Freitag, 3. Mai 2024

Der feuchte Traum der Überwacher: Hurra, die Vorratsdatenspeicherung ist da!

Damals berichtete der "Spiegel" noch kritisch. Heute gar nicht mehr. Der feuchte Traum der Überwacher: Hurra, die Vorratsdatenspeicherung ist da!

Endlich einmal Grund zur Freude im politischen Berlin! Immer ging zuletzt alles schief, stets scheiterten die größten Pläne. Kaum wusste irgendwer in der Regierung mal, was eigentlich müsste, ließ irgendein Kabinettskollege sofort wissen, dass so auf keinen Fall gehen werde. Nun aber feiern sie alle, die SPD etwas lauter, die ehemaligen Bürgerrechtsparteien FDP und Grüne mit zusammengekniffenen Lippen. Hurra, Hurra, die Vorratsdatenspeicherung ist da!

Hurra, die Vorratsdatenspeicherung ist da!

Wenn der Wolfgang Schäuble das noch hätte erleben dürfen. Oder Sigmar Gabriel! Oder der Heiko Maas! Die Vorratsdatenspeicherung, sie war der feuchte Traum so vieler, vieler Innenminister, die sich von ihr erwarteten, was DDR-Stasiminister Erich Mielke in seiner Ermahnung an seine Männer zusammengefasst hatte: "Genossen, wir müssen alles wissen!" Wer wen, wann und wo, mit wem und am besten auch warum. Vor zehn Jahren hatte Thomas de Maiziere die Wiedereinführung der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung in einem "Digitale Agenda" genannten Luftpaket versteckt, aber wieder war es schiefgegangen. Die Rechtslage. Die Grundrechte. Europa.

Nun endlich jedoch ist es von ganz oben bestätigt. Alles nicht so wild. Wer nichts zu verbergen hat. Das fällt ja alles auch unter den Datenschutz. Der Europäische Gerichtshof selbst, der dem guten Zweck der vollständigen staatlichen Überwachung immer im Wege gestanden hatte, straft sich selbst Lügen: Nun dürfen die Mitgliedstaaten der Werteunion, was sie schon immer wollten. Alles wissen. Alle speichern, auch ohne Verdacht und für alle Zeiten. Wissen ist Macht, mehr Wissen mehr Macht. Was man hat, das hat man. Wer weiß, wann man es einmal brauchen kann.

Im fünften Anlauf

Selbstverständlich wird die SPD, deren Interpretation der Grundrechte immer eine ganz eigene gewesen ist, nun alles dafür tun, dass die neue, nunmehr fünfte Vorratsdatenspeicherung im Einklang mit allen Vorstellungen des SPD-Vorstandes vom Schutz des Kerns der privaten Lebensführung steht. So sicher wie die deutsche Sozialdemokratie sich immer stark gemacht hat für ein betreutes Leben in fester Freundschaft mit dem russischen Volk, so entscheiden wird sie gewährleisten, dass IP-Adressen und übrige personenbezogene Daten getrennt werden, so dass "die Verwendung der Daten keine konkreten Rückschlüsse auf das Privatleben der Nutzer" zulässt.

Die Geheimdienste, womöglich sogar die deutschen, werden alle Informationen verfügbar haben. Dank der SPD aber ähnlich wie Facebook arbeiten: Reine Statistik, keine Gefahr, dass aus den gespeicherten Informationen keine Rückschlüsse auf das Privatleben der Menschen gezogen können. Beim besonderen Schutz der Daten von Minderjährigen, der dem Staat über viele Jahre hinweg aufgegeben war, hat das schon geklappt: Erst wurden die Daten gespeichert, obwohl es verboten war. Dann wurde es erlaubt.

Ein langer Atem

Es braucht einen langen Atem, die von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes errichteten Brandmauern zwischen staatlichen Allmachtsphantasien und Bürgerrechten zu schleifen. Der Staat ist hartnäckiger als alle seine Gegenspieler, er hat alle Zeit der Welt und die Geduld eines Giganten, der sich langsam bewegt, sein Ziel aber nie aus dem Blick verliert. 

"Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt", hat der frühere EU-Chef Jean-Claude Juncker vor 25 Jahren ganz offenherzig geschildert, warum behäbige, aber brutal effiziente Bürokratie immer über Bürgerrechte siegt. Sie kann nicht nur warten. Warten ist ihr Lebensinhalt.

Und Widerstand hat sie nicht zu befürchten. Medien interessieren sich kaum für den Dammbruch, ein glücklicher Zufall wollte es zudem, dass eine mögliche Aufregung über den anstehenden erneuten Einbruch in die Privatsphäre von Millionen Bürgerinnen und Bürgern abgefedert wird durch ein besonders perfides Manöver Russlands: Danach wurde justament im Augenblick der Verwandlung der EU in eine Staatengemeinschaft mit ausufernder Überwachung bekannt, dass der Kreml die mit ihm so eng verbündete SPD mit einer Cyberattacke angegriffen hat. Wohl um seinen eingeschworenen Verbündeten in der ehemaligen Arbeiterpartei zu signalisieren, dass es Zeit ist, ihre Position bei Taurus und Kollegen zu überdenken.

EU-Flüchtlingsbremse: Was kostet der Libanon-Deal?

Die Willkommenseuphorie in der EU ist nun  auch offiziell abgeebbt.

Keinen Deut besser ist die Lage geworden, seit über den Krieg in Syrien nicht mehr berichtet wird. Immer noch fliehen die Menschen zu Tausenden aus den Krisengebieten in Nordafrika, sie versuchen ihr Glück über die Türkei und die Balkanroute oder sie wagen die Fahrt übers Mittelmeer.  

Ende der offenen Arme

Doch die offenen Arme, mit denen Europa die auf dem Höhepunkt der Willkommenseuphorie als "Schutzsuchende" bezeichneten Neuankömmlinge begrüßte, sie sind verschränkt. Das Reich der Träume von einer besseren Zukunft hat die Türen geschlossen, es spricht jetzt wieder von "Asylbewerbern", statt den respektvollen Begriff "Geflüchtete" zu benutzen. Und nicht nur deutsche, sondern auch europäische Politiker überbieten einander im Wettbewerb um die strengsten Maßnahmen und das Abschieben "im großen Stil". 

Nach Verträgen zur Abschottung, die die EU bereits mit Tunesien und Marokko abgeschlossen hat, folgt nun ein sogenannter Milliarden-Deal mit dem Libanon. Von dort aus machen sich immer mehr Schutzsuchende auf nach Zypern, der zur EU gehörenden Mittelmeerinsel, deren eine Hälfte der Nato-Partner Türkei völkerrechtswidrig besetzt hält. Die Boote aus dem Libanon nehmen Kurs auf die demokratische Seite des Eilands, dessen Regierung seit Jahresbeginn rund 4.000 ankommende Bootsflüchtlinge gezählt hat – deutlich mehr als vor einem Jahr, als nur 78 angekommen waren.

Flirt mit dem rechten Rand

Und viel zu viele, geht es nach der EU-Kommissionschefin, die nach der EU-Wahl im Juni gern eine zweite Amtszeit antreten würde und dafür auch bereit ist, mit dem rechten Rand zu flirten, wie es die Rheinische Post nennt. Nicht mehr die Not derer, die ihre Heimat verlassen, soll zählen, sondern der Wille derer, die schon in Sicherheit sind. "Es sind wir, die Europäer, die entscheiden, wer nach Europa kommt und unter welchen Umständen", hat von der Leyen anlässlich der Unterzeichnung der Vereinbarung mit dem Libanon wissen lassen. Eine Milliarde Euro will sich die Gemeinschaft die Flüchtlingsbremse kosten lassen - das ist beinahe doppelt so viel, wie die britische Regierung Ruanda als Lohn für das gemeinsame Abschiebeabkommen versprochen hat.

Dabei geht es um einen "Zustrom" (Angela Merkel) in ähnlichen Größenordnungen. Großbritanniens Premier Rishi Sunak will mit dem Ruanda-Plan die Zuwanderung über den Ärmelkanal stoppen: 4.600 Bootsflüchtlinge kamen in diesem Jahr über die schmale Wasserstraße in das vom Brexit verheerte Inselreich. Für die ausgelobte Summe soll das zentralafrikanische Land mit seinen 13 Millionen Einwohnern 300 Asylbewerber aufnehmen - Sunak spekuliert dabei natürlich nicht darauf, dass er ein paar hundert Zugeströmte loswird, sondern darauf, dass niemand mehr nach Großbritannien aufbrechen wird, wenn er fürchten muss, nach seiner Ankunft in Ruanda aufzuwachen. 

