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Das berühmte Mädchen mit der roten Jacke galt deutschlandweit ein Jahrzehnt lang als erbarmungswürdiges Symbol wachsender Armut. |
Dass die Armut wuchs und immer schlimmer wurde, gehörte zum Selbstbild eines Landes, dem es besser ging als jemals zuvor. Dass jeder Fünfte, wenig später aber schon jeder Sechste oder sogar Siebte von Armut betroffen war, ernährte zuverlässig nicht nur Behörden, sondern auch Armutsbekämpfungsorganisationen und große Medienhäuser. Unfreiwilliger Wohlstandsverzicht wurde nicht als wichtiger Beitrag zu Nachhaltigkeit gesehen, sondern als Versagen eines Gesellschaftsmodells, das entgegen aller Beteuerungen auf den Leistungsgedanken setzt.
Gesicht der Misere
Das Gesicht der Misere war das berühmte Mädchen mit der roten Jacke, ein armes, unschuldiges ostdeutsches Kind, das inmitten eines Armenghettos in einem besonders abhängten Gebiet der neugeschaffenen blühenden Landschaften saß. Hoffnungslos. Als Heimat nur ein kaltes, verrostetes Eisengeländer im "sächsischen Halle".
Anna-Lara hat ihre Karriere als Sinnbild der in Deutschland grassierenden Armut später selbst beklagt. Von ihrer drogensüchtigen Mutter zu den Aufnahmen gezwungen, habe sie sich später missbraucht gefühlt, sobald wieder eine Berichterstattungswelle losbrach, die die unhaltbaren Zustände beim Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich mit ihrem Foto anprangerte.
Mit kaputter Puppe
Die Armutsaktivistin, die ihre kaputte Puppe heute noch besitzt, hatte jahrelang Hochkonjunktur als fürchterliche Fratze des Versagens der Marktwirtschaft beim Versuch, ein gerechtes Regime zu errichten, das keinen Hunger, keinen Fachkräftemangel und keinen Pflegenotstand kennt. Später als Teenagerin gestand sie, dass sie gut leben könne, ohne als das berühmte "Mädchen in der roten Jacke" erkannt zu werden.
Doch jetzt quält die inzwischen 25-jährige Studentin der Politikwissenschaften eine ganz andere Sorge: Armut, sagt sie, spiele kaum mehr eine Rolle in der gesellschaftlichen Mediendebatte. "Man hat nicht nur mein Bild aus den Zeitungen und von den Internetseiten verdrängt, sondern das gesamte Thema in aller Stille beerdigt."
PPQ: Anna-Lara, die Bundesregierung möchte den Sozialbetrug bekämpfen und den Bürgergeldanspruch verschärfen, um Armut zu verringern. Halten Sie diese Maßnahme für richtig?
Anna-Lara: Ich war immer dafür, dass die unrechtmäßige Inanspruchnahme von Sozialleistungen konsequent bekämpft wird. Aber was ist unrechtmäßige Inanspruchnahme? Worüber reden wir da? Fragen Sie ganz rechts, da wird dieses Problem instrumentalisiert, um einen Abbau des Sozialstaates zu rechtfertigen. Fragen Sie ganz links, da wird man Ihnen sagen, dass jeder Anspruch auf alles hat. Als Armutsaktivistin bin ich skeptisch beiden Ansichten gegenüber. Geben Sie den Menschen nicht mehr Geld, obwohl die Preise im Supermarkt steigen, dann wächst die Unsicherheit. Dann profitieren die Rechten. Geben Sie ihnen, was sie brauchen, profitieren die Rechten auch, weil die, die nicht Bezug sind, glauben, es handele sich um Missbrauch.
PPQ: Was wäre denn die Alternative?
Anna-Lara: Man müsste stattdessen mehr auf eine gerechte Verfolgung von Verstößen achten. Es wird ja schon lange gefordert, auch Steuerhinterziehen heranzuziehen, damit nicht der Eindruck entsteht, nur unten würde der Staat ausgenutzt und oben nicht. Dabei wissen wir doch, dass Menschen in allen Einkommensklassen kriminell werden, wenn sie sich einen Vorteil davon versprechen und zugleich wissen, dass sie nicht erwischt werden. Die Kriminalität der Oberschicht ist sicher nicht geringer als die der Armen, aber von denen gibt es naturgemäß mehr. Darum fällt es leichter, das in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen.
