Montag, 27. Oktober 2025

Reste von Rechtsstaat: Ende der Unschuld

Klingbeil Dobrindt Einnahmen
Die Große Koalition macht Druck: Zwei Minister, zwei innovative Ideen. 

Erst war es ein bedauerlicher Einzelfall, im Übereifer des Gefechts um die Wahrung der Meinungsfreiheit passiert. Polizeibeamten besuchten den früheren Universitätsprofessor Norbert Bolz, um Beweismittel in einem Fall von mutmaßlicher Volksverhetzung sicherzustellen. Wissentlich, aber Bolz eigener Aussage nach in Unkenntnis der Tragweite, hatte der 72-Jährige eine verbotene Nazi-Parole in Umlauf gebracht.

Zur geplanten Durchsuchung der Wohnung des Publizisten kam es nicht, weil Bolz seine Urheberschaft am Zitat aus einem Tucholsky-Gedicht einräumte. Die Polizisten führen daraufhin noch eine kurze Gefährderansprache vor, erledigt. Doch keine 72 Stunden später erwischte es den nächsten namhaften Onliner.  

Zweiter prominenter Fall 

Auch Ruprecht Polenz, ehemals Generalsekretär der CDU und aus dem Ruhestand heraus bekanntester Influencer der Grünen bei Elon Musks Plattform X, wurde wegen des gleichlautenden Zitats bei der Aufsichtsbehörde Hessenhetzt angezeigt. Obschon zwei Jahre alt, gilt der Kommentar des 79-jährigen Meinungsführers des Klimaflügels der Union als nicht verjährt. 

Wegen der Verwendung einer nationalsozialistischen Parole, die gegen das Verbot, Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen zu verwenden, verstößt (§ 86a StGB), droht dem ehemaligen Politiker eine Verurteilung. Eine Haftstrafe muss Polenz allerdings wohl nicht fürchten. Für die Höhe der Strafe dürfte die Geldstrafe von 13.000 Euro beispielgebend sein, die im vergangenen Jahr gegen den AfD-Politiker Björn Höcke verhängt worden war. 

Gelöschter Tucholsky 

Die Signalwirkung wäre auch damit gegeben. Direkt nach den ersten Nachrichten über das entschlossene Vorgehen der Behörden gegen Norbert Bolz reagierten Internetaktivisten, indem sie Tucholskys Gedicht beim Online-Lexikon Wikipedia löschten. Eine andere Seite zeigt derzeit noch eine ganze Reihe von verbotenen Parolen. Doch mittlerweile spricht sich herum, dass die frühere Faustregel, nach der ein "Hl Htlr" oder "Sg Hl" etwa ein Monatsgehalt kostet, hinfällig ist.

In München, ehemals die "Stadt der Bewegung" hatten Staatsanwaltschaft und Gericht neue Saiten aufgezogen: "Um jeden Anschein einer Wiederbelebung derartiger verfassungswidriger Bestrebungen in Deutschland zu vermeiden", erhöhten sie die Strafe für einen angetrunkenen Rufer auf zwei Monatsgehälter.

Es tut sich was im Kampf gegen den Eindruck, der Staat schaue zu oft nur zu, weil es ihm an Entschlossenheit mangele, der Anfänge zu wehren. Das demonstrative Vorgehen gegen Bolz und Polenz ist dabei nur ein kleiner Teil einer strengeren Strategie bei der Verfolgung von Hetzer, Wiederbelebern, Steuerhinterziehern und Überbesitzenden. 

Handlanger von Betrügern 

Finanzminister Lars Klingbeil etwa preschte beim Kongress der Chemie-Gewerkschaft IGBCE mit einer Attacke gegen die steuerberatenden Berufe vor, denen er vorwarf, einer bestimmten Klientel als Komplizen bei deren Versuchen zu dienen, den Staat um seinen Anteil an der Wertschöpfung zu bringen. "Da gibt es genug oder einige, die den Staat auch in der Lage sind systematisch zu betrügen, weil sie sich die teuersten Berater leisten können und Steuersparnisse erkaufen oder nie Steuern bezahlen", warf der SPD-Chef Steuerberatern, Steuerkanzleien und Lohnsteuerhilfevereinen den Fehdehandschuh hin. 