Methode Abschreckung

Funktioniert diese Methode der Abschreckung, würden sich die Kosten nicht auf 1,8 Millionen Pfund pro abgeschobenem Schutzsuchenden belaufen, sondern nur auf rund 40.000. Zum Vergleich: 2022 kosteten die rund 540.000 Empfänger von sogenannten Asylbewerberleistungen in Deutschland die Staatskasse pro Person und Jahr 12.000 Euro. Schon nach vier Jahren würde Sunak sparen.

Die EU würde gern auch, in Deutschland zumindest prüft Innenministerin Nancy Faeser das Ruanda-Modell schon seit Monaten. Aber niemand traut sich, weil die lange Bank allen Beteiligten attraktiver erscheint als ein kurzer Prozess. Seit vor mehr als einem Jahr einmal mehr eine gemeinsame europäische Lösung beschlossen wurde, diesmal unter der Überschrift "EU-Asylreform", ist der 2019 beschlossene "provisorische Verteilmechanismus für Flüchtlinge" nicht mehr letzter Stand. Aber die "beschleunigten Grenzverfahren an den "Außengrenzen" - gemeint war natürlich außerhalb des EU-Gebietes - sind nicht nur medial einen stillen Tod gestorben, sondern einer Umsetzung auch keinen Millimeter nähergekommen.

Neidischer Blick nach London

Neidisch schauen sie aus Brüssel und Berlin nach London, wo die ersten Abschiebeflüge bereits in zehn bis zwölf Wochen abheben könnten, um eines jener Zeichen zu setzen, für die eigentlich die EU und ganz besonders Deutschland bekannt ist. Wer kommt, ist schnell wieder weg, signalisiert Sunak in der Hoffnung, dass Schutzsuchende sich ein anderes Zielgebiet suchen, vielleicht gleich nebenan. Im EU-Mitgliedsstaat Irland wissen sie schon, was gemeint ist. 

Mit ihrer als "Unterstützungspaket" (BWHF) bezeichneten Flüchtlingsbremse reagiert die EU auf ihre Weise: Die Gemeinschaft, wer auch immer genau, wird der Regierung eines Landes, in dem Menschen wie Sklaven gehalten, queer lebende Bürger verfolgt und Grundrechte missachtet werden, nach den Buchstaben des "Pakts der Schande" (FR) rund eine Milliarde Euro dafür zahlen, dass sie ihr den lästigen Zustrom von Verfolgten des syrischen Diktators Baschar al-Assad vom Leibe hält. 

Der Syrienkrieg ist medial tot

Der könnte seiner medialen Präsenz zufolge inzwischen auch tot sein - das Überangebot an fürchterlichen Figuren hat den vor zehn Jahren noch schrecklichsten Despoten der Welt fast so vollkommen zum Verschwinden gebracht wie den Syrienkrieg, der all das Leid und all die Fluchtbewegungen ausgelöst hat. 

Die EU hat ebenso wie Deutschland aus jede Anstrengung eingestellt, mit dem im vergangenen Jahr in die Arabische Liga zurückgekehrten Regime in Damaskus auf eine Lösung der gemeinsamen Probleme hinzuarbeiten oder gar über die Rückkehr der Geflüchteten oder überhaupt über irgendetwas zu reden. Aller paar Monate verhängt die EU rituell neue Sanktionen gegen namenlose Beamte, anschließend verlängert sie die gegen das Regime selbst, und das alles bringt genauso viel wie zuvor: Nichts.

Warum also nicht dem Libanon, wie Syrien Gründungsstaat der Arabischen Liga, eine Milliarde geben, um "das Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen" zu "stärken"? Warum nicht auch in Zeiten knapper Kassen dafür sorgen, dass die "Mittel für die Sicherheitsbehörden und die Streitkräfte" (DPA) des autoritären und korrupten Regimes "für den Kampf gegen Schleuserbanden" reichen?

Donnerstag, 2. Mai 2024

Zwei-Mann-Mob von Stolzenhagen: Waren es Klimakleber?

Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckhardt auf einem der ganz raren Fotos, die sie mit ihrem Klima-Fahrzeug zeigen. Im Brandenburgischen hinderte ein zwei-Mann-Mob sie jetzt an der Abfahrt. Abb: Aquarell Kümram

Nicht nur demonstrieren, sondern blockieren. Nicht mehr nur die eigene Meinung zu Markte tragen, sondern andere mit passiver Gewalt zwingen wollen, sich anzuschließen. Nicht mehr das eigene Leben ausrichten am eigenen Glauben, sondern das der gesamten Gesellschaft, wenn nicht freiwillig, dann eben mit sanftem Druck: Beinahe zwei Jahre lang verfolgte die Letzte Generation der Klimaprotestanten diese Strategie der Erpressung der Mehrheit durch renitente Aktionen. 

Der Körper als Waffe

Geschult am Vorbild etwa der revolutionären RAF machten die Aktivisten ihre Körper zur Waffe. Mit Hungerstreik und dem Festkleben auf dem Asphalt, aber auch mit der Strategie, den Rechtsstaat durch  illegale Protestaktionen herauszufordern, um ihn letztlich zu überfordern und damit zum Aufgeben zu  zwingen. Lange war das erfolgreich. Medien stürzten sich begierig auf die zumeist jungen und oft demonstrativ opferbereiten Teilnehmer an Klebeaktionen, Hungerstreiks und Gerichtsverfahren. Erst als sich der Nachrichtenwert der Aktionen verbraucht hatte, gab die Bewegung auf und verkündete wie so viele frühere engagierte Gruppe, nun auf den langen Marsch durch die demokratischen Institutionen gehen zu wollen.

Doch nicht alle wollen auf diese Weise aufgeben und den Kampf nur noch in den Parlamenten führen. Nach wie vor hungern einige unentwegte Aktivisten in Berlin für eine sofortige Klimarettung. Und auch in Brandenburg wendeten jetzt Demonstranten die bewährte Klimakleber-Strategie der Blockade an: Gezielt hinderten sie das Auto der wahlkämpfenden Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) an der Abfahrt aus dem kleinen Örtchen Lunow-Stolzenhagen im Oderbruch. Bereits zuvor war es im Umfeld der Veranstaltung zu einer Gegendemonstration und Störungsversuchen gekommen, berichtet die Bild-Zeitung. 

Wahrlich ein Herz für Proteste

Selbst Göring-Eckhardt, die aus der DDR-Bürgerbewegung kommt und wahrlich ein großes Herz für Proteste hat, wurde von den Ereignissen kalt erwischt. Vor dem Veranstaltungssaal hätten sich 40 bis 50 Menschen zu sogenannten "Gegenprotest" (Tagesspiegel) versammelt, die "Demonstrierenden" (Die Zeit) hätten die Spitzenpolitikerin nach der Veranstaltung auf dem Weg zu ihrem Fahrzeug bedrängt und dann an der Abfahrt gehindert.

"Mehrere Personen schlugen dabei in aggressiver Stimmung auf das Fahrzeug", teilte Göring-Eckardts Büro mit. Zwei 19 und 26 Jahre alte Aktivisten setzten sich zudem vor und hinter den Dienstwagen, so dass der "Mob" (Morgenpost) für eine gewisse Zeit die Kontrolle über die Situation übernahm. 45 Minuten lang wurde die frühere grüne Parteivorsitzende aufgehalten und daran gehindert, ihrer Arbeit nachzugehen.

Das Gleiche, ganz anders

Nach einer Mitteilung aus Göring-Eckardts Büro ist die Grenze des Zulässigen damit überschritten. Bei den Straßenblockaden der "Letzten Generation" seien zwar auch Verzögerungen entstanden und Rettungswagen blockiert worden. Doch weil die Aktivisten alles dafür getan hätten, dass sich Rettungsgassen bilden könnten, sei eine Debatte darüber müßig "angesichts der vielen Staus, die durch Autofahrer entstehen". 

Der Zwei-Mann-Mob von Lunow-Stolzenhagen habe mit einem ganz anderen Kaliber auf den gesellschaftlichen Frieden gefeuert: "Protest ist legitim, Bedrohung und Einschüchterung nicht." Es könne nicht sein, dass Demokratie-Veranstaltungen verhindert werden sollen. "Über Demokratie zu reden, muss überall möglich sein - auch auf dem Land, ob in Biberach in Baden-Württemberg oder in einem Dorf in Brandenburg."

Kalte Schultern für das Kalifat: Willkommenskultur zuschanden

Vorbei sind die Tage, in denen die Innenministerin die Frage nach der Zugehörigkeit des Islam als politischer Religion endgültig beantwortet hatte.

