Samstag, 30. September 2023

Zitate zur Zeit: Eine Sextillion chemischer Reaktionen

Wie kann man die Kontrolle über die verblüffend komplexen, mikroskopisch kleinen biologischen Prozesse haben, die das Leben erhalten? 

Mit jedem Herzschlag entstehen und sterben zwei Millionen Blutzellen. Bei etwa 40 Billionen Zellen im Körper laufen jede Sekunde mindestens eine Sextillion chemischer Reaktionen ab – und nicht eine einzige davon kann von irgendjemandem kontrolliert werden. 

Der Mensch ist ein unfreiwilliger Passagier in einer Achterbahn, die kaum auf den Schienen bleiben kann.

Peter Cawdron, "Kalte Augen: Erstkontakt", 2023

Kammerspiel um Klimakleber: Ein Heldengesang auf den Straßenkampf

Kurz vor dem endgültigen Auslaufen der kurzlebigen Aufstandsbewegung bietet das ZDF mit "Aufgebauscht" einen kammerspielartigen Rückblick als Heldengeschichte.

September. Hitze. Der Planet glüht. Die Gletscher schmelzen. Die Regierung hat den Klimakampf aufgegeben, die Streiks der Klimakinder sind abgeebbt, die drastischen Störaktionen der "Letzten Generation" ernten nur noch ein Achselzucken. Nichts geht mehr, weil der Trend von der Angst vor der Erderhitzung weg geht und hin zu immer mehr Furcht vor immer mehr Zuwanderung, immer mehr Rechtsextremismus, immer mehr Abschottung und immer weniger Kaufkraft und damit Wohlstand.  

Angst vor dem Abstieg

Dass sich "eine Gruppe Klimakleber", wie sie das ZDF abfällig nennt, auf eine Straße setzt und den Verkehr blockieren, ist ein Stück deutscher Protestfolklore geworden. Stehen die Richtigen in erster Reihe, entwickelt sich aus der Situation ein Großeinsatz der Polizei, die aufwendige Umleitungen veranlasst, um den verschreckten Jugendlichen und junggebliebenden Erwachsenen genug Zeit zu geben, den mitgebrachten Kleber anbinden zu lassen. Danach wird es chirurgisch. Fast schon liebevoll lösen Spezialbeamte die Patschehändchen mit Babyöl vom Asphalt. 

Nur wenn die Falschen zuerst dran sind, fällt der Protest kurz aus. Eine hochgezogene Augenbraue des noch nicht so lange hierlebenden Jungmannes. Ein schneller Schritt nach vorn. Ein unmittelbar abgebrochener Aufstand der letzten Generation. 

Zu Herzen gehende Dramaserie

Dass sich im Spannungsfeld zwischen spalterischem Aktionismus und konservativem Beharren auf dem staatlichen Gewaltmonopol eine zu Herzen gehende Dramaserie drehen lässt, hat das ZDF jetzt mit "Aufgestaut" unterstrichen, einem Sechsteiler, der den "voller Einsatz für das Klima" (ZDF) der Menschen auf der einen gegen die "Wut" der Menschen auf der anderen Seite stellt. Lena und Finn sind die sympathischen Helden, zwei Abziehbilder ihrer Generation, bis zum Kragen voller Furcht vor der Zukunft und fest entschlossen, der Mehrheitsgesellschaft ihren Willen aufzuzwingen.

Der anvisierten Zielgruppe angemessen sind die einzelnen Folgen nicht länger als eine Fußball-Halbzeitpause. Zu mehr reichen die 18,36 Euro nicht, die 45,96 Millionen Rundfunkbeitragszahler jeden Monat spendieren. Eingewebt in die von bemühten Laiendarstellern auf die Leinwand gewuchtete Handlung findet sich eine kleine Liebesgeschichte, ein bisschen Coming-of-Age-Beklemmung und die brutale Selbstbezogenheit der arbeitenden Mehrheitsbevölkerung. 

Gewalttätig gegen gemeinnützig

Altklug gegen egoistisch. Gewalttätig gegen aufopfernd. Gemeinnützig gegen ein "defektes System" wie es im Soundtrack heißt. Wer noch Zweifel daran hatte, dass der in jüngster Zeit sogar von "medienkapitalistischen Heuschrecken" (ARD) kritisierte Gemeinsinnfunk mehr ist als ein Altersversorgungssystem mit Dutzenden von angeschlossenen Fußball-, Fernsehgarten- und Hitlerdoku-Abspielstationen, wird hier eines Besseren belehrt.

