werden, ist ebenfalls Teilhabe. Unsere Generation muss immer Teil der Debatte sein, und wir können nicht über einen Wehrdienst sprechen, ohne diejenigen einzubeziehen, die ihn am Ende leisten sollen."

Hoffnung organisieren 

Sollten die, "die den Wehrdienst am Ende leisten sollen", sich am Ende gegen seine Einführung entscheiden, dann wäre das eben so. Zusammengenommen ergibt das alles irgendeinen Sinn. "Im vergangenen Jahr hat die Grüne Jugend dafür gekämpft, ein lauter, linker Verband und politisches Zuhause zu bleiben", hat Henriette Held von der Leipziger Bühne gerufen. Jetzt seien "die Grünen in der Opposition – das eröffnet neue Spielräume." Mit der ganzen Erfahrung ihrer Jahre in der Politik wies sie dann darauf hin, dass "wir niemals vergessen dürfen, für wen wir Politik machen sollten." Sie  kandidiere deshalb, "weil ich Hoffnung organisieren will". 

Sonntag, 12. Oktober 2025

Menschheitskatastrophen: Groß, größer, Gaza

gaza hamas gut genährte Holocaust-Opfer
Er wäre so gern ermordet worden für seine Sache. 

Sie starben in den ersten Wochen wie die Fliegen. Sie hatten kein Wasser, nichts zu Essen, keinen Strom, keine Heizung und nach den ersten Vertreibungen durch die israelische Armee auch keine medizinische Versorgung mehr. Ohne jede Rücksicht auf die verletzten Gefühle der Hamas-Wähler im Gaza-Streifen verteidigte sich Israel gegen den völkerrechtswidrigen Angriff  der selbsternannten Befreier Palästinas. Die IDF jagte die Terrorkommandos. Sie zerschlug ihre Infrastruktur. Sie bombardierte ihre Hauptquartiere und Kasernen. Wenn möglich rücksichtsvoll, indem sie Zivilisten meist vorher warnte, das betreffende Gebiet umgehend zu verlassen.

Verlorener Propagandakrieg 

Der Judenstaat gewann den Krieg an der Front. Doch er verlor den Propagandakrieg. Von den Vereinten Nationen bis ins deutsche Außenministerium und von der Linkspartei über die CDU bis ins Studio von Georg Restle und ins "Spiegel"-Hochhaus wich das erste Erschrecken über die allenthalben als etwas übertrieben angesehenen Bemühungen der Hamas zur Vertreibung aller Juden aus dem Nahen Osten. An seine Stelle trat das Erschrecken darüber, wie entschlossen sich die einzige Demokratie im arabischen Raum ihrer Vernichtung widersetzte. 

Deutschland hätte auf eine ähnliche Attacke von Anfang an mit Gesprächen reagiert. Intern darüber, ob nun eine Wehrpflicht für junge Leute kommen oder ob es ausreichen werde, früher in fremden Heeren gediente Soldaten zur Lösung des Problems einzusetzen. Und extern natürlich mit den Terrorscheichs, um sie um Mäßigung zu bitten.

Das letzte Krankenhaus 

Unverständnis regierte. Nicht darüber, dass nach jedem geschlossenen letzten Krankenhaus im Gazastreifen unweigerlich noch ein allerletztes geschlossen wurde. Auch nicht darüber, dass Ärzte in frisch gewaschenen Kitteln auftraten, um die ausgefallene Wasserversorgung zu beklagen. Nicht einmal darüber, dass Handyfilme zeigten, wie frischgewaschene Hamas-SUVs durch die Trümmerlandschaft kurvten, als wollten sie den Mangel an Strom- und Treibstoffversorgung verspotten. 

Deutsche Nachrichtensendungen präsentierten am liebsten ältere Frauen, die getötete Familienmitglieder betrauerten. Und Magazine zeigten Bilder von schwerkranken Kindern, um die Hungersnot in Hamas-Land zu illustrieren.  

Entsetzt zählten die deutschen Medien die von Israel Ermordeten genau so, wie es die Hamas vorgab. Niemand sah einen Grund, an den Angaben der Terrororganisation zu zweifeln. Schließlich waren es nicht die Mörder vom 7. Oktober, die die Zahlen übermittelten. Sondern deren "Gesundheitsministerium", für dessen Zahlen "Hamas-Aktivisten" (ZDF) bürgten. 

Warnungen an Jerusalem 

Warum bereitet Israel immer solche Probleme, fragten die Kommentäter. Warum haben Juden überhaupt "arabisches Land besiedelt"? Es sei das "aggressive Bauen Israels", durch das eine Zweistaatenlösung in weite Ferne rücke, nicht das aggressive Morden der Islamisten. Von "Apartheid" rappten Stars. Solidarität mit den Tätern forderten Filmschaffende. Kauft nicht vom Juden, skandierten leidenschaftliche Antisemiten, die als "Pro-Palästinenser" freundlich umschrieben wurden.

Die EU sah sich bestätigt in der Entscheidung, eine Kennzeichnungspflicht für jüdische Produkte einzuführen, um Kunden vor dem versehentlichen Kauf von Waren zu bewahren, die aus Gebieten stammen, die die Europäische Friedensgemeinschaft dem nicht existierenden Palästinenserstaat zurechnet.  Junge Tüftler programmierten eine App, die hilft,  Israelunterstützer zu boykottieren. Müsste nicht gerade jetzt, nach der Ermordung von 1.200 Juden durch islamistische Mörder, der Staat anerkannt werden, in dessen Namen die Täter kamen, hieß es im "Spiegel".

Annalena Baerbock, damals noch feministische Außenministerin, warnte die Regierung von Benjamin Netanjahu vor einer "großen Eskalation". Die EU baute eine Luftbrücke, um  "lebensnotwendige humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung" dorthin zu bringen, wo immer wieder Lagerhäuser voller Lebensmittel überfallen wurden, weil die "Hamas-Regierung" gelieferte Hilfsgüter lieber für sich selbst und ihre "bewaffneten Kämpfer" (ZDF Logo) aufsparte, als sie an die Bevölkerung weiterzugeben.

Euronews beschrieb eine "humanitäre Katastrophe im Gazastreifen". Das "Palästinenserhilfswerk" UNRWA, tief verstrickt in die Massaker vom 7. Oktober 2023, sprach vom Hunger als Waffe. Der Internationale Gerichtshof griff den Vorwurf von Brasiliens sozialistischem Präsident Luiz Inácio Lula da Silva auf und leitete Ermittlungen zum Verdacht ein, in Gaza geschehe ein "Völkermord".  Später folgte ein Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu. Reichen die Fakten nicht, um ihn dann zu überführen, müsse eben "die Genozid-Definintion ausgeweitet" werden. 

Mitglied in einem Zweierklub 

Netanjahu wurde Mitglied in einem sehr kleinen, exklusiven Klub von Staats- und Regierungschefs, nach denen weltweit gefahndet wird. Neben ihm steht noch Wladimir Putin auf der Liste, auf die es bisher weder der irakische Diktator Saddam Hussein noch der syrische Massenmörder Baschar al-Assad noch der mordkoreanische Menschenschinder Kim Jong Un schafften. Selbst Muammar Gaddafi, der Terrorpate und Schlächter aus Libyen, landete dort erst, als er gestürzt worden war.

Die Vorwürfe gegen Gaddafi allerdings wogen nicht allzu schwer. Er war der "mutmaßlichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit für vorsätzliche Tötung und Verfolgung von Zivilisten als
Verbrechen gegen die Menschlichkeit" verdächtig. Auch Wladimir Putin hätte mit anständiger anwaltlicher Vertretung wenig vom Gericht in den Haag zu befürchten. Hinetr ihm sind die Ermittler wegen des "begründetes Verdachts" her, dass Putin für Deportationen ukrainischer Kinder nach Russland verantwortlich sei. 

Das schlimmste Kaliber 

Netanjahu hingegen ist ein anderes Kaliber. Bei ihm lautet der Vorwurf Völkermord, synonym auch Genozid oder, zunehmend häufiger eingesetzt, Holocaust. Francesca Albanese, bei den Vereinten Nationen Sonderbeauftragte für Antisemitismus, steht als Kronzeugin zur Verfügung: Als Israel und die Hamas der Friedensinitiative von US-Präsident Donald Trump zugestimmt hatten, wusste noch niemand, wie es jetzt genau weitergeht. Doch Albanese war sicher: "Auch wenn keine Bomben mehr fallen und keine Kugeln mehr abgefeuert werden: der Genozid geht weiter."