Sie waren noch nicht ganz von der Straße, da hatte Deutschland, da hatte vor allem das politische Berlin der Rechtspopulisten ein neues Lieblingsthema gefunden. Die Innenministerin forderte ein "hartes Einschreiten des Staates" und kündigte unverhohlen an, selbst "hart gegen Terrorpropaganda vorgehen" zu wollen. Der Bundeskanzler griff zur allerschärfsten Waffe: Er werde "Konsequenzen" prüfen, sagte Olaf Scholz und er fand offene Ohren überall. Nicht einmal die Taz widersprach. Nein, stattdessen griff das ehemalige Zentralorgan der Willkommenskultur zum Nazivergleich.  

Aufmarsch ohne Waffen

Unversehens waren die mehr als tausend Menschen, die mit ihrem islamistischen Aufmarsch in Hamburg nur von Artikel 8 Grundgesetz Gebrauch gemacht hatten, der alle Deutschen das Recht gibt, "sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln", Feinde von allem, was dem Rest der Gesellschaft so viel wert ist. Ein paar Meter im Kreis Gleichgesinnter reichten, um Menschen, die in anderen Zusammenhängen als "gebürtige Deutsche", "Hamburger" oder "Deutsch-Syrer" bezeichnet würde, auszugrenzen und zur Zielscheibe von gezielt geschürtem Volkszorn zu machen.

Dass in Hamburg, einer Stadt, die sich viel auf ihre Liberalität einbildet, 1.000 Islamisten für ihre Vorstellung einer funktionierenden Gesellschaft demonstrieren, wird als "erschreckend" gebrandmarkt. Eine Parole wie "Kalifat ist die Lösung" gilt als so "unerträglich", dass sie angeblich "eine massive Reaktion des Staates" erfordert, obwohl sie letztlich kein bisschen bizarrer ist als "Sozialismus ist die Lösung", "Europa ist die Lösung", "Jesus ist die Lösung" oder "direkte Demokratie ist die Lösung" und "One Solution - Revolution" .

Erlaubte krude Thesen

Das alles darf geglaubt, es darf gesagt und die eigene Überzeugung, damit goldrichtig zu liegen, darf dank der deutschen Verfassung öffentlich bekundet werden, so lange die Anhänger der jeweiligen kruden Thesen ihre Auffassungen nicht "nachhaltig und aggressiv kämpferisch" vertreten. Das ist ja gerade der Clou an der Meinungsfreiheit: Dass ihr "Schutz nicht unter einem inhaltlichen Vorbehalt steht, sondern für Meinungsinhalte aller Art und Güte gleichermaßen" (Lothar Michael) gilt. 
 
Wer für ein Himmelreich auf Erden eintritt, darf das tun. Wer sich ein Königreich der Herzen wünscht, ein sozialistisches Paradies, die Rückkehr zur Planwirtschaft, eine  Degrowth-Gesellschaft, eine Enteignung aller Millionäre, regelmäßige Geschlechterwechsel, legale Abtreibungen oder deren verbot, Mindestlohn für alle, die Begrenzung des Privatbesitzes auf das, was jeder tragen kann, oder eine Pflicht zum regelmäßigen Haarschnitt, war bisher goldrichtig in Deutschland. Weil die Meinungsfreiheit für die Demokratie "schlechthin konstituierend", wie das Bundesverfassungsgericht immer wieder bestätigt hat, hängt der von Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz gewährte Schutz "nicht davon ab, inwieweit Meinungen einen mehr oder weniger positiven Nutzen für die Demokratie haben".

Populisten gegen das Grundgesetz

Eine Seite der Verfassungsordnung, gegen die Populisten nun überall plötzlich mobil machen. "Wem ein Kalifat lieber sein sollte als der Staat des Grundgesetzes, dem steht es frei auszuwandern", hat Justizminister Marco Buschmann geschrieben, denn "Wir leben in Deutschland in einem Rechtsstaat. Wer hier das Kalifat ausrufen will, gehört nicht zu unserem Land. Hier in Deutschland gilt das Grundgesetz!" Auch die Bundesinnenministerin schlägt in dieselbe Kerbe: "Wer ein Kalifat will, ist in Deutschland an der falschen Adresse", droht sie den Demonstranten mit dem üblichen "harten Vorgehen". 
 
Die Frankfurter Rundschau flankiert die Drohung mit einer populistischen Volte: Allein "die Losung ,Kalifat ist die Losung' richtet sich gegen das Grundgesetz, sie gibt streng religiöse Regeln einer Minderheit in einer christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft vor, deren Verfassung in Weltanschauungsfragen neutral ist". Das erfordere "eine massive Reaktion des Staates", etwa durch "die Ausweisung von Demonstranten, die nicht über die deutsche Staatsbürgerschaft verfügen". 

Wie im Geheimplan

Verfassungsfremde Fantasien von einer gesäuberten Gesellschaft aus lauter strammen Demokraten werden dort ausgebreitet, als schütze die Meinungsfreiheit nicht ausdrücklich auch "verfassungsfeindliche Ideologien und religiösen Fundamentalismus" (Johannes Masing). Um bei denen zu punkten, die dort, wo es ihnen unerträglich wird, andere Meinungen und andere Lebensweisen auszuhalten, sofort nach Verboten und Abschiebungen rufen, wird die Axt ans Prinzip der Toleranz gelegt und die Säge in den Ast gesenkt, auf dem das demokratische Gemeinwesen sitzt. 
 
Die Frankfurter Rundschau versteigt sich am Ende sogar zur Forderung, dass eine "Aufenthaltsgenehmigung lediglich haben dürfen sollte, wer sich zu den Werten des Grundgesetzes bekennt" - eine vom EuGH längst zurückgewiesene Forderung, die direkt an den Vorstellungen anknüpft, die als zentraler Teil des "Geheimplans gegen Deutschland" zuletzt und zurecht für so viel Empörung gesorgt hatten.

Mittwoch, 1. Mai 2024

Picknick am Ende des Kapitalismus

Die letzten Kommunisten nutzen das verschwenderische Campingstuhlangebot des imperialistischen Stadiums des Kapitalismus, um bequem Stellung zu beziehen.

Es ist zu warm, es ist viel zu früh für den Sommer. Und doch ist er da, wiedermal überpünktlich und wie zuletzt so oft begleitet von einer Wolke aus Saharastaub. Dazu aber weht Hoffnung durch das von Zweifeln geplagte Land. Der Winter des Missvergnügens, als Bauern rebellierten, die Regierungsbemühungen um Frieden, Fortschritt und eine sichere Energieversorgung verhöhnt wurden und es zeitweise schien, als seien sämtliche Kabinettsmitglieder und Führungspersönlichkeiten der demokratischen Parteien im Wahlkampfeinsatz für die Feinde der Demokratie, er ist beendet.

Frühlingserwachen

Frühlingserwachen in der Wirtschaft, die alle Wachstumsprognosen mal eben doppelt überboten hat. Hoffnung auf ein neues Sommermärchen mit einer wie immer zumindest vorab titeltauglichen Elf. Die Angriffe auf die Aufarbeitung der Pandemie abgewehrt, die Versuche, den Atomausstieg madig zu machen, verpufft. Pünktlich zum Start in den Europa-Wahlkampf hängen Plakate überall, aber keine Schultern mehr nirgends. Deutschland bricht auf in eine vielversprechende Zukunft. Der Wähler dankt es und kehrt zurück zum Lagerfeuer der Demokraten. Die SPD liegt wieder vor der AfD, die Linke berappelt sich bei stabilen drei Prozent und alte wie neue Populisten verlieren je ein Prozent. 

Die sich lustig machten über eine Regierungsmannschaft, die sich alle Mühe gab, den Nachweis anzutreten, dass sie nicht nur keine Schnürsenkel binden, sondern auch mit Klettverschlüssen überfordert ist, sie müssen nun Abbitte leisten. Nachdem die FDP sich entschlossen hat, ihr Heil nicht in der Flucht zu suchen, steht die Koalition wie festgemauert in der Erden. 

Guter Rat vom Klassiker

Nun, rät der Dichter, "bis die Glocke sich verkühlet, lasst die strenge Arbeit ruhn, wie im Laub der Vogel spielet, mag sich jeder gütlich tun." Das klingt nach grundlosem Grundeinkommen und Work-Life-Balance, nach Arbeitstagen und hohem Mindestlohn. Laub ist zwar nicht da, jahreszeitlich bedingt. "Doch den sichern Bürger schrecket nicht die Nacht, die den Bösen grässlich wecket, denn das Auge des Gesetzes wacht." Die bundesweiten Reaktionen auf das Verlangen nach der Errichtung eines Kalifats haben es gezeigt: So nicht! Schnell werden da "Konsequenzen geprüft" (Olaf Scholz) und Sätze gesprochen, in denen "die ganze Härte des Gesetzes" (Nancy Faeser) vorkommt.