Als "Bewegung von Menschen, die vor dem Hintergrund des Klimawandels mehr Klimaschutz einfordert" heroisiert, steht für die Autoren Matthias Thönnissen und Zarah Schade nicht infrage, dass das Blockieren von Straßen oder Verunreinigen von Kulturgütern eine ehrenwerte Sache sind. Ob die Proteste allerdings "aufgrund ihres Anliegens legitim sind", werde "kontrovers diskutiert".

Durchdrehende Porsche-Reifen

Der Mann, der sich am schlimmsten aufregt, ist ein charakterloses Schwein, das den um seinen Arbeitsplatz bangenden fleißigen Mitbürger mit durchdrehenden Porsche-Reifen verrät. Der ältestes Protestler ein unbeugsamer Held. Die sich um die Blockade sammelnden  Bürgerdarsteller werden von durch ein unsichtbares Virus, eine versteinernde Bakterie oder die alte deutsche Gefolgsamkeitskrankheit gelähmt. Niemand tut etwas. Keiner traut sich. Einzugreifen könne "juristisch als Nötigung ausgelegt werden", fürchtet der professorale Großvater des Jungmannes, der dem Kleben seine vielversprechende Karriere als Richter geopfert hat.

Ja, es ist nicht alles schlecht am Klimakampf. Das Kammerspiel auf der Straßenkreuzung fasst den aktuellen Stand der Diskussion in Deutschland, dem einzigen Land weltweit, in dem die "Letzte Generation" noch klebt, sympathisch zusammen: Uneinsichtig ist das tumbe Volk. Fürsorglich und professionell kümmert sich die Polizei, bis der Hexenschuss des Leitenden Beamten die Ohnmacht der Staatsmacht offenbart. Der junge, eifrige Polizist bekommt Mitleid gratis, als er Lockerungsübungen macht. Verstärkung kommt nicht. 

Wie ganz Deutschland scheint die zugeklebte Straße in einer Zeitschleife gefangen. "Schon belehrt? Dreimal aufgefordert", kündigen die schließlich durch herbeigeeilten Beamten in Folge 4 hartes Eingreifen an. Doch als der Friedensukrainer vom Paketdienst seine Chance gerade nutzen will, die Probezeit bei seinem ausbeuterischen  Zustellunternehmen doch noch zu überleben, springt der Klima-Volkssturm auf die Straße: Margot, ausgerüstet mit sechs Flaschen Feuerzeugbenzin.

Festgeklebt in der Zeitschleife

Eine Oskar Brüsewitz in tarngrün, eine Alt-68erin mit Kampferfahrung aus Wackersdorf, enttäuscht über die Genossen, die beim Marsch durch die Institutionen bis in die Regierung gescheitert sind. Sie habe doch aber "gar kein Aktionstraining", bekommt sie gesagt. Den Richterenkel drückt die Blase. Ganz hinten droht eine Frau zu entbinden. Die cellospielende Sympathisantin sieht ihre Chancen auf eine Weltkarriere schwinden. Die Altlinke Margot schwingt eine revolutionäre Rede. "Die Erde wird brennen", ruft sie und schickt sich an, sich selbst anzuzünden, um eine Zeichen zu setzen. Der ukrainische Paketfahrer, in Wirklichkeit eine Fachkraft, bringt ein gesundes Mädchen zur Welt.  Die Cellofrau absolviert ihr Vorspiel virtuell. Alle klatschen.

Gute Arbeit, lobt der Anführer der Klimakleber. Passanten bringen Kuchen vorbei und sagen "danke,d dass ihr das für uns macht." Die Hetzer und Drängler sind weg, der Kleber ist gelöst. Paradies Deutschland. Nur im Eckkiosk hält der schwarze Mann dem alten Richter einen Vortrag darüber, dass seine Generation an allem schuld ist, am Klima, am Elend, daran, dass sein Bruder nun wirtschaftlich verfolgt wird und die Mutter allein daheim sitzt. Happy End im vorübergehenden Gewahrsam: Lena, die innerlich vor Klimafieber glühende Jeanne d'Arc, lehnt ihren Kopf an die Schulter von Finn, dem Wuschelkopf mit dem Harndrang.