PPQ: Wie würden Sie denn die Diskussion führen?
Anna-Lara: Gar nicht. Müssen wir denn immer über Steuerbetrug und Sozialmissbrauch reden? Und die Gesellschaft spalten? Heute Hetze gegen angebliche Clans, morgen Hetze gegen deutsche Einzeltäter oder ausländische Banden, dann wieder Kritik an kreativen Steuergestaltern. Egal, was es ist, die AfD ist dankbar. Ob jetzt Merz vom Stadtbild spricht und dann auch noch darauf beharrt oder seine Gegenspieler behaupten, es gebe gar kein Stadtbild. So kommen wir doch nicht weiter.
PPQ: Finden Sie es denn richtig, dass sich die Koalition dazu durchgerungen hat, das Bürgergeld wenigstens umzubenennen?
Anna-Lara: Nicht wird so heißt gegessen, wie es gekocht wird. Die Koalition hat ja klargemacht, dass durch die Umbenennung kaum Geld gespart werden wird. Das heißt auf der anderen Seite, dass es den Armen im Land weiterhin nicht ans Portemonnaie gehen wird. Wenn ich das richtig verstanden habe, bleibt es bei den im Vergleich zu anderen Staaten großzügigen Sozialleistungen. Das kann man glauben oder nicht, auf jeden Fall werden wir in ein, zwei Jahren schlauer sein.
PPQ: Sie rechnen damit, dass sich nicht so viel ändern wird?
Anna-Lara: Davon können wir ausgehen. Es ist ja von den Linken, von den Grünen und der SPD, aber auch von vielen Armenorganisationen nachgewiesen worden, dass die Kosten gar nicht aus dem Ruder laufen. Das hat der Bundespräsident zwar kürzlich behauptet, aber wenn man die Höhe der Sozialausgaben ins Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt oder zum Bundeshaushalt setzt, dann spart sich unser Staat seit Jahren gesund. Gleichzeitig fehlt es nicht an Solidaritätserklärungen für die seit Monaten so populäre hart arbeitende Mitte, der man Steuererleichterungen und einen Abbau der Bürokratie, billige Führerscheine und mehr Digitalisierung verspricht. CDU, CSU und SPD haben zwar keine Senkung der Stromsteuer für alle beschlossen, aber eine für Unternehmen. Man hofft wohl, dass dann etwas vom Tisch herunterfällt, das bei den sogenannten Leistungsträgern landet.
PPQ: Das lehnen Sie ab?
Anna-Lara: Das überzeugt mich nicht. Wenn wir unsere früheren Jahre anschauen, da war das Thema Armut ein ganz großes. Heute ist jeder Fünfte von Armut betroffen, aber auch jeder Sechste. Bei Jugendlichen ist es jeder Vierte, aber bei Kindern sogar jedes Siebte. Das mediale Echo aber ist beklemmend leise. Man macht sich lieber Sorgen um die Industrie, die Autobauer, die Gastronomie und den Einzelhandel. Wer soll denn aber die Waren und Autos kaufen und wer soll denn in den Gaststätten einkehren, wenn jeder Vierte, Fünfte, Sechste oder sogar Siebte kein Geld in der Tasche hat?
PPQ: Alles wird teurer, aber alle haben weniger Geld, auch der Staat. Der Finanzminister sagt ja, dass es in den kommenden Jahren noch enger wird im Haushalt.
Anna-Lara: Noch enger? Soweit mir die Zahlen bekannt sind, ist der Staat einer der wenigen Profiteure der Entwicklung, die mit Corona angefangen hat und mit dem Krieg in der Ukraine weiterging. Seine Einnahmen steigen und bei allem Jammer darüber, dass es trotzdem an allen Ecken und Enden nicht reicht, ist doch klar, dass den Kleinen viel schlechter geht und vielen Großen auch nicht mehr gut. Ist das fair und gerecht? Wissenschaftler wie der bekannte Starökonom Marcel Fratzscher bringen dann eine Ungerechtigkeit zwischen den Generationen ins Spiel, um von der Grundfrage abzulenken: Wohin verschwindet das ganze Geld? Wer hat es denn am Ende? Sind es wirklich die Babyboomer, die sich alles einstecken?