Ein frühsommerliches Picknick am Ende des Kapitalismus, die Luft ist lau, der Höllenschlund der Klimahitze noch ein uneingelöstes Versprechen. Selbst die letzten Kommunisten zieht es in die öffentlichen Parks, wo sie das verschwenderische Campingstuhlangebot des Imperialismus, jenes letzten, höchsten und zerstörerischsten Stadiums des Kapitalismus, gern nutzen, um bequem Stellung zu beziehen im Klassenkampf.

So ein schönes Ende

Hätte jemals jemand vorhergesagt, dass es so schön zu Ende geht, langsam und gemächlich, unaufgeregt und ohne dass allzu oft mit den Gefühlen der Menschen Schindluder getrieben wird, er wäre ausgelacht worden. Eine Endzeit stellten sich viele, geschult an fürchterlichen Filmen, apokalyptisch vor. Die Einschläge kommen näher. Die Regale leeren sich. Die Stimmung ist angespannt, aber denkbar schlecht. Keiner vertraut mehr niemandem. Es wird gelogen und betrogen, ausgegrenzt und manipuliert, Angst verbreitet und mit Versprechungen nicht gegeizt, so glaubten Bürgerinnen und Bürger, für die es das erste Mal ist, dass sie einem Schlussakkord lauschen dürfen.

Das hier kann es also noch nicht gewesen sein. 

1. Mai: Losungen statt Lösungen

Der 1. Mai ist für viele ein Tag, an dem Mailosungen auf die Straße getragen werden.


Es ist wieder so weit. Sogar Yasmin Fahimi, ehemals führende SPD-Politikerin und nach ihrem Wechsel auf eine parlamentarische Hinterbank schließlich zur DGB-Vorsitzenden gewählt, tauchte unverhofft, um neue Forderungen anzukündigen. Mehr für weniger!  

Mehr für weniger

Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit, das seien die zentralen Forderungen der Gewerkschaft im zweiten Jahr der Krise. Dazu gehöre ein Mindestlohn von 14 Euro, 13 Prozent rauf, das Geld ist ja da und wenn nicht, dann muss es gedruckt werden. Beinahe schon schäbig, wie die Gewerkschafterin mit den fünfstelligen Monatsgehalt die Armen abfinden will: Selbst die Grünen und die SPD sind da ganz bei ihr. Die Linke hingegen lässt sich nicht lumpen und fordert wenigstens eine Anhebung auf 15 Euro pro Stunde

Der 1. Mai als "Tag der Arbeit", das war einmal. Heute ist er frei, ein Datum mit viel Platz für  Forderungen nach einer stärkeren Work-Life-Balance, Unternehmens-Benefits und einer Vier-Tage-Woche mit vollem Lohnausgleich. Aus der Sehnsucht der werktätigen Massen nach einem eigenen arbeitsfreien Tag, den erst Adolf Hitler erfüllte, wurde ein Brückentag, den die einen für den ersten Biergartenbesuch nutzen. Die anderen aber, indem sie die von der SED in der DDR erst zu voller Blüte gebrachte Tradition der Mai-Demos pflegen. 

Kampf- und Feiertag der Werktätigen

Der "Internationalen Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus", er ist nicht mehr. Aber gerade in Berlin, wo inzwischen mit 42,6 Prozent nur noch eine kleine Minderheit der arbeitsfähigen Bevölkerung einer regelmäßigen Arbeit nachgeht, wird gefeiert wie einst beim Honecker: Alle auf die Straße, rot ist der Mai! Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit! 

Mehr Namen jedenfalls hat er schon. Aus Hitlers "Feiertag der nationalen Arbeit" wurde der "Nationale Feiertag des deutschen Volkes", den die föderale Bundesrepublik dann etwa wie Nordrhein-Westfalen  als "Tag des Bekenntnisses zu Freiheit und Frieden, sozialer Gerechtigkeit, Völkerversöhnung und Menschenwürde" feiert, im einfach gestrickten Sachsen-Anhalt dagegen als "1.Mai" begeht, während Sachsen am "Tag der Arbeit" frei macht und Traditionalisten in Berlin beim "Revolutionären 1.Mai" Autos anzünden.

Scheitern mit Ansage

Der Versuch der früheren Linken-Chefin Katja Kipping, die Sache als "Tag der Gerechtigkeit" zu vereinheitlichen, musste scheitern. Zu gut ist der bisherige Markenname 1. Mai eingeführt. Doch die Tradition, mit offiziellen Losungen für mehr Gemeinsinn und Solidarität zu werben, gehört zum geistig-moralischen Erbe der Nation. Nicht mehr ein Zentralkomitee einer einzelnen Partei kümmert sich heute um dessen Erhalt, sondern eine Arbeitsgruppe aus Freiwilligen in der Berliner Bundesworthülsenfabrik (BWHF). Auch die diesjährigen Parolen bilden wieder ab, wohin die Welt sich gedreht hat. Bleibt nur zu hoffen, dass sie heute auf möglichst vielen selbstgemalten Plakaten bei den machtvollen Manifestationen der Arbeiter, Bauern und Angestellten zu sehen sein werden.

Gruß und Dank allen Werktätigen, die den Wiederaufbau der EU voranbringen! Eure großen Leistungen prägen das hohe Ansehen unserer Republik in der ganzen Welt!

Werktätige der Industrie und Landwirtschaft! Vater Staat statt Kalifat! Vorwärts zu neuen Erfolgen in der Transformation! Dem Volke zum Nutzen – der Republik zu Ehren!

Beschäftigte in den Turnaround-Unternehmen der Industrie! Seid Bahnbrecher im Kampf um wissenschaftlich-technischen Höchststand! Arbeitet, lernt und lebt nachhaltig und CO2-sparend!

Tätige der Landwirtschaft! Wetteifert um hohe Erträge und niedrigen Einsatz von Energie, Fläche und Schädlingsbekämpfungsmitteln! Weniger Fleisch und Milch und mehr einheimisches Getreide für unsere Supermärkte!

Unverbrüchliche Freundschaft mit der Ukraine, Israel und den Menschen im Gaza-Streifen! Für und gegen Waffenlieferungen, für und gegen Waffenstillstandsverhandlungen!

Solidarische Grüße dem ukrainischen Volk, das heldenhaft seine Freiheit gegen die russischen Aggressoren verteidigt!

Vorwärts zur EU-Wahl! Alles mit dem Volk – alles durch das Volk – alles für das Volk!

Frauen und Mütter! Der Green Deal dient dem Glück Eurer Familien! Legt in die Herzen Eurer Kinder die Liebe zu den gemeinsamen Werten der Union!

Dienstag, 30. April 2024

Rebellion der Rentner: Fantastische Verschwörung

Der von der mutmaßlichen Terrorgruppe Reuß geplante Umsturz atmet mehr als nur leichte Züge von Wahnsinn.
Der von der mutmaßlichen Terrorgruppe Reuß geplante Umsturz atmet mehr als nur leichte Züge von Wahnsinn.

Sie hatten sich Flinten zugelegt, Handschellen und Helme, dazu mehr als 140.000 "Waffenteile" (DPA), mit denen beim Angriff auf den Bundestag nach den Hauswachen des Sicherheitsdienstes geworfen werden sollte. Empfohlen worden war diese Strategie wohl vom Transkommunikationsteam, einem Heiler, einer Hexe und einer Kaffeesatzleserin, auf die die Prinzen Reuß seit Hunderten von Jahren schwören.

Auf die Schliche

Nicht vorhergesehen aber hatten der Rat der Weißen der Befreiungsarmee des im Thüringer Exil lebenden Reichskanzlers in spe, dass die aktuell zuständigen deutschen Behörden den Umtrieben der reichsbürgerlichen Umsturzbewegung frühzeitig auf die Schliche kommen könnten. Zwar war die Aufstandsbewegung schon so weit gewachsen, dass in einem nächsten Schritt zumindest Heimatschutzkompanie Nummer 221 von geplanten 280 hätte beginnen können, "eigenständig" (Der Spiegel) nach jungen Leuten zum Mitreisen zu suchen. 

Insgesamt aber befand sich die "Reuß-Gruppe" (Die Zeit) wohl noch in einem frühen Stadium der Machtübernahme. Auf "Basis der Ideologie der sogenannten Reichsbürger" (Tagesschau) war ein "gewaltsamer Umsturz geplant", der 73-jährige Heinrich XIII. Prinz Reuß hatte seine "terroristische Vereinigung" gegründet und seinen Sturm auf den Reichstag geplant, an dessen Sicherung durch einen breiten und tiefen Burggraben seit dem Angriff der Impfgegner mit Deutschland-Tempo gearbeitet wird. Doch wie genau es weitergehen sollte nach der Machtergreifung und den anschließenden Erschießungen gemäß einer von der Vereinigung geführten "Feindesliste", müssen die Prozesse ermitteln, deren erster nun an historischer Stätte in Stammheim begonnen hat.