Beide werden später keine Kinder haben. Beide werden kein Einfamilienhaus beziehen. Beiden werden nie Urlaub machen, kein  Auto haben, mit Strom heizen oder aber mit dem, was gerade angeordnet ist. Beide werden CO2 sparen und ein Leben des Verzichts führen, aber sie werden glücklich sein. 

Freitag, 29. September 2023

#LastNightInSweden: Plötzlich Bomben auf Bullerbü

#lastnightinsweden Trump Spiegel Lüge
Die Reihen fest geschlossen gegen eine unerwünschte Wirklichkeit: 2017 konnten sich "Spiegel"-Leser noch darauf verlassen, dass in Schweden alles super war. Sechs Jahres später hat das Magazin den Kampf gegen die unerwünschte Realität aufgegeben.

Nichts war da gewesen, gar nichts Ganz Schweden ein einziges Bullerbü, beneidenswert der kräftige, gut gewachsene Sozialstaat, die hübsche sozialdemokratische Regierung, der liebevolle Umgang der Einheimischen mit Natur und Umwelt, ihre Abkehr vom Atom und ihr Krimis erst. Weltklasse. Fast schon normal, dass sich der damalige US-Präsident Donald Trump die Schweden vorgenommen hatte, um stellvertretend für das ganze, ihm so verhasste alte multikulturelle Europa ein Exempel zu statuieren. "Schaut euch an, was in Deutschland passiert, schaut euch an, was gestern Abend in Schweden passiert ist", krähte Trump vor sechs Jahren von einer Wahlkampfbühne, ohne ins Detail zu gehen.

Nichts war damals passiert

Kein großes Wagnis. Sowohl Deutschland als auch Schweden sind ausreichend bevölkert, so dass stets irgendetwas passiert. Mal ist ein Unfall auf der Autobahn, mal ein Sechser im Lotto. Mal sagt der eine was, mal der andere. Mal werden Flugblätter mit Verspätung entdeckt. Mal ist die europäische Lösung eines lange, lange Zeit untragbaren Problems nur noch 14 Tage oder 14 Monate oder 14 Jahre weit entfernt.

Was aber mit #LastNightInSweden gemeint war, wusste trotzdem jeder. Schwedens Städte wurden seinerzeit schon geraume geplagt durch das, was die Behörden allmänfarlig ödeläggelse genom sprängning nennen: Schaden durch Explosion, verursacht durch rivalisierende Banden, die einander mit Handgranaten, automatischen Waffen und selbstgebauten Bomben angriffen, um Reviere zu erobern oder zu verteidigen. Das Phänomen war weltweit so einmalig wie die Anwendung von Messern im Straßenkampf deutsch ist. Es wäre allerdings auch Wasser  auf die Mühlen der Falschen gewesen, hätten Medien darüber berichtet, dass der Sicherheitschef der Stadt Malmö, Jonas Hult, über die 200 Schwerkriminellen seiner Stadt gesagt hatte, "dass diejenigen mit einem nicht-schwedischen Hintergrund stärker vertreten sind".

Zum Glück keine belastenden Daten 

Es gab keinen Grund dafür. Deutsche Faktenchecker wiesen umgehend nach, dass es glücklicherweise gar keine Daten zur Herkunft der Täter gebe. Dem Deutschlandfunk gelang es sogar,  die gelegentlich durchdringenden Nachrichten über Bomben in Bullerbü  als "teils hysterische Debatte" zu enttarnen. Malmö etwa sei überhaupt nicht "Schwedens Chicago", denn hier würde gerade mal 3,4 Menschen pro 100.000 Einwohner pro Jahr erschossen, in Chicago seien es aber mit 28 viel mehr.

Eine neue Normalität, gemessen am deutschen Schnitt von 0,5 bis 0,8 Tötungsdelikten mit Schusswaffen pro Jahr und 100.000 Einwohner. Schwedens "wachsendes Problem mit Handgranaten" (Euronews) hatte mit nichts zu tun, die Tage, an denen "die Zahl der Bombenanschläge" auch in der Berichterstattung "stark anstieg" (Tagesspiegel), sie lagen noch weit in der Zukunft. Noch suchte der Deutschlandfunk keinen Ausweg aus der "Gewaltspirale", weil es sie gar nicht geben konnte. Noch war auch die Hamburger "Zeit" nicht geschockt durch die "Gangs of Stockholm" (Zeit), die Schweden vorerst noch vom "Vorzeige- in eine Wegschau-Land" (SWR) verwandelt hatten.