PPQ: Was meinen Sie?
Anna-Lara: Aus meiner Erfahrung als Armutsaktivistin über viele, viele Jahre hinweg kann ich sagen, dass die soziale Trennlinie in unserem Land nicht zwischen Jung und Alt, sondern zwischen Arm und Reich verläuft. Manche erben, andere nicht. Manche arbeiten, andere nicht. Manche gewinnen im Lotto oder an der Börse, andere spielen weder noch haben sie Geld angelegt. Es ist ein soziales Roulette, bei dem Millionen Kinder von Bürgergeld leben, andererseits aber einige Kinder Millionen erben. Ist es gerecht, dass Menschen ein Leben lang arbeiten und am Ende ihres Lebens alles dafür ausgeben müssen, im Pflegeheim wenigstens ein Einzelzimmer zu haben? Oder ist es gerecht, dass Politiker sich selbst eine steuerfreie Pauschale genehmigen, zugleich aber fleißigen Sparern ein Viertel vom Gewinn abknapsen?
PPQ: Ist es nicht gerecht? Jeder kann doch Politiker werden oder an der Börse spekulieren.
Anna-Lara: Oder Pfandflaschen sammeln! Aber Vorsicht, auch daraus werden Steuern fällig, wenn jemand zu fleißig und zu erfolgreich sammelt! Ich habe nichts gegen Leute, die es geschafft haben. Aber es sollte doch eine gewisse Grenze geben für Reichtum, der einem Einzelnen gehört. Wenn Dieter Schwarz, der reichste Mann der Republik, von seinem Privatvermögen von 46,5 Milliarden Euro ein paar Euro abgeben würde, was würde ihm denn fehlen?
PPQ: Er müsste dazu einige seiner Läden verkaufen. Wer würde die dann weiterbetreiben?
Anna-Lara: Das ist eine spitzfindige Frage. Klaus-Michael Kühne, hinter Schwarz der zweitreichste Deutscher, kassiert jedes Jahr Dividenden in mehrfacher Milliardenhöhe. Wäre er nicht in die Schweiz verzogen, könnte der Staat mit den 25 Prozent Kapitalertragsteuer auf seine Erträge viel Gutes tun. So aber muss er die Steuern erhöhen und mehr Schulden machen.
PPQ: Je höher die Steuern, desto mehr Reiche ziehen weg. Ein Teufelskreis.
Anna-Lara: Man sollte dagegen vorgehen, denn das trocknet den Kitt der Gesellschaft aus. So lange es nicht gelingt, Armut wieder zum Generalthema zu machen, weil mehr als fünf Millionen sich das Heizen nicht mehr leisten können, wird die Politik solche Probleme weiter moderieren, aber nicht lösen. Der Ruf nach grundlegenden Reformen bei Rente, Sozialkassen, Pflege und Mobilität ersetzt den ertüchtigten Sozialstaat, den wir bräuchten, um die Angst vor der Armut im Alter, aber auch die Angst der Jungen vor der Armut im ganzen Leben zu bekämpfen.
PPQ: Reformen sind das eine, aber ihre Bezahlbarkeit steht auf einem ganz an deren Blatt.
Anna-Lara: Jaja, es muss sich immer rechnen. Das Gebet kennen wir. Wie die Sozialausgaben ist auch der Bundeszuschuss zur Rente in den vergangenen 20 Jahren in Relation zum BIP und zum Staatshaushalt gesunken! Das hat mit der Rüstung zu tun, aber auch mit einem Staatsapparat, der immer kostspieliger wird, weil er als lender of the last resort Jobs schaffen muss, um die wegfallenden Stellen anderswo aufzufangen. Es gibt kein Patentrezept, um unsere Probleme zu lösen. Aber wir müssen endlich damit anfangen.
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