Fantasten als Gefahr

Spinner oder Staatsfeinde oder beides? Das Verfahren mit dem Aktenzeichen 3 St 2 BJs 445/23, kurz "Reichsbürgerprozess" genannt, verblüfft zum Auftakt mit Superlativen. 600 Seiten Anklage, 400.000 Blatt Beweise, 270 Polizisten als Zeugen, Verhandlungen an drei Oberlandesgerichten gegen drei Verschwörergruppen mit Namen wie "militärischer Arm" und "Rädelsführer" , Verfahrensdauer ein oder zwei oder drei Jahre, genau wird man es nachher wissen. Wie auch, ob die Fantasten um den Prinzen aus dem Seitenzweig einer erloschenen Linie eines Provinzfürstengeschlechts aus Thüringen wussten, was sie tun wollten, oder ob sie sich nur gegenseitig versicherten, dass ihr Wahn Wirklichkeit sei.

Die Geschichte der Roten Armee Fraktion, die als bisher personalstärkste, mordlustigste und ideologisch gefestigste Terrorgruppe der bundesdeutschen Historie Dutzende Menschenleben opferte, um eine bessere Welt herbeizuschießen und zu bomben, belegt die Wirkungsmacht kollektiver Halluzinationen. Mag auch alles dagegensprechen, ein fester Glaube, sorgfältig in einer überschaubaren Gruppe gepflegt, ersetzt die Realität vollständig.

Falsche Assoziationen

Wer dabei unversehens an die Katholische Kirche, die Anhänger des Kalifats oder des Veganismus, die Grünen, die Linke, die FDP oder die SPD denkt, liegt vollkommen falsch. Die gewählten Mittel zum Zweck trennen legitime Versuche der Veränderung der Gesellschaft von Angriffen "krimineller Banden" (DPA): Die einen setzen auf Geduld, den langen Marsch durch die Institutionen, der zu den Hebeln der Macht führt. Die anderen wollen die Schaltzentralen stürmen, um ein blutiges Scherbengericht über die Demokratie abzuhalten. 

Das eine ist erlaubt und immer wieder erfolgreich. Das andere ist noch nie geglückt, zieht aber gesellschaftliche Außenseiter magisch an. Auch der von der mutmaßlichen Terrorgruppe Reuß geplante Aufstand atmet mehr als nur leichte Züge von Wahnsinn. 

Die blutigen Angriffe der RAF auf den gesellschaftlichen Frieden waren noch ein "Krieg von 6 gegen 60.000.000" (Heinrich Böll), den verstehen konnte, wer die Bild-Zeitung las und zum Urteil kam, dass sie "nicht mehr kryptofaschistisch, nicht mehr faschistoid" sondern "nackter Faschismus" mit "Verhetzung, Lüge, Dreck" war. Doch ein halbes Jahrhundert danach geht es nicht mehr um die Rebellion junger Leute, die sich erstmal die Hörner abstoßen müssen, sondern um einen Aufstand alter Männer und Frauen, denen die "ganze Richtung" nicht passt (Christian Daniel Schubart).

Opfer von Kleinkrimineller

Unter der Fahne von Esoterik und Aberglauben, angeführt von einem Rat aus renitenten Rentnern, die sich von einer Hofastrologin und einem "Seher" beraten und von Schweizer Kleinkriminellen um sechsstellige Summen bringen ließen, zeigt sich die mutmaßliche Terrorgruppe schon am Anfang des größten Prozesses, der in Deutschland jemals gegen die Planer eines Staatsstreiches durchgeführt wurde, als wirrer Verein von Fantasten. Drei Dutzend Leute, beseelt von "einem Konglomerat aus Verschwörungsmythen und Erzählungen der Reichsbürger sowie der QAnon-Ideologie" (Die Welt) wollten die Machtfrage stellen, bewaffnet mit "Neun-Millimeter-Pistolen" (DPA), Vorderladern und Flinten nebst "350 Hieb- und Stichwaffen" (Tagesschau), nicht zu vergessen auch "Elektroschocker, Gefechtshelme und Nachtsichtgeräte". 

Ein Staat, der solche Feinde fürchten muss, hat ganz andere Probleme.

Armin Laschet: Der Reserveheld

Armin Laschet ist wieder da - als Kanzler der Herzen
Er wollte Angela Merkel beerben, scheiterte aber an einem falschen Lachen. Nun ist Armin Laschet wieder da: Die "Zeit" rühmt ihn bereits als "Kanzler der Herzen". Zeichnung: Kümram, Aquarell

Ausgelacht, verhöhnt und abgestraft. Kleinlauf verließ CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet nach der letzten Bundestagswahl die politische Bühne. Der Hoffnungsträger für eine nächste langandauernde Kanzlerära nach Angela Merkel war zum Martin Schulz der CDU geworden. Hochgelobt. Gerühmt und vergöttert. Und dann, nach einem einzigen echten Lachen an der falschen Stelle, niedergeschrieben und niedergemacht von denselben Adressen, die zuvor vergeblich versucht hatten, ihn einem störrisch widerstrebenden Wahlvolk schmackhaft zu machen.

Der Vati nach der Mutti

Der kleine Mann, der der Vati nach der Mutti hatte sein wollen, aber in Schuhen durch die Wahlkampfmonate schlurfte, die ihm sichtlich viel zu groß waren, tauchte ab. Seine Partei stellte ihm den Stuhl vor die Tür. Weil die Kanzlerin, die ihn aufs Schild hatte heben lassen, nicht mehr greifbar war, musste er die Schuld schultern. Seinen Posten als Ministerpräsident hatte er in die Waagschale geworfen. Nun blieb ihm nichts als ein kalter Platz auf einer Hinterbank, ein Büßerposten ohne Macht, denn die hatte nun doch Friedrich Merz erobert, der ewige Endgegner der Merkelianer.

Kalter Entzug. Zwar wurde Armin Laschet schon bald nach seinem kaum betrauerten Abschied aus Politik und Öffentlichkeit mit dem Posten eines Vizepräsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europarates abgefunden. Doch damit war der damals erst 61-Jährige einer von 20 Stellvertretern eines Vorsitzenden namens Rik Daems, der in dem nur wenigen Europäern bekannten Organ von Vertretern aus 46 nationalen Parlamenten des europäischen Kontinents kaum für sich selbst genug Arbeit findet.

Konsequent in die Mitte

Laschet hat dann noch das Amt des Vorsitzenden des Kuratoriums der RAG-Stiftung übernommen. Und sich ins Direktorium des Aachener Karlspreises wählen lassen. Doch rehabilitiert wird der Christdemokrat, der die CDU mit einer selbstausgedachten neuen Definition von "rechts" konsequent in die Mitte hatte rücken wollen, erst jetzt, endlose zweieinhalb Jahre nachdem er die Union zum schlechtesten Wahlergebnis aller Zeiten geführt hatte. Dafür jedoch mit aller Kraft: Seit Wahlforscher der CDU ein "Merz-Problem" attestieren, weil der neue starke Mann sämtliche Wähler rechts von Grünen, SPD und Linkspartei mit seinen Zahnfee-Thesen und Abschiebefantasien verschreckt, wird der knuddelige Aachener aus dem "Abklingbecken" (RP) gehievt.  

"Lusche Laschet" (Friedrich Küppersbusch) ist jetzt der "Kanzler der Herzen" (Die Zeit), eine echte Type, nach das Medienvolk "Sehnsucht" (Tagesspiegel) hat, weil er "dem überforderten AfD-Chef Tino Chrupalla bei Maybrit Illner im ZDF" mutig das Wort "Landesverrat" entgegenschleudert und den AfD-Europaspitzenkandidaten Maximilian Krah tapfer "geißelt", weil er vor der "Wiederholung der Geschichte" (Die Glocke) warnt und sich nicht von Unschuldsvermutungen und ähnlichem Kram abhalten lässt von seiner Forderung einer "Brandmauer gegen Verräter".

Der Lichtbringer

So einen bräuchte man jetzt, an allen Fronten, an der Ostflanke, im Kabinett. Einen, der nicht nur den  Namen Armin trägt, der aus dem Hermundurischen kommt und "Lichtbringer" oder auch "Erleuchter", heißt, sondern mit der eigenhändigen Umbenennung des alten "christlichen Menschenbildes" der CDU  in ein "christdemokratisches Menschenbild"schon bewiesen hat, dass ihm entschlossenes Handeln nicht fremd ist. 