Brandmauer gegen die Wirklichkeit

Gegen Trumps Behauptungen, da stimme doch was nicht, standen alle gemeinsam wie eine Brandmauer gegen die Wirklichkeit. "Schwedische Medien kontern Trump - mit Fakten", schwurbelte das ehemalige Nachrichtenmagazin "Der Spiegel", das in seinen besseren Zeiten Reporter nach Schweden geschickt hätte, um nachzuschauen. Nun aber froh war, Trump mit Hilfe des gewerkschaftsnahen schwedischen Blattes "Aftonbladet" der Lüge überführen zu können. Das, schon im Zweiten Weltkrieg ein verlässlicher Vertreter deutscher Interessen, wies nach, dass Waffengewalt in den letzten Jahren sogar zurückgegangen sei.

Kann es denn schöner kommen?  Mit einem schlag war die Achse Deutschland-Schweden gestärkt, die Demokratie verteidigt, Trump schlagend widerlegt und den Falschen das Wasser von der Mühle geleitet. Im Hamburger "Spiegel"-Hochhaus war man sich sicher, dass niemand in Deutschland schwedische Medien konsumiert, die seinerzeit schon den Verdacht äußerten, Idyllien verwandle sich gerade in Kollapsistan. Beim "Spiegel" beschlossen sie, dass die Widerlegung Trumps für alle Zeiten ausreichen muss. Schweden, die Handgranaten, die Toten, die Morde, sie kamen nun einfach nie mehr vor.

Beharrlicher Breichterstattungsboykott

Bis jetzt zumindest. Zum Leidwesen der deutschen Medien lässt sich der Bandenboykott mittlerweile nicht mehr durchhalten. Seit Trumps #lastnightinsweden hat der tägliche Terror einen Regierungswechsel bewirkt, Schweden veranlasst, jede Menge Gesetze zu verschärfen und die ähnlich wie Deutschland lange zur Verleugnung bestimmter Probleme neigende schwedische Gesellschaft zu einer so offener Worte gemacht, dass selbst die deutsche "Tagesschau" Mühe hatte, die "schwedische Epidemie" so wolkig zu umschreiben, dass das Wort "Integrationsproblem" hätte vermeiden werden können.

Nun, wo die Wirklichkeit erneut einen Sieg über die Behauptung feiert, ist auch der "Spiegel" wieder am Ball. Mittendrin statt nur am Zeitungsständer mit den schwedischen Postillen schreibt das Magazin von einer "Welle der Gewalt", wegen der "Schwedens Regierungschef das Militär gegen Bandenkriminalität einsetzen" wolle. Elf Tote in einem Monat sind allerdings kein Grund, übertrieben emsig nach Ursachen zu forschen, die ausschlaggebenden Milieus ins Visier zu nehmen oder nach den Tätern zu fragen. Beim "Spiegel", der ja völlig neu ist im Metier, geht es um "mutmaßliche Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten kriminellen Banden", das "kriminelle Foxtrot-Netzwerk, das im Zentrum der jüngsten Gewaltwelle" steht, und um "junge Männer oder Minderjährige", die sterben, dem Bericht zufolge zum Glück noch, ohne dass es Täter oder auch nur Vermutungen über mögliche Verdächtige gibt.

Die Zahnfee: Die Radikalisierung des Friedrich M.

Die Zahnfee der CDU: Mit seiner Gebissstrategie versucht sich Friedrich Merz an einer Wurzelnkanalbehandlung. Abb: Kümram, Aquarell, Wasserfarben

Man hatte ihn gewarnt. Aber nun hat er es doch wieder getan. Friedrich Merz geht auf der Suche nach künftigen Mehrheiten zwar Kompromisse ein, doch in der Regel nie den gesamten Weg zurück: Er prescht vor, zieht den Schwanz ein, entschuldigt sich zur Not auch mal. Setzt aber schon Tage oder Wochen später nach. Die "kleinen Paschas", die Aussage, dass es so nicht weitergehen könne, Regierungskritik, die Forderung nach einer Begrenzung der Zuwanderung - das "Zündeln", wie es die Süddeutsche Zeitung in einer Analyse nannte, gehörte schon immer zum "Mann mit den Schwefelhölzern" (SZ), von dem unvergessen geblieben ist, wie er schon damals, im Frieden, versuchte, die allseits beliebte Bundeskanzlerin Angela Merkel anzugreifen.

