Donnerstag, 7. Juli 2016

Am Personalpronomenpranger: Das "Wir" vorm Weltgericht

Die Vielfalt eines sieggewohnten Kollektivs: Wir von ARD, ZDF und DFB werden es schaffen.
Es ist zwei Jahrzehnte her, dass große Zeitungen und die Kommentatoren der Gebührensender begannen, nicht mehr von der "deutschen Mannschaft", sondern von "unserer Mannschaft" zu schreiben und zu sprechen. Die Perspektive hatte sich geändert, das "Ich" war zum "Wir", der einzelne Betrachter zum Teil eines Jubelkollektivs geworden, das keine Zuschauer mehr kannte, sondern nur noch Fans. Wir waren Sommermärchen, wir waren im Halbfinale, wir wurden Weltmeister und Hitzlsberger und Bataclan und Böhmermann.

Wir hatten Glück. Wir waren glücklich. Wir waren viele. Eine Menge. Und die Reporter am Spielfeldrand euphorisierten unisono mit: Unser Team spielte für uns alle, wir kannten keine Bayern, keine Dortmunder, keine Rostocker und Dresdner mehr. Sondern nur noch Fans des einen und einzigen Teams, das gegen gutes Geld eines großen Sponsors schließlich auch noch wegweisend auf seinen Nationalcharakter verzichtete.

"Die Mannschaft" war geboren, ein Identifikationsangebot für Eurohasser und EU-Anhänger, ein Team, bei dem jeder mit muss, weil "wir" (Steffen Simon) am Ende den Titel wollen.

Ein langer Weg bis hierher, ein langer Weg, den das Sportmagazin "Der Spiegel" Schritt für Schritt mitgegangen ist. Auf Ballhöhe zitterten die Hamburger mit unserer Mannschaft, eingeschworen auf ein gemeinsames Ziel: Titel für die vom Hass Europas geknickte deutsche Seele, gegen Skeptiker, Nationalisten und Zweifler.

Nun aber ist das auch schon wieder nicht mehr recht. In einer scharfen Abrechnung mit den Kommentatoren von ARD und ZDF verwahrt sich Spiegel-Autor Daniel Raecke kurz vor dem Anpfiff der schicksalhaften Begegnung mit dem einstigen Erbfeind Frankreich dagegen, in ein gesamtdeutsches Jubelkollektiv eingereiht zu werden. 16,4 Millionen Menschen in Deutschland hätten laut Statistischem Bundesamt einen "Migrationshintergrund", das seien mehr als 20 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik. Und doch: "Bei großen Fußballturnieren spielt das für viele Medien keine Rolle", so Raecke, "gerade in der ARD sprechen inzwischen zahlreiche Kommentatoren und Moderatoren von "wir", wenn es um die deutsche Nationalmannschaft geht."

Nach zwanzig Jahren leuchtet in Hamburg ein Licht. Wir staunen.

Das "Wir" vorm Weltgericht, der Gebührenfunk am Personalpronomenpranger. Keine Integrationsleistung, kein Einbeziehen von Zugewanderten, Migranten und Mitbürgern anderer Hautfarben, Religionen und Herkünfte ist das "Wir" mehr. Sondern der Versuch, durch Übernahme des Fremden zu entwurzeln. "Das ist aus mehreren Gründen problematisch, auch weil jede Distanz aufgegeben wird, wenn Medien sich als Teil der deutschen Mannschaft begreifen, also als eingebettete Journalisten auftreten", klagt Daniel Raecke.


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3 Kommentare:

Die Anmerkung hat gesagt…

Kleine Ergänzung zur bestechenden Logik der besten deutschen Sportschriftsteller.

ppq hat gesagt…

Die Nazis auf'm Platz wurden von der französischen Resistance vernichtend geschlagen.

das ist ein wort. treffend. zudem zu bedenken: wir müssen die franzosen bei laune halten. die sind unser wichtigster partner, jetzt, nach dem brexit umso mehr.

analyse der wahren gründe der niederlage folgt.

Gerry hat gesagt…

Wirklich traurig scheint ja keiner gewesen zu sein ...