Dem derzeitigen CDU-Chef Friedrich Merz jedenfalls erwächst mit der Rückkehr Laschets ein  alter neuer ernsthafter Rivale: Laschet hat noch oder wieder viele Freunde in den Großredaktionen, viele dort wissen auch, wie viel sie ihm wegen der hämischen Hohnattacken im Wahlkampf noch schuldig sind. Wie bei den Grünen Habeck und Baerbock sich anschicken, in den Nahkampf um den begehrten Spitzenkadidatenposten zu gehen - die eine Verliererin beim letzten Mal, der Konkurrent Reserveheld - könnte es auch bei der Union kommen. 

Und selbst wenn sich Merz durchsetzt: Armin Laschet ist fünf Jahre jünger. Er kann warten.

Montag, 29. April 2024

Interaktive Hass-Muslime: Samthandschuhe für das Kalifat

Bunt und interaktiv: Was in Dresden vor Jahren noch ein "Aufmarsch von Extremisten" war, ist am anderen Ende der Elbe eine "Demo" mit Hunderten Teilnehmern.

Eine Umma, eine Einheit, eine Lösung und die heißt Kalifat. Unterwerfung unter den einen Glauben, rigorose Abkehr von demokratischen Werten, dazu klare, strenge Regeln, die das Zusammenleben in der Gesellschaft noch weitaus detaillierter regeln, als es selbst die Grundsatzdokumente der SPD vorsehen - mit der ersten offenen Islamistendemonstration hat Hamburg gezeigt, dass ein vielfältiges, diverses Deutschland nicht bei marschierenden "Pegida-Frustbürgern" (Spiegel) endet.  

Am anderen Ende der Elbe

Nein, am anderen Ende der Elbe ist es dasselbe. Auch die islamistischen Demonstranten einte eine geballte Wut auf fast alles, was anders ist. Sie waren straff organisiert und gut vorbereitet, behaupteten, dass sie in den deutschen Medien falsch dargestellt würden und empörten sich über vermeintliche "Hetzkampagnen" gegen Anhänger*innen des einzig wahren Glaubens in Deutschland, das sie als "Wertediktatur" verspotteten.

Nur die Aufregung, die sie mit dieser deutlichen Position weit außerhalb des demokratischen Spektrums erregten, zeigte, wie wenig deutsche Medien immer noch bereit sind, Menschen, die noch nicht länger hier leben oder sich schon länger nicht gut integriert fühlen, wirklich genauso ernst zu nehmen wie renitente Sachsen, Rechtsextremisten und sogenannte "Islamhasser" (Tagesschau).

Als die vor zehn Jahren als "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" durch Dresden marodierten, schlug das Entsetzen hohe Wogen. Das "hässliche Gesicht Deutschlands" war zu sehen, eine "Wut auf Mainstreammedien und die Politiker" (SZ) mit einer "blonden Sprecherin in der ersten Reihe" (Spiegel) erinnerte an unselige Zeiten und nur ganz kurz hielt der Versuch an, die menschenverachtenden Überzeugungen der Marschierer zu entschuldigen. Erst kamen die Anführungsstriche. Dann erging das Urteil: Hassprediger. Spalter. Hetzer. 

Handbuch des guten Demagogen

Zehn Jahre danach sind die Parolen nahezu identisch. Aus dem "Lügenpresse" von Dresden ist das "Fake News" von Hamburg geworden. Statt eines renitenten ostdeutschen "Mobs aus der Mittelschicht" (TU Dresden) voller Angst vor Überfremdung sind nun einfach nur "Hunderte bei Demo in Hamburg" geworden, die "dem Aufruf zu einer von Islamisten organisierten Kundgebung" gefolgt seien, wie die "Tagesschau" vorsichtig umschreibt. 

Wer mit der Wahrheit lügen will, mit reinen, puren, ungeschminkten Fakten Meinung machen und dabei keinesfalls erwischt werden, dem rät das "Handbuch des guten Demagogen", im äußerten Fall nicht einmal davor zurückzuscheuen, Tatsachen direkt zu erwähnen.  Nur das, heißt es im Lehrbuch, biete sichere Gewähr, sie anschließend auf eine Weise einordnen zu können, die dem Gesamtanliegen nützt, ohne Teile der Bevölkerung zu beunruhigen.

"Schwer erträglich"

Mehr als 1.000 Islamisten, die in einem nach einem christlichen Heiligen benannten Hamburger Stadtteil für die Errichtung einer religiösen Zwangsherrschaft demonstrieren, ist deshalb kein "Aufmarsch", ebenso sind die Demonstranten keine Extremisten. Unter den Samthandschuhen der Demonstrationsdeuter der "Tagesschau" verwandeln sich die Veranstalter der muslimischen Manifestation mit dem Titel "gehorche nicht den Lügnern" in vergleichsweise harmlose "Radikale" - ein Begriff, der offiziell bereits vor zehn Jahren aussortiert und durch "Extremisten" ersetzt wurde. 

Es ist also alles längst nicht so schlimm wie es schon war. Auch der Name der vom Verfassungsschutz beobachteten Truppe "Muslim interaktiv" lädt zum Lernen, Verweilen und Mitmachen ein. "Interaktiv" hat im deutschen Mediensprachgebrauch eine ähnliche Karriere absolviert wie "divers". Der Begriff, vor 40 Jahren noch ein Fremdwort, dann aber von der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) im politischen Berlin eingedeutscht, gehört heute zum sogenannten Vielfaltsfünfklang IDBVN, der aus den Signaladjektiven interaktiv, divers, bunt, vielfältig und nachhaltig besteht. 

Friedlich, aber schwer erträglich

Die "Tagesschau" polstert die Verwendung klug mit dem Hinweis, dass die Demo ja "friedlich" geblieben sei. Die Bundesinnenminiserin schließlich ordnet das Geschehen abschließen mit dem Satz ein, dass "eine solche Islamisten-Demonstration auf unseren Straßen schwer erträglich" sei. Ein knallhartes Urteil. Einmal mehr ist die Kuh damit vom Eis, zumal Nancy Faeser für die Zukunft ein "hartes Einschreiten" des Staates "bei derlei Veranstaltungen" gefordert hat.

Wechselspiele im Politikbetrieb: Ansichten aus einer Hand

Wechselspiel auf höchster Ebene: Journalisten rücken immer wieder dankbar auf in die Korridore der Macht. Und manchmal kommen sie danach als unabhängige Berichterstatter zurück.

Alle müssen zusammenstehen, gerade in diesen Zeiten. Kein Blatt Papier darf zwischen Berichterstatter und den Gegenstand ihrer Berichterstattung passen. Jeder muss bereitstehen, wenn Not am Manne ist, auch dort einzuspringen, wo er dringender gebraucht wird. Und niemand darf sich zu schade sein, übertragene Aufgaben selbst dann zu übernehmen, wenn es bereitzustehen, wenn sein Einsatz Außenstehenden auf den ersten oder zweiten Blick ein wenig nach Günstlingswirtschaft zu schnuppern scheint.  

Ämtertausch im Hochparterre

Was muss, das muss. Wenn es draußen stürmt, bleiben die Fenster möglichst fest geschlossen. Und auch wenn es einen Augenblick lang komisch riecht und sich mancher demonstrativ die Nase zuhält. Die Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass der längere Hebel immer den längeren Atem hat.

Es ist noch immer gut gegangen, sehr gut sogar. Warum also sollte Anna Engelke nicht Vizechefin des ARD-Hauptstadtstudios werden? Und dort gewährleisten, dass weiterhin unabhängig und unvoreingenommen über die Taten der politisch Verantwortlichen im Land berichtet wird? Nur weil die Mittfünfzigerin eben noch Sprecherin von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war, heißt das doch nicht, dass sie nicht, dass sie nicht noch etliche Jahre beim "Wiederaufbau Europas" Ursula von der Leyen) und bei der "Erneuerung des Wohlstandes" (Robert Habeck) helfen kann.

An einem Strick

Deutschlands Neidgesellschaft aber springt sofort im Karree. Ausgerechnet Engelkes Kollegen, allesamt stets für zu leicht befunden, um wichtige Schaltstellen der noch besseren Erklärung der Regierungsmaßnahmen zu besetzen, empören sich darüber, dass ehemalige WDR- und nunmehrige NDR-Journalistin zwei Jahre nach ihrem Abschied aus dem Schloss Bellevue wieder näher an die Kammern der Macht rückt und aus nächster Nähe für Millionen Fernsehzuschauer Nutzen aus den in fünf Jahren an der Seite des früheren SPD-Politikers gewonnenen Insidererkenntnissen zieht.

Jedes Mal das gleiche Theater. Und das in beide Richtungen. Kaum hatte der als ARD-Journalist auftretende Michael Stempfle den kommenden Verteidigungsminister Boris Pistorius als einen "Vollblutpolitiker, der anpackt" gelobt, saß er schon als dessen Sprecher im Verteidigungsministerium. Länger warten musste Steffen Hebestreit, der die Geschehnisse auf der Berliner Bühne jahrelang unparteiisch kommentierte, ehe er von der damaligen SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi, heute DGB-Chefin, eingestellt und später von Bundeskanzler Olaf Scholz als Regierungssprecher bestallt wurde.