Dass sich Israel gegen seine Auslöschung wehrt, konnten sie dem Zwergenstaat inmitten der arabischen Riesen im Nahen Osten nicht verziehen. Dass es die Ziele seiner Verteidigungsbemühungen gegen die mächtigste und reichste Terrororganisation der Welt womöglich ausgerechnet mit den Mitteln erreichen könnte, die die Albaneses, Thunbergs, Baerbocks, Macrons, Merz', Schwerdtners und Restles  ablehnen, führt einer deutlich spürbaren Friedensunlust. Im Lager der "Free Palestine"-Bewegung ist die Enttäuschung groß, dass die als "Befreiungsbewegung" hochgeschätzte Hamas als Bündnispartner des antikolonialen Befreiungskampfes des globalen Südens künftig ausfällt.

Niemals verzeihen 

Niemals werden sie Israel das verzeihen. Je näher ein Ende des vermeintlichen "Völkermords" rückte, desto verbissener wurden die Beschuldigungen. Je ernsthafter die USA, die arabischen Staaten und die Regierung in Jerusalem um eine langfristige Lösung des Konflikts durch die Eliminierung der Hamas als Organisation rangen, umso erbitterter beharrten die pro-palästinensischen Propagandakompanien im Westen auf ihrem Völkermord-Vorwurf. Nicht einmal das absehbare Ende der von der Hamas unter dem Jubel zahlloser Palästinenser ausgelösten Tragödie bremste ihren antisemitischen Eifer.

Die Tinte unter dem Vertrag war noch nicht trocken, da marschierten schon nächsten Kolonnen auf, um gegen Israel, die Amerikaner und gegen den behaupteten Völkermord zu protestieren. Unter allen Menschheitskatastrophen gibt es danach eine, die ist groß, größer, die ist Gaza. Waffenruhe hin,  Hoffnung auf Frieden her. In Berlin ziehen Tausende unter dem Motto "United 4 Gaza" durch die Stadt, sie fordern "Freiheit und Gerechtigkeit für Palästina", schwenken Flaggen des Fantasiestaates und klagen Juden als "kaltblütige Mörder" an. 

Ginge es nach den Demonstranten, würde auch die deutsche Regierung wegen der Unterstützung eines Völkermord umgehend ins Gefängnis wandern: "Israel bombardiert, Deutschland finanziert" klagten die Terrorhelfer an, deren "Staat" seine Befreiungsanstrengungen seit Jahrzehnten ausschließlich aus Hilfszahlungen  vor allem aus Europa finanziert.

Teuer zerstört 

Die Bilder aus dem von PLO, Islamischem Dschihad und Hamas über Jahrzehnte teuer zerstörten Landstreifen, auf denen gut genährte, in sauberen T-Shirts steckende junge Männer mit ordentlich geschnittenen Haaren sich mit gut geladenen Smartphones beim Feiern des Friedensschlusses zeigen, stören die selbsternannte Solidaritätsbewegung nicht. Jedenfalls nicht mehr als alle anderen Fakten, die ihrer These schon bisher widersprachen, dass Israel dabei sei, ein ganzes Volk zu ermorden.

Zu reizvoll ist der Gedanke, die Nachfolge Hitlers mit einem Juden zu besetzen und dem jüdischen Staat als Ausgleich für die Schuld der eigenen Vorfahren zur Abwechslung auch mal einen "Holocaust" (Omar Hamad) vorzuwerfen. Die selbsternannten Opfer des "Genozids" aber bezeugen, dass mehr nicht dran ist. Größer als der zwischen den feisten, fröhlichen "Überlebenden" des "Völkermords" in Gaza und den Menschen, die den Holocaust der Nazis überlebten, kann kein Unterschied sein.

Die Krisen-Koalition: Führende Rolle bei der Bedeutung

Gegen den Abwärtstrend bei der Industrieproduktion setzt die schwarz-rote Koalition Initiativen in den entscheidenden Handlungsfeldern: Bürgergeld, Rentneraktivierung, E-Auto-Förderung und Straßenbau.

Nie wieder, das hatten sie sich geschworen, würden sie bis tief in die Nacht beisammensitzen, um das Land aus einer dieser verteufelten Krisen zu retten. Bei Schwarz wie bei Rot sitzen die traumatischen Erinnerungen an jene legendäre Osterruhe noch tief, als die Besten des Landes schwer übernächtigt und ihrer sieben Sinne nicht mehr mächtig beschlossen hatten, der weltweiten Pandemie mit einer kurzzeitigen Stasisanordnung für alle beizukommen. 

Ein kurzes Koma 

Das Osterpaket sollte Millionen in ein kurzes Koma versetzen, aus dem sie anschließend als geheilt hätten entlassen werden können. Stattdessen knickte die Kanzlerin ein. Die Rettungsmaßnahme wurde aufgehoben. Sie sei unter spätnächtlichem Druck fälschlich beschlossen worden, als niemand mehr habe geradeaus denken können. Es werde nun anders, aber doch "dazu kommen, dass wir das Richtige tun, und dafür stehe ich ein", versprach die Kanzlerin. Keine Osterruhe. Und nie wieder Verhandlungen bis zum Morgengrauen.

Drei Jahre später aber sind die Nächte wieder jung und die Nachfolger von Merkel, Scholz und Maas stehen vor Herausforderungen, von denen ihre Vorgänger nicht zu alpträumen gewagt hätten. Auch Friedrich Merz, Markus Söder, Bärbel Bas und Lars Klingbeil müssen ein Land retten. Und auch diese vier, durch mehr oder weniger unglückliche Zufälle in ihre Ämter geraten, wissen nicht wie. Sicher ist diesmal nur von Anfang an, dass eine Osterruhe nicht reichen wird, die seit inzwischen drei Jahren stabil schrumpfende Wirtschaft wieder auf die Beine zu bringen.  

Die gute Laune der Leute 

Was aber sonst? Die Sozialversicherungsbeiträge wurden schon erhöht, aber niemand weiß, ob das reichen wird, das Wachstum anzukurbeln. Die Gesundheitsministerin erwägt deshalb, die Bürgerinnen und Bürger parallel mit höheren Zuzahlungen für Medikamente zur Kasse zu bitten. Wo immer etwas zu holen ist, muss es genommen werden. Die CO₂-Abgabe  wird das nächste Mal am 1. Januar steigen, diesmal auf 65 Euro pro Tonne, um Anreize für klimafreundlicheres Verhalten zu schaffen. Doch wird das die gute Laune der Leute zurückbringen und sie motivieren, mehr zu konsumieren? 

Dass die EU die Zollschranken um Europa nach dem Vorbild Donald Trumps entschlossen hochzieht und nach billigen Elektroautos aus China auch günstigen Stahl aus Indien draußen halten will, wird bei der angedachten große Infrastrukturoffensive hilfreich sein. Auch, weil dank höherer Materialpreise nicht ganz so viel Bauleute beschäftigt werden müssen. Aber hilft das, die "Stimmung zu drehen" (Merz) und wieder gute "Laune" (Klingbeil) zu produzieren?

Keine Geschichte von Zuversicht 

Bei der finalen Abwägung, die die Spitzen von Union und SPD in den zurückliegenden Krisenmonaten vorgenommen haben, überwog die Skepsis. Zwar war es den drei Koalitionspartnern gelungen, mit der Entsendung neuer Richterinnen ans Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe ein starkes Zeichen großer Einigkeit zu senden. Zudem konnten zur Erweiterung der deutschen Verschuldungsmöglichkeiten weit über die völkerrechtlich bindende Maastricht-Vorgabe hinaus sogar die demokratische Opposition eingebunden werden. So überzeugend, dass selbst die EU-Kommission als strenge Hüterin der Verträge keinerlei Einwände dagegen hatte, dass Deutschland - Stand jetzt - erst nach dem vollendeten Braunkohleausstieg im Jahr 2031 wieder nach den EU-Regeln haushalten wird.