Neues Leben, neue Zähne

Seitdem ist nicht nur Friedrich Merz härter geworden, die Zeiten sind es auch. Wenigstens aber ist es leichter geworden, den politischen Gegner auf die Palme zu bringen. Dass sich viel Nochnichtsolangehierlebende nach ihrer glücklichen Ankunft in Deutschland  gern auch "die Zähne neu machen lassen", wie Merz jetzt behauptet hat, war schon schon kurz nach dem großen Asylkompromiss von 1992 Anlass, die Bezahlung von Krankenversicherungsleistungen für Nichtversicherte  an die "nach § 10 bestimmte örtlich zuständige Behörde zu delegieren, "in deren Bereich der Leistungsberechtigte nach dem Asylgesetz oder Aufenthaltsgesetz verteilt oder zugewiesen worden ist oder für deren Bereich für den Leistungsberechtigten eine Wohnsitzauflage besteht."

Das 30 Jahre später unbefangen auszusprechen gleicht dem Versuch, Schlagzeilen von vor fünf Jahren noch einmal mit Betonung vorlesen zu wollen. Damals drohte ein Zahnärztemangel, vor allem auf dem Land. Seitdem kamen knapp zwei Millionen potenzielle Patienten neu ins Land. Aber im selben Zeitraum ist es auch gelungen, dafür zu sorgen, dass "man beim Zahnarzt in der Regel problemlos einen Termin bekommt". In der Regel, wenn auch vielleicht nicht gleich. Wer das bestreitet, hetzt, denn erst "nach den ersten 18 Monaten des Aufenthalts werden Asylbewerber und Geduldete von den gesetzlichen Krankenkassen betreut". So dass sie auch erst dann Anspruch auf den vollen Leistungskatalog haben.

Zähne oder alle Zähne

Merz scheinen solche Fakten aber mittlerweile vollkommen gleichgültig zu sein. Früh hatten Faktenchecker dem CDU-Chef nachgewiesen, dass seine Aussagen gelogen seien, sobald man sie auch nur ein wenig drehe und wende. Zahnersatz werde gar nicht bezahlt, widerlegte das ZDF, was Merz nie behauptet hatte. Das teilstaatliche Portal T-Online erweiterte dessen Aussage von "die Zähne neu machen" auf  "alle Zähne neu machen" und hatte ihn sofort wieder bei einer Lüge ertappt. Auch die Illustrierte "Stern" musste nur "reihenweise" einfügen, um Merz als üblen Provokateur zu enttarnen. 

Bundesinnenminister Nancy Faeser habe recht, wenn sei Merz "erbärmlichen Populismus auf dem Rücken der Schwächsten" vorwerfe: "Asylsuchende werden nur behandelt, wenn sie akut erkrankt sind oder unter Schmerzen leiden." Niemand kommt der Zähne wegen, wies die SZ nach. Das zu behaupten, auch wenn Merz es nicht getan hatte, treibe der AfD noch mehr Menschen in die Arme. Bodo Ramelow, der scheidende thüringische Ministerpräsident, brachte es auf einen Punkt: Hätte Merz nicht gesagt, dass Zuwanderer zum Zahnarzt gingen, liefen nicht seit Jahren schon immer mehr Leute zum Rechtsextremismus über.

Das von der Frankfurter Rundschau seit Jahren geführte Sündenregister des Friedrich Merz  ist damit um einen Eintrag reicher. Lange, vielleicht allzu lange, haben ihm die demokratischen Wettbewerber, die unabhängigen Medien und selbst bis zu einem Drittel der Wählerinnen und Wähler seien Eskapaden zum rechten Rand noch verziehen. Zwinkernd aus einem komplizenhaften Einverständnis meinte so mancher, das sei nun eben Merz' Rolle. Der 67-Jährige habe nur noch bei der nächsten Bundestagswahl die Chance, sich den Traum vom Einzug ins Kanzleramt zu erfüllen. Und eben im Unterschied zum früheren Kanzler Gerhard Schröder oder dessen Nachfolgerin Merkel weder Bild noch Bams noch die Programmersteller für die Gemeinsinnglotze hinter sich.