Nachwuchsakademien für die Pressestellen

Bei der Taz, beim Spiegel, bei SZ, ARD und beim ZDF werden die Nachwuchsschulen der deutschen Politiksprecherei unterhalten, aus denen die größten Talente in die Champions League wechseln, wo sie sich das Rüstzeug holen, anschließend alles zu können. Manchen zieht es dann in die Diplomatie. Manchen wieder zurück zum geliebten Blatt, in den geliebten Sender. Im Weg stehen ihnen immer Divisionen von Neidern und misstrauischen Systemgegnern, die in jedem Zusammenwirken von Politik und Medien einen Versuch wittern, unliebsame Details der "uns umzingelnden Wirklichkeit" (Robert Habeck) auszublenden. 

Doch es sind zum Glück nicht diese Kreise mit ihren Vorwürfen von "unvereinbarer Regierungsnähe", die den Kurs bestimmen. Ungeeignet ist jemand nicht, weil er oder sie zeitweise direkt und unmittelbar "Teil des politischen Systems" war, "das sie oder nun kritisch beobachten soll". Dass Staat, Parteien und Medien klar voneinander getrennt sein sollten, ist eine Forderung von ähnlicher Anmaßung wie die, dass Sportreporter nicht mit Spielern, Trainern und Vereinsvorständen kumpeln dürfen. 

Kritische Geister in der Morgenlage

Nur weil jemand als unabhängiger Journalist*in so kritische Analysen, Reportagen und Kommentare geliefert hat, dass ein Minister, Bundeskanzler oder Bundespräsident sich sagt, so ein kritischer Geist soll mir in Zukunft schon in der Morgenlage widersprechen, ist er doch nicht unfähig, nach seinem Abschied aus den Behördenkorridoren immer noch so weiterzumachen, nun eben wieder auf der anderen Seite der Barrikade zwischen erster und vierter Gewalt. Das zeugt von Durchlässigkeit und davon, dass das Abrutschen in die Politik nicht für immer sein muss und ein Zurück möglich ist.

Dass der Eindruck von Regierungsnähe und Kungelei, der dabei zweifellos entsteht, die Entscheidungsfindung nicht beeinträchtigt, spricht für das reine Gewissen, das die Verantwortlichen haben: Nicht einmal der Gedanke ist ihnen gekommen, dass die Ernennung der Pressesprecherin eines Politikers zur Moderatorin des "Bericht aus Berlin" im Ersten bei Wohlmeinenden den Eindruck einer "zu großen Nähe zwischen öffentlich-rechtlichen Journalist:innen und der Politik" wecken könnte. Und bei weniger Nachsichtigen als weiterer Beleg für den engen Schulterschluss gilt, der zwischen der Macht und denen herrscht, die sie eigentlich kritisch beobachten sollen.

Ist der Ruf erst ruiniert

Hier gilt die Unschuldsvermutung, auch wenn der Verdacht naheliegt, dass der Eindruck den die Ernennung Anna Engelkes in der Öffentlichkeit erwecken musste, einfach keine Rolle spielt, weil er auf der Ebene der "Intendantinnen und Intendanten der ARD" (ARD) als unwesentlich gilt. Als "Gemeinwohlmedium", das seit dem Fall Schlesinger jede Rücksichtnahme auf den eigenen Ruf abgelegt hat, ist das Erste Deutsche Fernsehen keineswegs verpflichtet, sich um die Folgen ihrer Personalentscheidungen zu scheren. Am Ende steht Anna Engelke im Regen, ein Symptom, das für das Problem gehalten wird.

Sonntag, 28. April 2024

Fratzschers Renditerenner: Profite aus Brücken

Können Bürgerinnen und Bürger eines Tages in die Reparatur einer solchen Brücke investieren, ist ihre Rente wieder sicher.

Der Mann ist eine lebende Legende, nicht irgendein Fachmann für igrendwas, sondern der für alles. Marcel Fratzscher ist bekennender Freund der Inflation, er hat die Transformation schon durchgerechnet gehabt, als andere noch an den großen Wumms glaubten. Fratzscher, einziger deutscher Ökonom mit eigenem Verb, erklärte das deutsche Wirtschaftsmodell kurzerhand für obsolet, weil "nur eine sozialökologische Neuausrichtung die hohe Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen und die vielen guten Arbeitsplätze in Deutschland sichern" werde. Die, das las er aus dem Kaffeesatz, werde 100 Milliarden kosten, die sich aber leicht bei "Hochvermögenden" und "Superreichen" holen ließen.  

Update der Dezembervorhersage

Seit der Dezembervorhersage Fratzschers ist aber schon wieder alles teurer geworden. Und sowieso steht der Präsident des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung immer lieber für eine Lösung, die mindestens zwei Fliegen mit einer Klappe erwischt. Dass steigende Preise für Heizung und Mobilität für die Bürgerinnen und Bürger gut sind, weil sie dem Klima dienen, hat Marcel Fratzscher als einer der ersten Wissenschaftler gelobt. 

Auch seine Liebe zur Geldentwertung hatte immer sachliche Gründe. Während das Bruttoinlandsprodukt zwischen 2002 und 2022 numerisch um 76 Prozent wuchs, davon aber ein Drittel sich allein der Inflation verdankten, hatte der Finanzminister mit einem Steuerplus von mehr als 100 Prozent gut gewirtschaftet. Und das nützt natürlich allen.

Denn seit 20 Jahren habe sich der deutsche Staat "kaputtgespart", wird Fratzscher nicht müde zu wiederholen. Es begann mit Schröders Sparhaushalt von 2004, der ein Volumen von 257,5 Milliarden hatte. Seitdem hat sich das Sparhaushaltsvolumen auf 445,7 Milliarden Euro nicht einmal komplett verdoppelt, und trotzdem ist nie Geld da. 

Kluge nationale Argumente

Ein neuer Vorschlag des Forschers soll das ändern, indem er die FDP-Idee einer Aktienrente klug mit nationalen Argumenten kontert. Warum solle denn privates deutsches Geld "für Investitionen in Straßen in China oder in Gaskraftwerke in Nigeria investiert werden, und nicht für Schulen, Brücken und Krankenhäuser hierzulande?", fragt Fratzscher. 

Anstelle der globalistischen Geldanlage auf der Jagd nach der attraktivsten Rendite für den gemütlichen Ruhestand empfiehlt er einen "Bürgerfonds" (BWHF): Überall dort, wo die Kommunen pleite sind und die Instandhaltung der Infrastruktur so wenig gewährleisten können wie den Neubau von Schulen, Freibädern, Parks, Straßen oder Brücken ohne die gnädige Hilfe von sogenannten "Förderprogrammen", würden Wählerinnen und Wähler selbst mit dem Rest Geld einspringen und investieren, das ihnen nach Abzug von Steuern, Abgaben und Lebenshaltungskosten noch bleibt. 

Ein ganz großer Wurf

Es wäre ein ganz großer Wurf, der das Staatsprinzip "Von der Wiege bis zur Bahre" nicht nur wörtlich nimmt, sondern raffiniert auch die Schuldenbremse löst. Fratzschers "Bürgerfonds" wäre nichts anderes als eine Art neues Sondervermögen im Schatten der Schuldenbremse: Statt Bundesanleihen zu kaufen, legt der renditehungrige Sparer sein Geld in einem Investitionsfonds an, den die staatliche Förderbank KfW aufgelegt hat. 

Von dort aus fließt das Geld, das genaugenommen nun zwar für die Bürger eine Anlage, für Vater Staat aber eine weitere Verbindlichkeit ist, in all die wichtigen öffentlichen Investitionsprojekte, deren Unterhalt die öffentliche Hand sich trotz rekordhoher Steuereinnahmen nicht mehr leisten kann. Auf seine Verschuldung müsste sich der Staat die Milliarden nicht anrechnen lassen, weil er zwar Besitzer der KfW ist. Die aber Schuldner, nicht er.

Marcel Fratzscher hat es ausgerechnet. Einerseits würden so "Brücken und Schienen, Schulen und Kitas und andere wichtige Projekte der öffentlichen Daseinsfürsorge" auf Vordermann gebracht. Andererseits würde der Fonds "auch bei der Altersvorsorge helfen". Wie genau das geschieht, hat er noch nicht ausgeführt. Es würden "die Finanzierungskosten reduziert" und "gleichzeitig die privaten Investoren an den Risiken beteiligt". 