Not kennt kein Gebot. Und wo Ratlosigkeit regiert, wird alles ausprobiert. Die Zahlen der Bundesstatistiker erzählen keine Geschichte von Zuversicht, sondern die der längsten und am meisten beschwiegenen Rezession der Geschichte der Republik. Es dreht sich kein Rad mehr für den Sieg über die schlechte Laune. Fabriken schließen. Chemieanlagen machen zu. Autowerke pausieren, Kneipen reduzieren die Öffnungszeiten, Ärzte die Sprechtage. Handwerker kommen nur noch, wenn sie Lust haben, Bürgergeldempfänger häufig gar nicht.

Zeit, dass sich was dreht! Zeit für einen radikalen Umbau, für kreative Zerstörung, für ein entschlossenes Auslichten des dunklen Bürokratiedschungels und der Vorschriftenwälder, die in Europa gezüchtet werden wie anderswo atemberaubende Zukunftstechnologien. 

"Weichen für eine starke Zukunft" 

Nur wenige Tage nach dem erfolgreichen Teambuilding des Kabinetts in der Berliner Villa Vino auf der das von Millionen Menschen ersehnte bundesweit einheitliche zentrale Zulassungsportal für Kraftfahrzeuge geboren worden war, versammelte sich die Spitze der inneren Spitze der Verantwortungskoalition erneut "Weichen für eine starke Zukunft" (CDU): Über die noch frische Modernisierungsagenda mit ihren fünf Handlungsfeldern und 23 Hebelprojekten hinausgeht es diesmal an den Kern der Probleme, die den Wohlstand bedrohen, die Gesellschaft spalten und die Wirtschaft zu Schließungen und Abwanderung zwingen.

Eine Nacht auf dem kahlen Berge nur dauerte es, und die vier Koalitionschefs traten mit einem Bündel an "zentralen Reformvorhaben" (Merz) vor ihr Volk. Endlich, endlich geht es den großen Problemen an den Kragen, die zu einer schlechten Stimmung und zu so viel Pessimismus geführt habe. Die immer weiter steigende Belastung durch die Sozialsysteme. Der andauernde Rückgang der Industrieproduktion. Die hohen Energiepreise. Die fehlenden Wohnungen. Die hohen Mieten. Die Abhängigkeit von anderen Ländern bei Rohstoffen, Internet-Infrastruktur und Investitionen. Die mangelnde Leistungsbereitschaft der jungen Generation. Die Unsicherheit auf den Straßen. Der auf Besucher zerlumpt und vernachlässigt wirkende Gesamtzustand des Landes.  

Entschlossene Maßnahmen 

Es sind entschlossene Maßnahmen, mit denen die schwarz-rote Koalition die größten Probleme angeht. Zentrale Reformvorhaben zielen auf Bürgergeld, Altersrente und Verkehr, die drei Gefechtsfelder, auf denen die Koalitionäre die größten Hindernisse für den angestrebten Aufschwung ausgemacht haben. in allen drei Bereichen bliebt nun kein Stein auf dem anderen. Das Bürgergeld etwa wird in Grundsicherung umbenannt und nach dem dritten versäumten Termin im Jobcenter vollständig gestrichen. 

Um Fachkräfte für die Wirtschaft bei der Stange zu halten, gehen Union und SPD auch bei der von Grundgesetz gebotenen Gleichbehandlung aller Bürger neue Wege: Wer alt genug ist, Rente zu erhalten, darf sich auf einen Extra-Steuerfreibetrag von freuen. Unbürokratisch wird der Freibetrag bereits bei der Gehaltsauszahlung angerechnet: Ein 66-jähriger Nicht-Rentner mit einem Bruttoeinkommen von 50.000 Euro zahlt den Plänen der Koalition nach ab 1. Januar weiterhin rund 11.000 Euro Lohnsteuer im Jahr. Sein 67-jähriger Aktivrenterkollege hingegen nur noch 3.000 Euro.

Gerechtigkeit 2.0 

Gerechtigkeit, das ist die große Überschrift, unter der das geschnürte Reformpaket steht. Zwar konnten sich Union und SPD nicht einigen, ob die EU das 2023 mit deutscher Zustimmung beschlossene  Verbrenner-Aus zurücknehmen muss. Doch geht alles gut, wird die Frage nicht mehr lange stehen: Mit einem neuen Förderprogramm wollen beide Parteien "gezielte Kaufanreize für E-Autos" setzen, die durch steuerfinanzierte Zuschüsse "spürbare Vorteile für Verbraucher" bringen werden, die sich den Kauf eines neuen Elektroautos leisten können.

Für das Förderprogramm sollen bis 2029 Mittel des EU-Klimasozialfonds und Milliarden Euro aus dem Klima- und Transformationsfonds zweckentfremdet werden. Wie viele genau, steht noch nicht fest, drei Milliarden aber auf jeden Fall. Bis zum Stopp der ersten Förderungsperiode Ende 2023 hatte sich der Bund das Sponsoring des Kaufs von knapp 2,2 Millionen E-Fahrzeugen mehr als zehn Milliarden Euro kosten lassen. Der damalige Klimawirtschaftsminister Robert Habeck hatte dann den Stecker ziehen müssen, weil das Geld alle war.

Umstiegsunterstützung von der Sprechstundenhilfe 

Jetzt ist es wieder da und diesmal soll dafür gesorgt werden, dass die Sprechstundenhilfe mit ihren Steuerzahlungen nicht wieder dem gut situierten Zahnarzt den Tesla finanzieren hilft. Nur "kleinere und mittlere Einkommen" würden "beim Umstieg auf emissionsfreie Fahrzeuge unterstützt", hat Finanzminister Lars Klingbeil Zweifel am neuen Förderprogramm für Elektroautos zurückgewiesen. Dessen Wirksamkeit steht außer Frage: Die drei Milliarden würden rein rechnerisch für Zuschüsse für den Kauf von mehr als 600.000 Elektroautos ausreichen. Der Absatz  von E-Autos ließe sich damit künstlich mehr als verdoppeln, wenn sich genügend Klein- und Geringverdiener finden, die auf die Kaufprämie die noch fehlenden 25.000 bis 45.000 Euro drauflegen.

Das muss, denn die Krisen-Koalition hat die führende Rolle der Bedeutung bei der Durchsetzung der Beschlüsse auch im Bereich Verkehrsinfrastruktur erkannt. Der dritte große Beschluss der Nachtsitzung macht Deutschland zukunftsfest auch im Bereich Bauarbeiten: Weitere drei Milliarden Euro werden zusätzlich zu den bereits per Sondervermögen geschaffenen 100 Milliarden speziell "für den Neubau der Straße" zur Verfügung gestellt, um "alle baureifen Projekte beginnen können", wie Kanzler Merz sagte.  Nach zwei Jahren soll überprüft werden, ob das Geld reicht oder ob sogar etwas übrigbleibt. 

Gerettet 

Die von Verkehrsminister Patrick Schnieder Mitte September aufgemachte Rechnung, dass bis 2029 15 Milliarden zusätzlich für den Aus- und Neubau von Straßen benötigt würden, hat Lars Klingbeil schon ins Reich der Märchen verwiesen. Nach einer Überprüfung habe sich dieser Betrag "erheblich verringert".

Das Land ist damit gerettet, die entscheidenden Weichen sind auf Wachstum gestellt.  Ohne Bürgergeld, aber mit Aktivrentner in Elektroautos kann die Autoindustrie wieder optimistisch in die Zukunft schauen. Die Sozialkassen werden entlastet, die Straßen repariert, die Energiepreise sinken, die Digitalisierung nimmt mit dem zentralen Bundes-KfZ-Zulassungsportal kräftig Fahrt auf. Mit Handlungsfeldern und Hebelprojekten ausgestattet, muss niemandem mehr bange werden vor einer Zukunft, die unweigerlich sowieso kommt.

Samstag, 11. Oktober 2025

Zitate zur Zeit: Im selben Wasser

Kois fische im selben wasser Karpfen bunt

Wir sind alle Fische im selben Wasser. Wir wissen nicht, dass wir an Land nicht atmen können.

Russisches Sprichwort

Marcel Fratzscher: Der Egonom als Pausenclown

 Marcel Fratzscher ist ein sehr lauter Egonom.

Sie haben ihn alle bitterernst genommen. Seine satirischen Bücher wurden in der Politik diskutiert, als enthielten sie die Handlungsanweisungen, die aus Deutschland wieder ein Land machen können, das "einfach funktioniert". Meldete er sich zu Wort, waren seine Einlassungen Offenbarungen für ein geschundenes, an sich selbst zunehmend verzweifelndes Gemeinwesen, dem der Wohlstand durch die Finger rann und das so lange stolz gepflegte Selbstbewusstsein mit jeden Tag verschrumpelte wie ein alter Apfel.