Radikalisierung  im Sauerland

Doch allmählich bewegt sich der Sauerländer in ein Grenzgebiet, in das ihm womöglich von andauernden Asylkompromissen, stationären Grenzkontrollen, Schleierfahndung und der Beschwörung fortlaufender Überforderung genervte Wutbürger, nicht aber die entscheidenden Teile der politischen Klasse folgen werden. Wer sich dorthin begibt, das weiß jeder Volksvertreter, "muss die Sorgen der Bürger ernst nehmen" (FAZ), statt jeden, der Sorgen hat, als Opfer übler Einflüsterer abzutun. Friedrich Merz sieht sich wohl durch Umfragen in seiner gefährlichen Strategie bestätigt: Was die AfD gewinnt, verlieren SPD, Grüne und FDP, nicht aber seine Union. 

So ist anzunehmen, dass er in den nächsten Monaten trotz aller Kritik aus dem demokratischen Lager festhalten wird an seinem Kurs ins Abseits. Munition für die nächsten Salven auf die Brandmauer hat der frühere Blackrock-Manager und Einflüsterer, die ihm schon zur nächsten Ungeheuerlichkeit geraten haben. Merz könne doch sagen: "Wir haben über 300.000 Illegale und Ausreisepflichtige im Land, die den Steuerzahler Milliarden kosten, unseren Sozialstaat belasten und wirklich Schutzbedürftigen den Platz wegnehmen". Dann wäre aber erst was los.

Donnerstag, 28. September 2023

Damenwahl: Dampfertour ohne trans Menschen

Nancy Faeser sinzeniert sich gern als fürsorgliche Mutter für alle Menschen. Aber trans Personen will sie nicht um sich haben
Demonstrativ spricht Nancy Faeser gern von "allen Menschen". An Bord ihres Wahlkampf-Dampfers aber möchte sie nur Frauen lassen, keine trans Personen.

Wenn einem die Felle davonschwimmen, dann heißt es Leinen lohos! und raus aufs Wasser, um zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Auch die hessische Wahlkämpferin Nancy Faeser weiß, dass es da kein Vertun gehen kann:; Wer Schiffbruch erleiden will, braucht wenigstens ein Boot. Wer sich dem Untergang geweiht hat, der sticht am besten nur mit seinesgleichen in See, damit das Narrenschiff (Der Spiegel) nicht zu tief im Wasser liegt.  

Reise ohne Wiederkehr

Für Nancy Faesers Wahlkampf-Ausflug auf dem Main, geplant als Frauenrunde den drei Ministerpräsidentinnen Malu Dreyer (Rheinland-Pfalz), Anke Rehlinger (Saarland) und Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern) hat der hessische Landesverband der deutschen Sozialdemokratie deshalb auch klare Regeln vorgegeben: Weil nur Frauen zur Reise ohne Wiederkehr nach Wiesbaden geladen sind, sollen auch keine Männer an Bord dürfen, um die üblichen entlarvenden kritischen Reportagen über die finale Runde im erfolglosen Landtagswahlkampf der SPD zu schreiben.

Ein echter Faeser. Die 53-jährige Lokalpolitikerin, die zwar schon seit 2009 der Arbeitsgruppe "Innen" des SPD-Parteivorstands angehört, der an neuen Sprachvorschriften für den Parteiapparat arbeitet, arbeitet erst seit zwei Jahren auf der Bundesebene, hat aber überall schon deutliche Spuren hinterlassen. Auf ihr Konto gehen mehrere verbotene Nazi-Organisationen, die Wiedereinführung von Grenzkontrollen trotz aller Mahnungen der EU zu einer Rückkehr zum geltenden Recht und die erschütternden Bilder aus Kiew, die vielen Deutschen zeigten, dass Krieg nicht immer nur gedrückte Stimmung und Angst vor völkerrechtswidrigen Angriffen sein muss.

"Unkonventionelle Regeln"

Die "unkonventionellen Regeln" (Focus) für die Pressekonferenz nach der großen Main-Kreuzfahrt sorgte dennoch für Empörung. Die männlich dominierte hessische Landespressekonferenz (LPK) verkündete, dass es sich um einen "Anschlag auf die Freiheit der Presse" handele. Über eine Veranstaltung für "Ladys only" klagt der Mediendienst Turi, als "Wunsch" bezeichnet das teilstaatliche Portal T-Online die Aufforderung, dass "mit Blick auf die ausschließlich weiblichen Gäste der Schifffahrt" auch die "Presseplätze mit Frauen besetzt" werden sollten. 

