Sonntag, 21. April 2024

Die magische Steinmeier-Formel: Wir gewinnt

Die magische Steinmeier-Formel: Aus der "Anstrengung gemeinschaftlichen Handelns erwächst politische Kraft", wenn das "unser Wir einer vielfältigen Gesellschaft" neu erkennt, "was sie verbindet".

Wie hat er das nur wieder auch noch geschafft. Mitten in der Zeitenwende, beständig unterwegs als Friedensstifter, Vermittler und Verbinder, hat Bundespräsident Walter Steinmeier dennoch einen Moment gefunden, ein neues Buch zu schreiben: Nach "Mein Deutschland - Wofür ich stehe", "Flugschreiber: Notizen aus der Außenpolitik in Krisenzeiten", "Ja, wir sind verwundbar" und "Es lebe unsere Demokratie" widmet sich "Wir" dem titelgebenden Nationalgefühl. Kollektive Wärme. Der Wunsch nach geistiger Enge. Zusammenrücken als Bürgerpflicht. Sein Buch, sagt der Bundespräsident selbst, sei ein "Plädoyer dafür, den Staat nicht prinzipiell als Feind zu sehen", denn "gerade eine moderne Gesellschaft braucht einheitsstiftende Institutionen."

Mutige Worte von einem, der es weiß

Mutige Worte in Zeiten, in denen das Vertrauen der Politik in die Bevölkerung bröckelt, in denen der Verfassungsschutz sehr viel genauer hinschauen muss und selbst eine fein ziselierte Landschaft aus Meldeportalen, neuen Meinungsfreiheitsschutzbehörden und erweiterten Verstoßrichtlinien nicht ausreicht, die ursprünglich geplante Zahl von 250.000 digitalen Hassverdachtsfällen zu liefern. Überall Querdenker, Hetzer, Hasser, Zweifler, Skeptiker und Abweichler. 

Höchste Zeit, diesen allen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Mein Staat als Freund und Geliebte. Ganz nah ist Steinmeier da beim ehemaligen CDU-Politiker Thomas de Maiziere, der deutlich gemacht hatte, dass es keine Bereiche geben dürfe, "auf die der Staat keinen Einfluss hat". Dabei hat er doch in der Pandemie gezeigt, dass er unveräußerliche Freiheiten nur einschränkt, wenn er es für nötig hält. Und die starke Hand der Staatsbürokratie, die das galant auf dem Verordnungsweg erledigt, unbedingten Gehorsam wertschätzt, indem sie Grundrechte auch zurückerstattet, wenn es nicht mehr anders geht.

Der unbequeme Geist

Steinmeier, ein unbequemer Geist, der sich in der "Tagesschau"-Hauptausgabe schon einmal selbst begeistert zuschaut und zuhört, wurde nach seiner gescheiterten Kanzlerkandidatur als Schneeeule der Arbeiterbewegung, als Luftballonverkäufer und "Teflonpfanne" verhöhnt. Dennoch wurde er als erster verurteilter Verfassungsbrecher Bundespräsident - und das gleich zweimal.

So einem gehört der gute und liebende Staat nicht allein, "aber der Staat gehört dazu", sagt der frühere Sozialdemokrat, der seine Parteimitgliedschaft symbolisch ruhen lässt, um auf den 142 Seiten seiner Hymne an das "Wir" überparteilich fragen zu können: "Woher kommen wir? Wo stehen wir? Wer sind wir – und wer können wir sein?" Elf Jahre nach der "Wir"-Wahlkampagne seiner Partei knüpft der 69-Jährige im Suhrkamp-Bändchen an die Parolen von damals an. Das "Wir" gewinnt, wenn es den Gleichschritt lernt und die Dankbarkeit dafür, dass das Wir über allem schwebt und nach bedingungsloser Gleichheit strebt. 

Die Menschen, die die SPD damals ansprach, einfache Leute aus der arbeitenden Mitte, die sich nach Betreuung und Fürsorge sehnten, sind heute die, die den neuen Steinmeier lesen sollen, um etwas über den 75. Geburtstag des Grundgesetzes und den 35. des Mauerfalls zu lernen, zwei historische Ereignisse, die wegen "internationaler Krisen und Aufgaben der wirtschaftlichen Transformation nicht mit ruhiger Selbstzufriedenheit" gefeiert werden können. Worte wie Donnerhall. "Unsere Gesellschaft" (Steinmeier), stehe "unter Stress, das Vertrauen in die Politik leidet, der Ton wird schärfer, Populisten stellen die liberale Demokratie infrage".