Statt Gewinnen geringes Ausfallrisiko

Der Bürgerfonds hätte darüber hinaus "eine implizite staatliche Garantie, der das Ausfallrisiko minimiert" und die staatliche Fondsverwaltung werde natürlich dafür sorgen "dass die Gelder vor allem in solche öffentlichen Investitionsprojekte fließen, die gut gemanagt und durchdacht sind und den höchsten Ansprüchen an Effizienz gerecht werden". Fratzscher weiß, dass der Deutsche im Allgemeinen eher wenig risikogeneigt ist. Verspricht man ihm, dass zwar nichts gewinnen wird, aber auch nichts verlieren kann, ist er dabei.

Wenig anderes kann der Staat besser. Das werde es ermöglichen, das Risiko der Bürgerinnen- und Bürgeranleger "so zu gestalten, dass sie keine Verluste machen können". Zugleich werde die Rendite für Bürgerinnen und Bürger "deutlich höher als für die Spareinlage oder die Lebensversicherung", so dass sie "besser Ersparnisse für das Alter aufbauen" könnten. Wo genau dabei aber diese Gewinne herkommen sollen, die Menschen bisher veranlassen, ihr Geld in bestimmte Fonds zu stecken, sagt Marcel Fratzscher nicht. Plant er Brückenmaut? Schulgeld? Eine Infrastrukturaufbauabgabe für Kindergartenkinder?

Gestärkte Vorsorge ohne Rendite

An all diesen Details wird noch gearbeitet. Ungeachtet dessen aber steht dem Zauberkunststück nichts entgegen. Statt einer Aktienanlage, die mit einer monatlichen Sparrate von 350 Euro nach 45 Jahren um die 1,2 Millionen Euro Ausschüttung verspricht und damit einen sorgenfreien Ruhestand ermöglicht, löst Fratzschers Konzept entschlossen gleich drei andere deutsche Probleme auf einmal. Die Altersvorsorge wird "gestärkt" (Fratzscher), ohne dass den Bürgerfondsanlegern irgendeine Rendite in Aussicht gestellt ist. Der Bürgerfonds werde zudem "die soziale Akzeptanz für die notwendige wirtschaftliche und ökologische Transformation Deutschlands stärken". Und der Staat, der aus Mangel an Geld nicht investieren kann, was er müsste, investiert mehr, ohne dass er mehr investieren muss.

Multifunktionsspione: Doppelschichten im Dunkeln

Im Auftrag von Maos Erben soll sich ein in Sachsen lebender Mann das EU-Parlament ausspioniert haben.

Jan Marsalek war auch so einer. Hauptberuflich tarnte sich der gebürtige Wiener als Vorstandmitglied des digitalen Zahlungsdienstleisters Wirecard, Deutschland größtem Beitrag zum digitalen Fortschritt. Nebenher aber arbeitet der Enkel des kommunistischen Antifaschisten Hans Maršálek insgeheim am Betrug des Jahrhunderts. Ohne dass es jemand bemerkte, stahl Marsalek in den Pausen zwischen Koks, Nutten, Gesprächen mit Regierungsvertretern und Verhandlungen mit den Blutprinzen in Dubai 1,9 Milliarden Euro.  

Im Auftrag zweier Herren

Doch auch das diente nur der Tarnung. In Wirklichkeit, so viel ist heute bekannt, war der smarte Geschäftsmann nicht nur Spion im Auftrag des österreichischen Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT). Sondern auch  russischer Agent, der als Teil einer "nachrichtendienstlichen Zelle, deren Kapazitäten und Fähigkeiten sich russische Nachrichtendienste bedienten", selbst nach seiner Flucht nach Moskau und der Verwandlung in einen orthodoxen Priester einen Agentenring in London steuerte. 

Ohne dass es jemals jemandem auffiel, spähte Marsalek über seine "eigenen Netzwerke dem Kreml missliebige Personen in Europa" aus und womöglich übermittelte er sogar "sensible Informationen nach Russland", wie die "Tagesschau" eine Latte an Untaten zusammenfasst, die neben gewerbsmäßigem Bandenbetrug, den besonders schweren Fall der Untreue, Bilanzfälschung, Börsenmanipulation und weiterer Vermögens- und Wirtschaftsdelikten auch noch geheimdienstliche Agententätigkeit und Landesverrat enthält.

In einer eigenen Liga

Marsaleks Tage hatten 48 Stunden, sein Ego füllte sie alle. Der heute 44-jährige Österreicher spielte in seiner eigenen Liga, ein doppelter Doppelagent, gegen den James Bond wie ein langweiligen Bürokrat wirkt. Doch der flüchtige Spion, zuletzt auffällig, als er einen von Moskau aus  Kuriere mit Bargeld von Berlin nach Wien schickte, "um dort einen Laptop mit brisantem Inhalt abzuholen und nach Russland zu transportieren" (Tagesschau), ist offenbar kein Einzelfall. 

Auch Jian Guo, der mutmaßliche China-Spion im Büro des AfD-Spitzenkandidaten, war ähnlich viel beschäftigt. Zusätzlich zu seiner beruflichen Tätigkeit im Abgeordnetenbüro gab er "im Auftrag chinesischer Geheimdienste" (T-Online), als mehrerer, nicht nur "geheime Informationen aus dem EU-Parlament weiter", sondern er bespitzelte nebenher auch noch chinesische Dissidenten im Exil. Weil ihm daneben noch allerlei Tagesfreizeit blieb, bot sich Guo dem Bundesamt für Verfassungsschutz als Informant an. 

Jian strebt nach mehr

Weil das an seiner Mitarbeit kein Interesse zeigt, entschloss er sich nach Informationen des SPD-nahen Redaktionsnetzwerkes Deutschland (RND), dann eben Informant des sächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) zu werden. Der Dresdner lieferte den sächsischen Behörden Hinweise auf "mutmaßliche Aktivitäten des chinesischen Nachrichtendienstes", blieb aber, so betont die Behörde schadensmindernd, freischaffend, also ohne den begehrten Status des "Mitarbeiters", den Marsalek als Diener vieler Herren genoss.

Ein Lebenslauf, der wie Marasaleks von einem Engagement kündet, das weit über das hinausgeht, was gewöhnliche Menschen in ihre Tage pressen können. Pendelnd zwischen Aschheim bei München, Berlin, Wien, Moskau, Dubai, ChinaAustralia, Hong Kong, Indonesia, Malaysia, Philippines und Thailand spitzelte und betrog, der eine, hin- und herreisend zwischen Dresden, Brüssel und Berlin und Peking drehte der andere das große Rad, indem er "gesperrte" "und sensible", aber keine "vertraulichen" Unterlagen des Europa-Parlaments einsah. 

Wurzelprofiling versagt

Obwohl der "gebürtige Chinese" (RND) allein schon wegen seiner Herkunft und seinem sächsischen Wohnsitz hätte besonders im Auge behalten werden müssen - eine AfD-Mitarbeiterin mit chinesischen Wurzeln war früh unter Drachenverdacht geraten - gelang es ihm augenscheinlich, sich in eine Position zu bringen, die es ihm erlaubte, sich frei zwischen den Geheimdiensten und seinen unterschiedlichen Aufgaben zu bewegen.

Erst ein glücklicher Zufall gerade noch rechtzeitig vor dem Start der heißen Phase des EU-Wahlkampfes ließ die Allianz zwischen dem früheren CDU-Mann Krah, dem mutmaßlichen Doppelagenten und den russischen Hintermännern auffliegen, die versucht hatten, ihre in einem "Manifest" niedergeschriebenen Pläne, "die Umfragewerte der AfD zu steigern und bei Wahlen auf allen Ebenen eine Mehrheit zu erreichen", umzusetzen. 

Sechs Jahre Einflusskampagne

Die "chinesische Einflusskampagne" (T-Online) hatte da bereits sechs Jahre angedauert, es war Peking mehrfach sogar gelungen, deutsche und europäische Spitzenpolitiker nach China zu locken, die dort allerdings überwiegend Fragen des fairen Wettbewerbs ansprachen, das Problem der Gewährung grundlegender Menschenrechte aber nur in vorsichtigen Nebensätzen erwähnten.

Der Versuch, die Integrität der EU-Wahl zu beschädigen, ist der ehrgeizigen Supermacht im Fernen Osten jedenfalls fürs Erste missglückt. Da auch das russische Vorhaben, nicht wie bisher über Verbindungen in die SPD und das Unterstützermilieu in der Linkspartei und bei der Wagenknecht-Bewegung für die Sache des Kreml zu trommeln, durch die Enttarnung der Päckchenübergabe an Krahs Kollegen Bystron und die Festnahme zweier Deutschrussen mit Sabotageplänen gescheitert ist, ist die Sicherheit vorerst wiederhergestellt.