Eine verständlich Aufregung, die jedoch zugleich viel über die immer noch fest betonierten Empörungsschienen erzählt, auf  denen Skandale und Skandälchen in Deutschland ins Freie gefahren werden. Hier sind es nun wieder ausgerechnet die ohnehin privilegierten zumeist weißen, männlichen Journalisten, an deren Anwesenheit an Bord der Fortbestand der Pressefreiheit festgemacht wird. Zwar vermeiden es überregionale Medien wie die Tagesschau, ZDF heute, Süddeutsche Zeitung, der "Spiegel" und die "Zeit" mit Rücksicht auf die ohnehin prekären Umfragewerte der Noch-Ministerin, in die Klage über handverlesene Berichterstatter einzustimmen. 

Kein Wort über trans Personen

Doch auch bei den Medienhäusern, die sich für einen Fortbestand der Unabhängigkeit von Redaktionen bei der Entscheidung über die personelle Besetzung von Themengebieten und Terminen ohne Berücksichtigung von Alter, Hautfarbe oder Geschlecht stark machen, findet sich kein Wort des Bedauerns darüber, dass die SPD faktisch nicht nur Männer auszuschließen versucht, sondern auch trans Personen. Die unverhohlen als "Bitte" verbrämte Aufforderung, nur Frauen zu entsenden, schließt Angehörige von wenigstens einem Dutzend bis hin zu 69 Geschlechtern kategorisch aus. Ausgerechnet die ehemals progressive SPD fällt hier zurück in das duale Schema eines Biologismus, nach dem es durch unterschiedliche Chromosomenpaare definierte Geschlechter gibt und darüberhinaus nur Vorstellungen, die im gesellschaftlichen Disput nicht ernstgenommen werden müssen.

Erschreckend ist nicht nur dieser Rückfall ins längst vergangenen Zeiten, sondern auch die mediale Reaktion. Dort, wo sich in der Regel ganze Redaktionen mit der Verteidigung des Geschlechts im sozial-kulturellen Kontext beschäftigen, herrscht nach dem unerklärlichen Angriff der hessischen Sozialdemokratie auf den gesellschaftlichen Konsens ein betäubtes Schweigen. Niemand nirgendwo, der das Recht von trans Reportern verteidigt, mit an Bord zu gehen. Keiner da, der Faesers Wahlkampfmanagern deutlich macht, dass eine Politikerin es nicht dabei belassen kann, gelegentlich eine "One Love"-Binde spazierenzuführen. Sondern dass sie den Inklusionsgedanken tagtäglich leben muss.

Doku Deutschland: Wahlkampf mit der Artgemeinschaft

Der Esoterismus der Artgemeinschaft konnte nach 72 Jahren keinen Tag länger hingenommen werden.

Ich verrate Ihnen bestimmt nicht zu viel, wenn ich sage, dass die Älteren hier im Haus, also die Kollegen, die schon länger hier sind und schon mehr zwei, drei Minister erlebt haben, eigentlich ganz genau wussten, dass da noch was kommt. Freilich, als die Sache sich vor ein paar Tagen zuzuspitzen begann und von ganz oben der Wunsch kam, dass die Fachabteilungen doch bitte etwas finden mögen, wo sich ein bisschen am Wind drehen ließe, da wurde brutal schnell reagiert.

Übers Wochenende verbotsreif

Ich glaube, wenn ich mich recht entsinne, hieß es am Freitag, es solle mal geschaut werden, dass wir eine Naziorganisation übers Wochenende verbotsreif bekommen, dass man also am Montag eine Pressekonferenz machen kann und sage, so und so, die und die Gefahr für Land und Leute und die ganze Demokratie. Und deshalb sind die jetzt verboten. Und nun schreibt mal schön was darüber und nicht immer über Migranten und Grenzkontrollen und den ganzen Quatsch mit dem abgesägten Computersicherheitspräsidenten.