Tief beeindruckte Leser

Da ist er aber immer noch. Ehe sein Büchlein ganz vorn in den Bahnhofsbuchhandlungen und draußen an den Zeitungsbüdchen der Republik auftaucht, sind die ersten Leser tief beeindruckt. "Nur 142 Seiten, die jedoch entwickeln eine verblüffende Wucht", lobt die Augsburger Allgemeine. Die "Zeit" sieht ein Wert, "sie alle zu therapieren" und der Kölner Stadtanzeiger, der die eigenen Reihen gerade säubert, liest den Aufruf zu einem  "neuen Patriotismus" aus dem "eindringlichen Plädoyer des Bundespräsidenten für mehr Zusammenhalt und für den Mut, zu handeln" (Verlagswerbung). 

Dass ihm einzelne durchaus namhafte Adressen auch vorwerfen, eine gefühlte "westdeutsche kulturelle und historische Hegemonie" fortzuschreiben, bestätigt die Diagnose des zwölften Bundespräsidenten nur in seinem Entschluss, sich in dieser kritischen Zeit mit einer Erinnerung an "Wegmarken und Erfahrungen, die Deutschland in 75 Jahren geprägt haben" zu Wort zu melden und "unangenehme Wahrheiten, vor allem aber die Stärken des Landes" zu beleuchten.

All die gebrochenen Versprechen

Ja, viele haben das Gefühl, dass nichts mehr funktioniert wie früher. Ja, selbst Wohlwollende kommen nicht umhin, dem Verfall des Wohlstandes entsetzt zuzuschauen. Infrastrukturapokalypse. Regierungsstreit. Überall diese Fragen: Wo sind die Fachkräfte hin? Die Milliarden und Abermilliarden? Die Tatkraft?  Die gebrochenen Versprechen? Steinmeier, der in Kürze selbst in ein neugebautes Provisorium ziehen muss, weil sein eigenes Schloss einer Grundsanierung unterzogen werden muss, fungiert in seinem Essay als Gefühlserklärer der Nation, die keine sein möchte. Niemand spürt wie er, wie die Lage ist. Wer sie zu verantworten hat. Und warum.

Walter Steinmeier wirbt hier mutig für die Anstrengung gemeinschaftlichen Handelns, aus dem politische Kraft erwächst, für den Mut, sich ehrlich zu machen und bei der führenden Rolle der Bedeutung bei der Durchsetzung der Beschlüsse aufzustehen, statt sich wegzuducken. "Unser Wir ist das einer vielfältigen Gesellschaft geworden, die neu erkennen muss, was sie verbindet", legt der frühere Geheimdienstkoordinator den Finger in die Wunde. Die magische Steinmeier-Formel: Aus der "Anstrengung gemeinschaftlichen Handelns erwächst politische Kraft", wenn das "unser Wir einer vielfältigen Gesellschaft" neu erkennt, "was sie verbindet".


3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

"Wegmarken und Erfahrungen, die Deutschland in 75 Jahren geprägt haben"
Mir fallen da 2 Wegmarken ein.
1. Steinmeiers schönes Foto vom Maidan, wo er mit Jazenjuk jubelnd den Arm hochreist. Der Anfang von unserem wirtschaftlichen Sturz in den Abgrund, rückblickend gesehen.
2. Karl Lauterbach, wie er, dreckig grinsend, ein Kind in den Arm impft. Besser hätte es auch Mengele nicht hingekriegt.

Die Anmerkung hat gesagt…

zu "Wir"
von amazon

#2 Am häufigsten verschenkt in Erster Weltkrieg

Anonym hat gesagt…

Irgendwie hat der Titel so einen ausschließenden Charakter. Denn wo es ein "Wir" gibt, muss es denknotwendig auch ein "Nicht-Wir" geben von Leuten, die nicht zum "Wir" gehören. Das ist wie bei "unserer Demokratie", die die Haltungszeiger tagtäglich verteidigen und die mit der Demokratie, wie man sie kannte, nicht mehr viel zu tun hat. Da leistet der Präsident mal wieder einen Beitrag zur Spaltung.