Gegen Missmut und Verzagtheit 

Marcel Fratzscher stemmte sich gegen Missmut und Verzagtheit. Er rief den Menschen Dinge zu, die viele kaum glauben wollten. Niemand müsse Angst vor der Inflation habe, sagte er, denn die sei gut und wichtig, weil sie helfe, die Gesellschaft grün zu transformieren. Sorgen um die Rente? Keiner müsse haben, denn die vielen, vielen Flüchtlinge seien eigens gekommen, um "die Renten der Babyboomer zu zahlen". 

Die Finanzprobleme des Staates gedachte der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung auszuräumen, indem Bürgerinnen und Bürger dem Staat aus ihrem Erspartem Kredit geben. Der Staat werde es ihnen mit den hohen Renditen vergelten, wie die reparierte Brücken, schicke Schultoiletten und geflickte Landstraßen regelmäßig abwerfen. Auf denen, hat Fratzscher abschließend beschlossen, werden dann Elektrofahrzeuge verkehren, ausschließlich. "Nein, nein und nein", ließ er die Mneschen im Lande wissen, "die Zukunft des Autos ist nicht fossil, diese haben weder ökologisch noch ökonomisch einen Platz". Und ein Festhalten an "dieser Technologie", wie er Benzin- und Dieselfahrzeuge angeekelt nennt, werde Arbeitsplätze und Wohlstand in Deutschland "zerstören, nicht sichern".

Kernkompetenzen eines Allesexperten 

Arbeitsplätze und Wohlstand sind nun gerade die beiden Kernkompetenzen des Allesexperten. Im Mangel an Arbeitskräften sieht Marcel Fratzscher zum Beispiel "eine Chance für Qualifizierungsoffensiven und für Investitionen in eine produktivere Arbeitskraft", kein Phänomen, dass es erleichtert, die Arbeitslosenraten trotz zerstörter Arbeitsplätze niedrig zu halten. 

Marcel Fratzscher hat herausbekommen, wie sich Kinderarmut leicht und günstig reduzieren lässt, indem "eine grundlegende Reform des Kindergelds zur Kindergrundsicherung" dafür sorgt, anspruchsberechtigten Familien den Zugang zu Mitteln erleichtert wird. Je höher die "Inanspruchnahme", desto besser. Ein "einfacher, bedarfsorientierter Ansatz", "bei dem der Staat eine "Bringschuld" hat statt der bisherigen "Holschuld" der Eltern", ergaben seine Forschungen, wäre ideal. 

Es wird nicht mehr lange dauern, dass Marcel Fratzscher eine ähnlich  bequeme Lösung für alle ins Spiel bringt, die durch mangelnde Elektrifizierung des Verkehrs, fehlende Zuwanderung, den Mangel an Generationengerechtigkeit, die schwache digitale und ökologische Transformation und eine dysfunktionale Finanzstruktur gezwungen sind, von den guten Gaben des Staates zu leben. Laut Fratzscher hat Deutschlands Wirtschaft kein kurzfristiges konjunkturelles Problem, sondern ein grundsätzliches: Der Klimawandel sei schuld an der endlose scheinenden deutscher Wirtschaftskrise. 

In seiner eigenen Welt 

Manches deutete darauf hin, dass da einer sprach, der in seiner eigenen Welt lebte. Ein Haltungsökonom, dem die Realität nichts ausmacht, weil er seine Vorhersagen im Fall der Fälle an neue Gegebenheiten anpasst. Die große Inflationschance wird dann zu schrecklichen Bedrohung.  Der gesellschaftliche Fortschritt zeigt sich nicht im Schrumpfen der Wirtschaft, sondern dadurch, dass "die Verantwortung für die Misere bei Politik und Unternehmen liegt – nicht bei den Arbeitnehmern". Aus dem Versprechen, Flüchtlinge würden bald die Renten ihre Gastgeber zahlen, wurde die Ansage, dass die Gastgeber länger arbeiten müssten, um weiter für den Unterhalt der Flüchtlinge aufkommen zu können.

Der nach seinem Berliner Erfinder "Fratzschern" genannte Sprachakt der Selbstdarstellung ist der wichtigste Teil einer Denkschule, die die gesellschaftliche Vergesslichkeit als Grundlage ihrer Überzeugungskraft nutzt. Erst vor einigen Wochen hatte der 54-Jährige mit einem Doppelschlag für Aufsehen gesorgt: Einerseits sollten Ältere, die ihr Leben lang hart gearbeitet haben, von ihrer oft nur knapp auskömmlichen Rente einen Zehnten abgeben, um noch ärmeren Altersgenossen auszuhelfen. Andererseits sollten die Angehörigen dieser Altersgruppe nach Eintritt in den Ruhestand  nicht die Hände in den Schoß legen dürfen, sondern zuvor per Seniorenpflichtdienst ein Jahr lang weiter beim "Wiederaufbau Europas" (EU) helfen müssen.

Wenig Einsicht bei Betroffenen 

Betroffene zeigten wenig Einsicht. Sie hätten doch als junge Leute schon Wehr- oder Wehrersatzdienst geleistet, behaupteten sie. Ältere Frauen verwiesen darauf, dass sie damals noch relativ häufig Kinder bekommen hätten, häufiger jedenfalls als gleichaltrige Frauen heute. Und die sozialen Maßnahmen seien seinerzeit keineswegs so kommod ausgestaltet gewesen wie heute.

Marcel Fratzscher aber hatte ein Buch zu verkaufen, ein Buch mit dem schönen Namen "Nach uns die Zukunft", in dem er einen "neuen Generationenvertrag für Freiheit, Sicherheit und Chancen" anpries. Dessen Voraussetzung sei allerdings eine vorhergehende einseitige Kündigung des bisherigen Generationenvertrages, nach dem Menschen arbeiten, in die Rentenkasse einzahlen und später, wenn sie selbst Rentner sind, ihre erworbenen Ansprüche als Rente ausbezahlt bekommen.

Das Buch läuft gar nicht gut. Kaum einer liest es, trotz einer Nominierung für den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis, zu dem die herausgebenden Verlage selbst bis zu drei Werke aus ihrem Programm einreichen dürfen. Amazon Bestseller-Rang 130.534 ist ernüchternd. Fratzscher tingelte also mit seinen Ideen von "Boomer-Soli" bis Seniorensolidarjahr. Zumindest bis klar wurde, dass aufgrund der russischen Bedrohung auch die Bundeswehr Anspruch auf die greisen Kameraden aus den Zeiten der letzten deutschen Massenheere erhebt.

Er ist die absolute Mehrheit

Die Irritation beim derzeit berühmtesten deutschen Wirtschaftswissenschaftler, 2002 in Florenz mit einer Arbeit namens "On the growing economic interdependence in a global economy" promoviert,  hielt nicht lange an. Seine Vorschläge einer Strafsteuer für Senioren und eines Sonderdienstes für Alte und gesundheitlich Angeschlagene hat er nicht zurückgezogen. Sondern sich etwas überlegt, um den noch vorhandenen Widerstand in dieser mächtigen, weil zahlenmäßig großen Wählergruppe niederzukämpfen.

Im Podcast "Absolute Mehrheit", einem Angebot des Rundfunkgrundangebots ARD, schlug er vor, dann doch einfach älteren Menschen das Wahlrecht zu entziehen. "Wenn Menschen in den ersten 18 Jahren nicht wählen dürfen, dann sollten sie in den letzten 18 Jahren ihres Lebens auch nicht wählen dürfen", sagte der Egonom, dem selbst Verfassung und Grundrechte nicht zählen, wenn es um eine schlagzeilenträchige Reformidee geht.

Alle gegen alle 

Das Talent des in Berlin lehrenden und forschenden Wissenschaftler, Jung gegen Alt, Stadt gegen Land, Ost gegen West und Sparer gegen Komplettausgeber aufzubringen, ist einzigartig. Fratzscher hat in Oxford, Harvard und Cambridge studiert, auch wenn seine ökonomisch unsinnigen Vorschläge es kaum vermuten lassen. 