Einen Unterschied zwischen legaler Steuervermeidung durch Nutzung der - wenigen - noch verbliebenen Anrechnungsmöglichkeiten von Aufwendungen und Steuerhinterziehung kann Lars Klingbeil nicht mehr machen. Zu groß sind die Löcher im Haushalt, zu erschreckend die Aussichten für die nächsten Jahre. Selbst einem studierten Politologen, der noch nie im Leben ein Ministerium geleitet hat, schwant angesichts der wirtschaftlichen Perspektiven, dass neue Einnahmequellen erschlossen werden müssen, um wenigstens den starken Staat vital zu halten.

Neue Einnahmen durch umgekehrte Beweislast 

Populistische Parolen gegen Helfershelfer von legalen Steuersparern können dabei helfen, zumindest so lange sich Bundeskanzler Friedrich Merz den Forderungen der SPD verschließt, mit höheren Steuern auf die wachsenden Herausforderungen zu reagieren. Doch auch Alexander Dobrindt, Klingbeils Kollege im Innenressort, hat entsprechende Ideen präsentiert. "Ich arbeite an einem Gesetz, das eine Beweislastumkehr vorsieht", erklärte der Minister den Sendern RTL und ntv. Wer die legale Herkunft seiner Rücklagen nicht nachweisen könne, dem drohe künftig eine "vereinfachte Einziehung". 

Vorbild ist hier der § 73 StGB, der bisher im Falle von Straftaten greift: Haben Täter Vermögenswerte durch eine rechtswidrige Tat etwas "erlangt", heißt es im Gesetz, "ordnet das Gericht dessen Einziehung an". Voraussetzung ist bislang, dass eine Anklage erfolgt und ein Urteil fällt, nachdem bewiesen worden ist, dass eine Schuld vorliegt.  Nach Dobrindts Beweislast-Plan soll das bald nicht mehr nötig sein. Dank der neuen, von Union und SPD im Koalitionsvertrag vereinbarten Beweislastumkehr würde der Verdacht einer  "unklaren Herkunft" von Vermögen ausreichen. Besitzer wären dann verpflichtet, einen schlüssigen Nachweis vorzulegen, dass ihr Erspartes legal erworben wurde. Anderenfalls fiele es an die Staatskasse.

Abschaffung der Unschuldsvermutung 

Diese Abschaffung der Unschuldsvermutung, die bisher noch als eines der Grundprinzipien eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens gilt, wird im politischen Berlin als innovativer Schritt heraus aus der staatlichen Lähmung gesehen. Der Verdacht "illegal erlangten Reichtums", hat Sachsens CDU-Finanzminister Christian Piwarz vorgeschlagen, würde reichen, um Besitzer unter Rechtfertigungsdruck zu setzen. Gelingt ihnen der Nachweis eines legalen Erwerbs nicht, käme das Vermögen ohne weitere Umstände der Allgemeinheit zugute. 

Dafür ein zentrales Stück Erbe der europäischen Rechtsphilosophie zu opfern, das seit der Aufklärung als unerlässlicher Bestandteil des modernen Rechtsstaates eingeschätzt wurde, ist kein zu hoher Preis, weil die Koalition eine grundrechtewahrende Neuregelung plant. Nach Art. 11 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948, an der sich die Väter - und Mütter des Grundgesetzes orientierten, ist "jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, solange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist." 

Dabei, dass der Beschuldigte nicht seine Unschuld, sondern die Strafverfolgungsbehörde seine Schuld beweisen muss, bleibe es künftig. Allerdings nicht im sogenannten Besitzbereich, den weder die Vereinten Nationen noch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) oder das Grundgesetz eigens erwähnen. Weil der eben, so heißt es im politischen Berlin, eben nie mitgemeint gewesen sei.


3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Die Herkunft der Geldbündel in den Portemonnaies von Teestuben- und Shishabargästen steht ja sicher nicht zur Diskussion.

Anonym hat gesagt…

Hahaha, genau so isses. Da üben sich die hochbezahlten Nieten in Zurückhaltung. Man will ja kein Goldstück beleidigen.

Anonym hat gesagt…

Das wäre auch keine gute Idee, weil diese Leute auch einen kleinen Teil ihrer "Einnahmen" gerne in hochpreisige Produkte der deutschen Automobilindustie investieren. Sicher, als Laie könnte meinen, daß etwas nicht stimme, wenn es in sonst völlig heruntergekommenen Stadteilen an Luxusfahrzeugen wimmelt - aber das sind bestimmt nur Vorurteile aus Unkenntnis der wahren Segnungen der EU..