Dienstag, 18. November 2025

Armut immer schlimmer: Comeback der roten Jacke

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Eigentlich hatte die als "Mädchen mit der roten Jacke" bekanntgewordene Anna-Lara ihren Job als Gesicht der deutschen Kinderarmut aufgeben wollen. Doch nachdem nun schon jedes siebte satt nur jedes fünfte Kind betroffen ist, ist sie wieder gefragt.

Sie saß schon als Beispiel für jedes fünfte deutsche Kind auf diesem verrosteten Geländer. Sie klagte nicht, als alles schlimmer wurde, und sie stellvertretend für jedes sechste deutsche Kind hinaufklettern musste. Und jetzt, wo sogar jedes siebte Kind in Deutschland als armutsgefährdet gilt, weil die Zahlen sich gegenüber dem Vorjahr sogar verschlechtert" haben, wie das frühere Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" besorgt berichtet, ist das Mädchen mit der roten Jacke natürlich auch wieder da. Den aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamts ist sie eins von 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die von Armut betroffen sind. Innerhalb von nur Tagen hat sich die Zahl damit fast verdoppelt.  

Rückzug in die Rente 

Im Oktober noch war Anna-Lara, geboren und aufgewachsen im sächsischen Halle, sicher gewesen, nicht mehr gebraucht zu werden. Die von Schwarz-Rot bewirkte Stimmungswende zeigte erste Erfolge. Aus dem Kanzleramt drangen Nachrichten über ganze Stapel von Investitionsangeboten internationaler Unternehmen, die nur noch "geordnet" (Friedrich Merz) werden müssten. Auch Anna-Lara, die die Rolle als Gesicht der deutschen Kinderarmutsmisere länger als ein Jahrzehnt gespielt hatte, sah hoffnungsfroh in die Zukunft. 

Der Investitionsbooster. Die neuen Abschreibungsfristen. Schließlich der Industriestrompreis und die Senkung der Ticketsteuer für Flugreisende - welcher Investor würde der Verlockung widerstehen können, den Standort Deutschland wiederzuentdecken? Armut, sagte Anna-Lara in einem großen Abschiedsinterview, spiele kaum mehr eine Rolle in der gesellschaftlichen Mediendebatte. Man habe nicht nur sie als Symbol einer jahrelang liebevoll gepflegten Kinderarmutskrise aus Zeitungen und von  Internetseiten verdrängt, sondern das gesamte Thema in aller Stille beerdigt.

Mit weniger gefährdet

Lange ging ohne das Mädchen in der roten Jacke nichts in Sachen Armut.
Anna-Lara war es zufrieden. Sie studiert inzwischen Politikwissenschaften, hofft auf einen Job im politischen Berlin oder als aktivistischer Berater in einer NGO. Doch nun ist der Anteil der armutsgefährdeten Kinder trotz aller Bemühungen wieder gestiegen: 15,2 Prozent aller noch nicht Musterungspflichtigen verfügen über weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens. 

Das lag im Erhebungszeitraum 2024 für eine alleinlebende Person bei 1.381 Euro pro Monat. Ein Alleinerziehenden-Haushalt mit einem Kind unter 14 Jahren galt im vergangenen Jahr mit weniger als 1.795 Euro Nettoeinkommen im Monat als gefährdet. Haushalte mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren zählten mit Gesamteinnahmen von 2.900 Euro dazu.

Ein starker Rückgang  

Erschütternd ist die Tendenz. 2022 hatte noch fast jedes fünfte Kind unter 15 Jahren in Haushalten gelebt, die über ein Einkommen unterhalb der Armutsgefährdungsgrenze verfügten. Drei Jahre später ist es schon jedes siebte Kind, das als armutsgefährdet gilt. Ein starker Rückgang seit dem Sommer, als die Bundeszentrale für politische Bildung die erschütternde Zahl von rund drei Millionen Kinder und Jugendliche melden musste die, "von relativer Armut bedroht" seien. 

Relativ. Absolut. Real. Deutschland steht im Vergleich zum europäischen Durchschnittswert von 19,3 Prozent zwar "besser da" (DPA). Doch ein Jahr zuvor habe "der Anteil erst 14 Prozent betragen", ein weiteres Jahr früher waren es 15 Prozent, noch ein Jahr davor ebenfalls, das entsprach damals jedoch nur einer Gesamtzahl von 1,5 Millionen Kindern. Oder aber, wie Forscher errechneten, "mehr als jedem fünften Kind". 

Bedroht statt betroffen 

Sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, mehr ist es immer und noch viel schlimmer. Seit vor 20 Jahren beschlossen wurde, den bis dahin verwendeten Begriff "von Armut betroffen" durch "von Armut bedroht" zu ersetzen, geht es mit den Zahlen durcheinander, aber die Botschaft ist klar. 1995 lebten in Deutschland noch rund 2,8 Millionen Kindern unter 15 Jahren in Armut, was jedem fünften Kind entsprach. Heute sind es 2,2 Millionen, die "bedroht" sind. Jedes siebte Kind. Ein steiler Anstieg, verursacht womöglich durch einen Anstieg der Geburtenrate auf das niedrigste Niveau seit damals.

Musste früher weniger als 50 Prozent des Nettoäquivalenzeinkommens haben, wer arm sein sollte, greift die statistische Erfassung heute bereits bei weniger als 60 Prozent. Niemand muss arm sein, um arm werden können. Und kein Staatenlenker könnte ruhig schlafen, würde er nicht den Kampf gegen Armutsgefährung zur Chefsache machen. "Von Armut bedroht" zählt nicht mehr die Armen, sondern all jene, die arm werden könnten. Ein Geniestreich, der einen neuen Markt erschloss, in dem eine ganz neue Zielgruppe auf Hilfe wartet. 

Immer mehr weniger 

2005 noch lag die deutsche Armutsgrenze von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens bei 736 Euro pro Monat, heute hat sie sich durch gestiegene Löhne und Gehälter fast verdoppelt. Doch ausgerechnet neue Reichtum zog statistisch immer mehr Bürger in die Armutsfalle: 2006 war jedes sechste Kind in Deutschland von Armut betroffen, heute ist es schon jedes siebte. Das Allzeithoch von 2023, als mit drei Millionen Kindern "mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland dem Bericht der Paritätischen Wohlfahrt zufolge von Armut betroffen" war, ist mit 2,2 Millionen deutlich übertroffen.

Für Anna-Lara, die ihr Bild jetzt seit Jahren endlich wieder in einem Leitmedium sah,  ist es ein trauriger Tag. Sie ersinne sich noch, wie der Fotograf ihr damals die rote Jacke übergezogen habe, weil er mit seiner Bildsprache an Steven Spielbergs großes Epos "Schindlers Liste" erinnern wollte, in dem ein kleines Mädchen in einem roten Mantel eine bedeutende Rolle gespielt hatte. Niemals habe sie damals gedacht, dass den Kampf gegen Gefährdung und Betroffenheit ein so langer sein werden. "Wir wollten aufrütteln und dachten, es tut sich dann was", sagt sie desillusioniert.


1 Kommentar:

Die Anmerkung hat gesagt…

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