Der Forscher ist überzeugt, dass längeres Arbeiten die Effizienz steigert, dass ein Alterseinkommen unterhalb der Armutsgrenze noch einmal extra besteuert werden sollte und dass es für alle Generationen ab sofort "neue Rechte und Pflichten" braucht. Wobei die Pflichten feststehen. Und die Rechte daraus, dass jeder seine Pflicht erfüllen darf. Ohne zu Maulen. Und ab 18 Jahre vor seinem Ableben auch ohne noch ein Wahlrecht zu haben.

Berechneter Todeszeitpunkt 

Wie genau Fratzscher mit knapp zwei Jahrzehnten Vorlauf den Todeszeitpunkt jedes Menschen errechnen will, hat er noch nicht verraten. "Ab 70", denkt er, sollte er Verlust des Wahlrechts greifen - mit Fakten und Statistiken hat Fratzscher es nicht so, sonst wüsste er, dass die durchschnittliche Lebenserwartung für Frauen in Deutschland bei 83,5  und für Männer bei 78,9 Jahren liegt. Erstere wären also mit dem Erreichen ihres 65. Lebensjahrs von Wahlen auszuschließen. Letztere bereits ab 61. 

Mit dem aktiven Wahlrecht müssten sie selbstverständlich auch das passive verlieren - ein Kanzler Merz (69), ein Verteidigungsminister Pistorius (65) und ein Außenminister Johann Wadephul (62) wären dann nicht mehr möglich. Die Politiker dürften nur noch "jeder frei wählen, was er machen möchte, um sich ein Jahr nochmal für die Gesellschaft nach Renteneintritt zu engagieren."

Aufschrei des Entsetzens 

Ein Aufschrei des Entsetzens ging durchs Land.  Wieder waren es die Alten, die sie lauthals empörten. Was sei denn das für eine Demokratie, die Grundgesetz Art.3 und den Satz "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich" so interpretiere, dass einige gleicher sind und andere noch. Kein Wahlrecht mehr, weil man alt ist. Aber 2.000 Euro steuerfrei, weil mal alt ist? 

Mit dem hohen Maß an Unverständnis, das ihm aus einer Gesellschaft entgegenschlug, die für die Umsetzung des Konzepts von Gleichheit durch Ungleichheit noch nicht bereit ist, hatte Marcel Fratzscher nicht gerechnet. Schlimmer noch als nach seinem Sondersteuervorschlag für Senioren und dem Zwangsdienst für Langgediente prasselten Vorwürfe auf den Egonomen ein. 

Enthemmte Wutrentner 

Arrogant sei er und anmaßend, ihm fehle es an fachlicher Kompetenz und seinem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung solle es am besten möglichst bald an den bisher freigiebig fließenden öffentlichen zur Finanzierung der Erforschung solcher Quatschvorschläge fehlen, wünschten sich enthemmte Wutrentner.

Fratzscher hat sich daraufhin offenbart. Erstmals seit der Makroökonom vor 15 Jahren ins Licht der Öffentlichkeit trat, hat er seine Rolle als Wissenschaftler, Forscher und Politikberater verlassen und einen seiner Ratschläge selbst als derben Spaß geoutet. Der Egonom enttarnte sich als Pausenclown. Sein zugespitzter Vorstoß zum Entzug des Wahlrechts für Ältere doch nur "Humor" gewesen  - und überdies gar nicht seine Idee, sondern eine der damals noch anarchischen Kleinstpartei Die Partei.

Freitag, 10. Oktober 2025

Kranke Präsidenten: Die Lebenden und die Toten

Putin Trump kranke Präsidenten Kümram
Zwei schwerkranke Präsidenten: Trump und Putin produzieren mit ihrem Gesundheitszustand immer wieder Schlagzeilen. Nur Joe Biden war auch im hohen Alter kerngesund. Abb: Kümram, Wasserfarben auf Brotpapier

Ist der russische Präsident Wladimir Putin schwerkrank? Bleiben ihm nur noch wenige Monate? Leidet er an Krebs? Oder ist es noch schlimmer? Was verbirgt der Kreml und wieso nicht mehr? Sieht man es ihm an oder täuscht der Eindruck? Hat er Angst vor Corona? Oder ist er gar schon lange sein eigener Doppelgänger, gelenkt aus den Hinterzimmern der Macht?

Mit dem Angriff der russischen Truppen auf die Ukraine im Februar 2022 schossen die Spekulationen über den Gesundheitszustand des damals 69-jährigen Despoten noch wilder ins Kraut als zuvor. Putin würde bald sterben, gleich oder in Kürze, spätestens in ein paar Monaten, wussten namenlose Kreml-Insider aus sicherer Quelle. Eine Krebs-OP wollten seine Ärzte noch versuchen, aber viel Hoffnung bleibe nicht, bestätigten Geheimdienstquellen aus Russland, die über die USA in den deutschen Boulevard schwappten.

Rückkehr der Kremlastrologe 

Neben dem Krebs wurde Putin auch noch von Parkinson und oder Multipler Sklerose geplagt. Er hatte noch allenfalls zwei Jahre, berichtete RTL. Angeblich könnte er bald tot sein, bestätigte die Kreiszeitung. Und die Frankfurter Rundschau, ein früheres Gewerkschaftsblatt, dessen Radikalisierung seit Jahren beharrlich voranschreitet, schrieb das Tagebuch eines langen Sterbens. Der Potentat fehlte "bei einem wichtigen Hockey-Event". Er ordnete sein Erbe. Die "Tagesschau" bestätigte das Ergebnis umfangreicher Recherchen: Bei Fernsehauftritten trinke Putin schon "aus einer Tasse Medikamente" und "unter dem Tisch würden seine Beine zittern".

Die Kreml-Astrologie, im kalten Krieg ein Metier, in dem sich intelligente und hochgebildete Spezialisten tummelten, kehrte als Spökenkiekerei zurück. Am eifrigsten beteiligten sich Medienhäuser, deren Geschäftsmodell zu einem Gutteil auf Fake News basiert. Das im politischen Berlin garstig als "Reichsnachrichtendienst" verhöhnte SPD-Portal RND etwa wusste nicht nur früh und sehr sicher von Putins Krebserkrankung. Es stand auch notierend daneben, als der 5. März als Starttag "weiteren Chemotherapie" festgelegt wurde. 

Geheimnissen auf der Spur 

Die würde dem Präsidenten allerdings nur noch wenig nützen, teilte ein Sven Christian Schulz mit, der  "Politikwissenschaften, Soziologie, Ökonomie und Theologie in Düsseldorf, Bochum und Melbourne" studiert hatte, um dieser Art Geheimnissen auf die Spur kommen zu können. Sobald Putin von der Chemo geschwächt sei, würden seine internen Gegner ihn entmachten. Generalstabschef Gerassimow beabsichtigten, den Krieg gegen die Ukraine danach zu beenden. "Dazu soll er mit dem Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew, geplant haben, den in Russland als „Spezialoperation“ bezeichneten Krieg zu sabotieren und Truppen in den Süden zu verlegen."

So wirr, so schräg, so lange her. Putins letzte Chemo war im Jahr 2023, Putin litt und starb da schon ein Jahr lang oder - zumindest im "Spiegel" - schon mehrere öffentlichkeitswirksam vor sich. Seinen Beinen und seine Händen war es aller paar Monate anzusehen. Der macht es nicht mehr lange und so stand es auch in "geleakten US-Geheimdienstpapiere", die wohlmeinende Kreise dem mächtigen RND bei anderer Gelegenheit zuspielten. Unverkennbar war die Hoffnung der Berichterstatter, dass Putin einfach wegsterben würde und der Krieg in der Ukraine damit endet. 

Die biologische Lösung 

Eine biologische Lösung, für die die seriöse Medien schon detaillierte Kronfolgepläne bereithielten. Ministerpräsident Michail Mischustin, ein Parteiloser, der früher mal die russische Steuerbehörde geleitet hatte, übernähme dann. Anschließend greife "eine Person aus Russlands politischer Elite, die derzeit wenig an Entscheidungsprozessen beteiligt wird", nach Macht und Amt. Oder eine Person, die von Putin selbst als Nachfolger installiert wurde. Oder es komme "zu einer militärischen Konfrontation Russlands gegenüber dem gesamten Westen". 

Die Logik der Ausführungen erscheint nicht ganz klar. Aber durch Putins Wunderheilung blieb das Erwartete bisher ohnehin aus. Gerade erst feierte der Kremlherrscher seinen 73. Geburtstag mit neuen Durchhalteparolen und Siegesmeldungen. Die ehemals akuten Gesundheitsprobleme des Präsidenten waren auf geheimnisvolle Weise aus den Qualitätsmedien verschwunden. 

Es schien dem Diktator wieder viel zu gut zu gehen, seit er Jahr nach seinem Tod in Alaska mit federndem Schritt aus einem Flugzeug gesprungen war, um aufrecht und ohne Zitterbeine auf seinen amerikanischen Gastgeber Donald Trump zuzustiefeln, als habe er nie auf dem Totenbett gelegen. 

Warten auf den Fährmann 

Doch der einzige Grund dafür war offenbar, dass nun Donald Trump es ist, der am Ufer des Hades steht und nur noch auf den fürchterlichen Fährmann wartet. Neuerdings geben die Hände des Präsidenten den politischen Diagnostikern Anlass zur Sorge, Flecke im Gesicht. Seine Beine! Einer Vielzahl an raunenden Berichte ist zu entnehmen, dass wiederum Hoffnung herrscht: Auch mit Donald Trump könnte es in Kürze vorbei sei. Bestenfalls, ehe er auch noch den Friedensnobelpreis dafür bekommt, dass er der deutschen Linken ihren geliebten Nahost-Krieg als Legitimation eines unausrottbaren Judenhasses weggenommen hat. Aus der Diktatur, die zu errichten der 79-Jährige im Begriff ist, würde dann nichts. Schnell könnten Europa und Amerika wieder Freunde werden.

Die klammheimliche Freude ist nicht zu verkennen, die die Texte über die Aussetzer, Schwellungen und mysteriöse Flecken auf der Haut grundiert. "Auch nimmt er offenbar einige Medikamente", kabelte ein US-Korrespondent namens Peter DeThier aufgeregt an die "Morgenpost. Die Frage deshalb: "Baut Trump ab?" Endlich? Soll der Sekt schon kaltgestellt werden? 

Putins Schicksal aber darf den 79-Jährigen optimistisch stimmen. Und das seines Vorgänger Joe Buiden erst recht. Dem 46. US-Präsidenten, für ungeübte Augen der im Trio, dem am ehesten ein Zusammenbruch auf offener Bühne zuzutrauen war, gelang es als einzigem der drei Weltpolitiker, niemals mit schweren Erkrankungsnachrichten Schlagzeilen zu machen. Biden stolperte über die Weltbühne, er haspelte sich durch Reden und wirkte bei öffentlichen Auftritten wie ein Aufziehpuppe aus Holz. 

Um seine Gesundheit aber, das wurde Woche für Woche neu bekanntgemacht, sei es bestens bestellt. Niemand dürfe sich Sorgen machen. Biden saß "fest im Sattel", attestierte ihm der bekannte ZDF-Korrespondent Elmar Theveßen noch als er schon vom Pferd gefallen war. 

Verglichen mit Putin und Trump war Biden das Musterexemplar eines Präsidenten. Unverwüstlich, nie auch nur angekränkelt, vital und dynamisch. Sein ungelenk wirkender Gang verdankte sich der hohen Spannkraft seines gestählten Körpers, sein roboterhaft wirkender Sprachfluss verriet große Nachdenklichkeit und eine Abneigung gegen schnelle Urteile. Biden hatte nie Flecke auf der Haut, er nahm keine Medikamente, mit seinen Beinen war alles in Ordnung und er litt weder unter Krebs noch Parkinson oder Alzheimer.

Künstliche EU-Strategie: Der große Sprung

Die Präsidentin hat gesprochen. Die AI-First-Strategie muss nur noch aufgeladen werden.

Sie ist wieder ganz vorn wie immer. Nicht einmal zwei Jahre nach dem AI Act, mit dem die EU nicht nur das weltweit erste Regulierungsgesetz für Künstliche Intelligenz, sondern auch sich selbst von selbiger verabschiedete, hat Kommissionspräsident ein Ursula von der Leyen angekündigt, dass ihre Behörde demnächst eine umfassende AI-Strategie ankündigen werden, in der angekündigt werden soll, welche großen Ankündigungen in der Zukunft noch folgen könnten. "AI first" nennt die Präsidentin ihren Plan zur planmäßigen Nutzung einer Technologie, über die die EU dank der Bemühungen ihrer Kommission kaum verfügt.

Bewährte Strategie 

Von der Leyen folgt damit ihrer bewährten Strategie: Sobald ein Thema so weit durch ist, dass wirklich alle begriffen haben, wie wichtig es gewesen wäre, ganz vorn dabei zu sein, taucht die Präsidentin auf, um zu bestätigen, dass genau das ganz oben auf ihrer Liste steht. Unvergessen ist, wie sie sich die Impfdosenbeschaffung auf den Tisch zog und anschließend die Gründung einer "Gesundheitsunion" namens "Hera" ausrief. Die Arbeit war damit auch schon getan. 

Als neue Herausforderungen aufploppten, wurde aus der Gesundheitspräsidentin Europas umgehend eine Energiepräsidentin, eine Zollpräsidentin, eine Bürokratiepräsidentin, eine Resilienzpräsidentin und eine Rüstungspräsidentin. Messbare Erfolge zeitigten all die ruckeligen Reden der 67-Jährigen nicht. Europa spielt heute nahezu nirgendwo mehr eine Geige, sondern allenfalls die Maultrommel. Es gibt kein Wachstum, es gibt keine Einigkeit, es gibt atemberaubend hanebüchene Pläne, sich weiter durchzuwursteln und eine wachsende Angst, dass all das nicht mehr lange beieinanderzuhalten sein wird.

Immer zu spät 

Immer zu spät. Immerzu viel. Oder zu wenig. Im Bemühen, den großen Themen, die anderswo entstehen, wenigstens hinterherzulaufen, hat von der Leyen die traditionell hochentwickelte EU-Ankündigungskultur zu einer nie gekannten Blüte gezüchtet. Mehr noch als ihr Vorgänger Jean-Claude Juncker, der wenigstens unterhaltsam war, wenn zwei Paar Schuhe auf einmal trug, hat die eiserne Lady aus Hannover Europa mehr geschadet als es Putin, Xi und Trump gemeinsam vermochten.

 Dem Selbstbewusstsein der Frau, die mit zehn nach wie vor den deutschen Rekord für die meisten jemals geführten  Fachministerien hält, hat das nicht geschadet. Als die Christdemokratin jetzt in Straßburg aufs Podium trat, um der restlichen KI-Welt den Kampf anzusagen, ließ sie sich auch nicht irritieren, als nach ihrer Verkündigung der neuen famosen "AI first"-Strategie nur ein einziger Mensch im Saal beglückt in die Hände klatschte. Von der Leyen reagierte nach einem Augenblick der Verblüffung mit dem Ausruf "Ja, das ist einen Applaus wert". Und sie freute sich, dass wenigstens das ein mattes Echo aus Mitleidsklatschern erzeugte. 

Bei Lichte betrachtet 

Die "einfache und transformative" Strategie, von der sie anschließend nur so viel verriet, dass die EU künstlich-intelligente Gesundheitsfabriken in ganz Europa errichten und Geld ins autonome Fahren stecken werde, hat es in sich. Sie besteht bei Lichte betrachtet aus nicht mehr als all die anderen Strategien, Pläne und Absichtserklärungen, mit denen von der Leyen bisher hausieren ging: Eine dünne Suppe, die fast vollständig aus aromatisierten Ansprüchen, Glaubensglutamat und Worthülsen besteht. 

Der AI Act, das Produkt einer zentralen Planwirtschaftsideologie, den seine Schöpfer stets stolz als "erstes staatenübergreifende Gesetzeswerk zum Einsatz von künstlicher Intelligenz" lobten, als werde es nur Tage dauern, bis alle das 169-seitige Werk mit seinen 101 Artikeln abschrüben, kam jetzt nicht vor in von der Leyen predigtartiger Ansprache. Auch vom Stolz der Kommission, erstmals so schnell auf eine neue Technologie reagiert zu haben, dass die in der EU schon verboten war, ehe sie richtig eingeführt werden konnte, war nichts mehr zu spüren. 

Angriff auf die ganz Großen 

Stattdessen soll EU-Europa es jetzt mit den ganz Großen aufnehmen. Im Wettstreit mit den USA und China will die EU-Kommission "etwa eine Milliarde Euro" (Handelsblatt) in die Had nehmen und für "mehr Künstliche Intelligenz in der Wirtschaft" ausgeben. Eine Summe, die in den USA vermutlich für Angst und Schrecken sorgen wird. Die Google-Mutter Alphabet hat in diesem Jahr 75 bis 85 Milliarden US-Dollar in KI gesteckt, bei Amazon sind es 60 Milliarden. Facebook-Mutter Meta plant bis 2028 mit Ausgaben von 600 Milliarden US-Dollar für Rechenzentren. OpenAI und Oracle geben 500 Milliarden Dollar für das "Stargate" Superrechenzentrum aus.

Und dann steht da diese ältere Dame in Apricot und sie spricht davon, dass ihre Milliarde "etwa" für autonomes Fahren in europäischen Städten oder KI-gestützte Gesundheitszentren eingesetzt werden wird. "Etwa" bedeutet im Politischen "nicht nur", denn "auch für die Wissenschaft sind Mittel und eine eigene KI-Strategie vorgesehen", sagt Ursula von der Leyen - "etwa" um den Forscherinnen und Forschern Zugänge zu KI-Rechenzentren zu gewähren. 

Jammern und Zähneklappern 

Das wird geklotzt in Brüssel und das Jammern und Zähneklappern der Konkurrenz in Übersee und in China ist kaum zu überhören. Sehr spät, aber wie immer zu spät hat die EU-Kommissionspräsidentin herausbekommen, dass "mit KI intelligentere, schnellere und erschwinglichere Lösungen gefunden werden" können. Nur drei Jahre nach der Vorstellung der OpenAI-KI ChatGPT zieht die Kommission Konsequenzen: "Wir werden die AI-First-Denkweise in allen unseren Schlüsselbranchen vorantreiben, von der Robotik über das Gesundheitswesen bis hin zur Energie- und Automobilindustrie", spricht die Frau, deren Reich gerade auch noch die letzten kleinen eigenen KI-Startups Richtung USA davonlaufen.

Aber von der Leyen plant ohnehin eine europäische Zukunft als Anwender fremder Intelligenz. Die gelernte Medizinerin schwärmt von den großen Fortschritten bei Röntgenbildanalysen, Krankheitsdiagnosen und Therapieempfehlungen, die mit der für Europa brandneuen Technologie gemacht werden könnten. Ihr letztes liebstes Kind, der im Januar verkündete, aber seitdem noch nicht wieder erwähnte große Bürokratieabbau, kommt mit KI erst richtig in Gang.  

"Milliarden-Initiative"


"AI first", das ist nicht irgendwas, das ist eine "Milliarden-Initiative", die "Europa zu einem KI-Kontinent machen" soll, wie die Kommission offiziell formuliert. Mit "vier  europäischen KI-Gigafabriken", alle "auf das Training der komplexesten, sehr großen KI-Modelle" (von der Leyen), peilt die EU den großen Sprung aus dem Besenwagen ganz an die Spitze an.  

Diese magischen Gigafabriken, hat sich von der Leyen aufschreiben lassen, "werden über rund 100.000 KI-Chips der neuesten Generation verfügen, etwa viermal mehr als die KI-Fabriken, die derzeit aufgebaut werden." Und wenn sie eines Tages wirklich fertig werden sollten, hätten sie zugleich auch nur halb so viele wie  Elon Musks Grok und ein Viertel so viele wie Metas Superrechner, der im kommenden Jahr angefahren werden soll.

"Kraft für das Gute" 

Doch dort wird nur gerechnet. Ursula von der Leyen aber will, "dass KI eine Kraft für das Gute und für das Wachstum ist". In Zeiten der kommenden Klimakatastrophe ein Spagat: Wachstum ist eigentlich nichts, was Europa vor kommenden Generationen noch verantworten kann, KI-Rechenzentren stehen zudem unter Verdacht, unmäßig viel Energie zu benötigen. 

Nachdem die "AI First"-Strategegen der Kommission in monatelanger Arbeit n eben dem Gesundheitswesen und dem autonomen Fahren auch noch "Robotik, Fertigung, Ingenieur- und Bauwesen; Klima und Umwelt; Energie; Agrar- und Ernährungswirtschaft; Verteidigung, Sicherheit und Raumfahrt; elektronische Kommunikation sowie Kultur-, Kreativ- und Medienwirtschaft" als "Schlüsselsektoren" (EU) identifiziert haben, sieht alles vielversprechend aus. Nicht aufgeführte Sektoren wie Finanzen und Tourismus dürften zudem später hinzukommen, hieß es von EU-Beamten.

Nur noch aufladen 

Doch trotz "unseres eigenen europäischen Ansatzes auf der Grundlage von Offenheit, Zusammenarbeit und exzellenten Talenten" droht dadurch ein Ressourcenbedarf, auf den Deutschlands Rückbauplaner zum Beispiel überhaupt nicht eingerichtet sind. Die hatten den künftigen Strombedarf noch 2023  auf  750 Terawattstunden im Jahr geschätzt. Jetzt, wo auch Deutschland wenigstens eine energiehungrige KI-Gigafabrik abbekommen muss, um der EU beim "Aufholen des Innovationsrückstands gegenüber den USA und China" (von der Leyen) zu helfen, liegen die Prognosen bei nur noch 600 Terawattstunden.

Auch Ursula von der Leyen weiß um solche Herausforderungen. Das passt alles nicht zusammen, böse Zungen könnten sagen, es klingt alles nach großem Quatsch. Doch mit "AI First" steht die Richtung. Es gibt kein Zurück, auch wenn jenseits der eingeschworenen Fans der Kommissionspräsidenten bei an geschlossenen Funkhäusern und Magazinpalästen niemand sagen könnte, wie von der Leyens Strategiesimulation einen Weg vorwärts öffnen könnte. 

"Unser Ansatz muss noch aufgeladen werden", hat die Präsidentin in Straßburg selbst sorgsam verklausuliert gestanden. Es fehlt an Geld, es fehlt an Firmen, es fehlt an Chiphersteller, es fehlt das Know How und es droht als Nächstes ein erbitterter Kampf der 27 Mitgliedsstaaten im Standortwettbewerb um die KI-Gigafabriken.

 

Donnerstag, 9. Oktober 2025

Ist doch Wurst: Danke, EU!

Veggie-Wurst EU-Parlament verbot
Die Wurstentscheidung des EU-Parlaments zeigt deutlich, dass die Europäische Union auch in Zeiten großer Krisen handlungsfähig und entscheidungsbereit ist.

Der Welt taumelt ungebremst in die Klimakatastrophe. Immer mehr Staaten stürzen über die Klippe zurück in vorzivilisatorische autokratische Zustände. Russland steht kurz davor, bis ins französischen Brest durchzumarschieren und in Deutschland bricht die ehemals so starke Industrie schneller zusammen als die dadurch fehlenden Steuereinnahmen beim Sozialstaat eingespart werden können. Es sieht wirklich nicht gut aus in diesen Tagen.  

Schwindende Zuversicht 

Hoffnung ist rar, Rettung fern. Auch wenn der Koalitionsausschuss der in Berlin regierenden "Kleiko" (Felix Banaszak)  bis in die tiefe Nacht getagt hat, um eine wirksame Medizin gegen die erstarkende rechte Opposition zusammenzubrauen, schwindet bei vielen Bürgerinnen und Bürgern die Zuversicht. Aus Rezession wird nach drei langen Jahren Depression. Kaum, dass Menschen noch dem Hin und Her von Vorschlägen und Rückschlägen, Zumutungen und neuen Abkassierideen folgen.

Ausgeliefert fühlen sich viele, im Herzen spürt mancher die Sehnsucht danach, dass es einfach enden mögen, wie auch immer. Das pausenlose Beschwören der Krise, die Forderungen nach mehr Arbeit und länger, höheren Beiträgen, weniger Widerspruch und mehr Vertrauen, das alles macht die Seelen wund und die Köpfe leer. Seit Angela Merkel vor 15 Jahren verkündete, die Finanzkrise sei so schlimm wie zuletzt der Zweite Weltkrieg mit seinen 60 Millionen Toten, sind der Alarmindustrie die Superlative ausgegangen. Aller zwei, drei Jahre ist wieder etwas so schlimm, schlimmer sogar. Kaum dass sich noch Institutionen finden, denen die Menschen zutrauen, dass sie das Richtige  beschließen werden, um das Ruder herumzureißen.

Das EU-Parlament, Anker der Stabilität 

veggie wurst verbot eu
Wenigstens aber einen Anker haben wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität in Europa , wenigstens auf ein politisches Gremium  können sich 440 Millionen Europäerinnen und Europäer blind verlassen. Das EU-Parlament, das sich selbst aus seinem Alleinvertretungsanspruch für alle 745,6 Millionen Menschen in Europa gern auch aus "Europa-Parlament" bezeichnet, steht inmitten der grassierenden Krisen nicht am Rande und nicht tatenlos im Wege. In Straßburg, der Hauptstadt der europäischen Demokratie, wird gearbeitet, werden die Verhältnisse geordnet und die Schienen gelegt, auf denen EU-Europa in Kürze zurück an die Weltspitze dampfen wird, nachhaltig, vielfältig und grün. 

Es sind viele Bausteine, aus denen die mehr als 700 Abgeordneten aus heute noch 27 Staaten - nach dem Ausscheiden der Briten wurden deren Sitze nicht abgeschraubt, sondern unter den verbliebenen Staaten verteilt - die Straße zum nächsten Aufschwung bauen. Zahllose Acts haben sie schon beschlossen, kein anderer Kontinent verfügt über eine so gute "Rechtssetzung", wie es die EU-Kommission nennt. Wie eine zusätzliche Schicht legen sich EU-Vorschriften über jedes nationale Gesetz: Fürsorglich, streng und gut gemeint. 

Gerechtigkeitsraum Europa  

Der Gerechtigkeitsraum Europa reicht so von der Algarve bis nach Narva, von Dänemarks Nordseestränden bis zu den malerischen Mittelmeerinseln wenige Kilometer vor der Türkei, auf denen  griechische Soldaten die europäischen Werte verteidigen. Weil es so wichtig ist, wird dem EU-Parlament regelmäßig viel vorgeworfen. Es sei korrupt, werde von arabischen Potentaten manipuliert und von chinesischen Staatskonzernen an der langen Leine geführt. 

Dazu kommt die stete Behauptung, das nach dem Volkskongress Chinas zweitgrößte Parlament der Welt sei gar nicht demokratisch gewählt: Der den "Europawahlen" zugrundeliegende Grundsatz der degressiven Proportionalität wird da kritisiert. Obwohl die Europäischen Verträge klipp und klar festgelegt haben, dass kleinere Länder zwar weniger Abgeordnete haben als größere Länder, die Abgeordneten aus größeren Ländern aber dafür sehr viel mehr Menschen vertreten müssen als ihre Kollegen aus kleineren Ländern.

So viel Gutes 

Demokratie 2.0, die auf Gleichheit verzichtet, aber eine hohe Operationalität vorweisen kann. Das EU-Parlament ist eben keine "demokratische Schwatzbude", wie seine Kritiker ihm vorwerfen. Es hat vielmals gezeigt, dass es auf akute Krisen schnell reagieren kann und sich nicht scheut, stabilisierend einzugreifen, wo die Grundfesten der Gemeinschaft durch gezielte Angriffe erschüttert werden. Die EU hat auf diese Weise bereits viel Gutes getan.

Dass es weltweit nur noch ein Ladesteckerformat gibt, ist den Parlamentariern zu verdanken. Dass Internet-Plattformen voll hasserfüllter Verleumdungen Rechenschaft vor EU-Gremien ablegen müssen, verdankt sich einer EU-Idee. Auch die von so vielen so lange ersehnte Neuskalierung des Energieeffizienzindex, die einen übersichtlicherer Farbraum für elektrische Verbrauchsgeräte schuf, fiel nicht vom Himmel. Wie die sogenannte Teller-Verordnung, die EU-Bürger ab 2026 zum Aufessen zwingt, steckt harte Arbeit hinter all diesen Versuchen, Europa sicher und schöner zu machen.

720 Abgeordnete aus 200 Parteien 

Von dieser Arbeit lassen sich die 720 Abgeordneten rund 200 verschiedenen nationalen Parteien auch von vermeintlich neu aufschäumenden Krisen nicht abhalten. Ja, es steht nicht gut um Europas Wirtschaft. Ja, die Rechtsextremen stehen bei ihrem Marsch auf die nationalen Parlamente überall schon nahe vor der Tür, teilweise sind sie gar schon eingezogen. Richtig ist auch, dass die Bürokratie der Gemeinschaft derzeit viel damit zu tun hat, die in besseren Zeiten selbst ausgedachten Richtlinien, Regeln, Zwangsanweisungen und Auflagen so interpretieren, dass sie in der Kälte des internationalen Konkurrenzkampfes nicht alles Wirtschaftsleben in Europa erfrieren lassen.

Doch selbstbewusst setzt das Parlament eben auch weiter Prioritäten - auch um zu beweisen, dass kein Grund zur Panik besteht. Inmitten der wilden Stürme, die den alten, morschen Kahn Europa peitschen, kam es so zur denkwürdigen Veggie-Wurst-Entscheidung. 355 Abgeordnete verschafften dem Vorschlag eine Mehrheit, dass Wurst ohne Fleisch in Europa nicht mehr als Wurst bezeichnet werden darf, Fleischsalat nicht mehr als Salat und auch Schnitzel aus getrockneten, gepressten und mit Gewürzen aufgepeppten Sojasprossen einen neuen Namen erhalten muss.

"Soja-Geschnetzeltes" und "Soja-Mulch" 

Im Gespräch, so war es auf den Fluren des Parlaments in Straßburg zu hören, ist hier "Soja-Geschnetzeltes" oder auch "Soja-Mulch". Entscheiden aber ist noch nichts, die endgültige Richtlinie mit der Gesamtliste der in der EU erlaubten Neuzeichnungen für Lebensmittel soll erst nach dem Abschluss der abschließenden Formsacheverhandlungen mit EU-Rat und Kommission von einem Bürgerrat erstellt werden.

Wichtig war den Parlamentariern aber das Signal hinaus in die Welt: Europa ist handlungsfähig, Europa kann die entscheidenden Weichen stellen. Auch wenn die EU nicht sofort in der Lage ist, die schicksalhaften Protokolle aus dem Plenum in den vielen, vielen Amtssprachen der Union bereitzustellen, ist das ein starkes Zeichen. 

Symbolischer Sonnenblumenkernschinken

Hier im gemeinsamen Rechtsraum, der nach dem festen Willen von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eines Tages bald auch ein richtig gemeinsamer Markt werden soll, wird sich um die wichtigen Dinge gekümmert. Hier werden Menschen geschützt und Unternehmen, die mit billig zusammengekehrten vegetarischen Fleischersatzprodukte wie einem symbolischen "Sonnenblumenkernschinken" versuchen, Verbraucher zu täuschen, wird das Handwerk gelegt. 

Das EU-Parlament ist sich keineswegs zu schade, en détail über Burger, Schnitzel und Wurst zu bestimmen. Vielmehr sehen es die Abgeordneten als ihre vornehmste Pflicht an, als "Sprachpolizei" (lto.de) aufzutreten - diesmal "zugunsten der Fleischindustrie", das nächste Mal für irgendjemand anderen, immer aber darauf bedacht, von ganz, ganz oben bis hinunter in die letzte Ecke des Alltags durchzuregulieren.

Dämpfer für Skeptiker 

Für die Skeptiker, die die EU als Ganzes für einen schwerfälligen Dampfer halten, der sich als unfähig erwiesen hat, mit dem Tempo des Fortschritts weltweit mitzuhalten, ist das ein schwerer Dämpfer. Der Antrag auf ein Wurst-Bezeichnungsverbot für Wurstwaren ohne Wurst benötigte nur ein Jahr, bis die Mehrheit im Parlament das entsprechende Gesetzespaket durchwinkte. 

Jetzt müssen nur noch die 27 EU-Staaten zustimmen, damit das Vorhaben in Kraft treten und dieses Kernproblem im europäischen Zusammenleben aus dem Weg räumen kann. Die Entscheidung des Parlaments gibt den Verhandlungsführern der Volksvertreter jedenfalls ein starkes Mandat in den anstehenden Verhandlungen im sogenannten Trilog mit den Ländern und der EU-Kommission.