Das hat dann soweit auch gut funktioniert, weil die jahrelangen Warnungen aus unserem Haus haben ja auch eine gewisse Sensibilisierung hervorgebracht. Dass wir da nun so entschlossen losgeschlagen haben gegen die Hammerskins, das war schon wichtig, auch für die Ministerin, die schon etwas Druck hatte, wenn ich das mal so sagen darf. Da fügte es sich glücklich, dass diese Truppe mit 120 Mitgliedern und immerhin 28 Führungsköpfen zwar seit 1991 bekannt, aber bis dahin nie verboten worden war. Hatten wir jetzt gut was in der Hinterhand, wo wir es brauchen konnten.

So manchen Sturm erlebt

Aber wie gesagt, die Älteren im Haus, die schon manchen Sturm miterlebt haben, ahnten, dass es das nicht gewesen sein wird. Es gab jetzt nicht direkt danach Aufforderungen, im Geheimarchiv zu schauen, was noch an obskuren Gefahrenherden unter ferner liefen abgelegt war. Aber ich denke, der eine oder andere Kollege ist da schon ziemlich zeitig auf eigene Faust losgezogen, um zu schauen, was sich in diesen zum Teil ja schon versteinerten Beständen aus den Handakten frühere Minister eventuell noch mal nutzen lässt. 

Ich sehe das ja ähnlich. All die Ermittlungen, das jahrelange Ausscheiden von Zeitungsartikeln, dann das Beobachten mit Feldstechern und das Abhören, da hat der Steuerzahler ja auch alles schon bezahlt. Da ist es immer schade, wenn solche Erkenntnisse im  Keller verstauben und keiner erfährt, dass die Hammerskins geheime Konzerte veranstaltet haben, von denen niemand etwas wusste, und Kontakte zur Partei Der III.Weg unterhielt, die zuletzt ohne Erfolg bei der Bundestagswahl angetreten war.

Ein bisschen Aktivität nachweisen

Der fleißige Einsatz der Kollegen, ich glaube, es waren auch einige Kolleginnen dabei, hat sich letztlich ausgezahlt. Denn es dauerte ja dann doch keine zehn Tage, bis von oben wieder der Wunsch an uns herangetragen wurde, ein bisschen Aktivität nachzuweisen und der Öffentlichkeit, die da auf jeden Fall einen Anspruch drauf hat, so ist es ja nicht, zu zeigen, wie wir angesichts der Sicherheitslage, die leider längst nicht mehr von allen Bürgerinnen und Bürgen für optimal gehalten wird, auf die Bedrohungen reagieren. 

Der Kollege H., Jens heißt er mit Vornamen, aber ich will ausdrücklich niemanden hervorheben, erinnerte sich dann zu unser aller Erleichterung an die Artgemeinschaft, einen eingetragenen Verein, der sich seit 1972 Jahren "Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung" nennt. Was für mich persönlich, also wenn Sie mich privat fragen würden, nach schwerem Hirnschaden klingt.

Gegen die germanischen Musterheiden

Aber sei's drum, das war es, was wir hatten. Ein Häuflein aus germanischen Musterheiden, brünett, von gedrungenem Wuchs und bundesweit fehlender Prominenz. Der letzte bekannte Nazi-Vorsteher ist ist seit 14 Jahren tot, die prominentesten Mitglieder sind ein Südafrikaner und ein Franzose. Die einzige Deutsche, deren Namen man mal kannte, ist seit 20 Jahren nicht mehr dabei, sie betreibt jetzt einen Frisiersalon, sagen unsere Experten. Ich nenne es einen sehr glücklichen Zufall, dass wir nach 72 Jahren endlich Material genug beisammen haben, um zehn Tage vor der Hessenwahl sagen zu können: Ja, es reicht, diesen Esoterismus kann sich der moderne Verfassungsstaat nicht mehr bieten lassen.

Klingt wohl wirklich ein wenig dünn, wenn man es zum ersten Mal hört. Aber die Lage ist eben, wie sie ist und diese Artgemeinschaft nun wenigstens noch als Wahlkampfjoker zu nehmen, wo die letzten Erkenntnisse der Bundesregierung zu den Siedlungsbemühungen dieser Eigenbau-Arier nun auch schon, ich sage mal, etwas grau um den Kopf geworden warn, das ist doch nur angemessen.

Ich sage mal so, ungeschützt: Die Frau Ministerin kämpft wie eine Löwin an mehreren Fronten: in Wiesbaden schwimmen ihr die Wahlkampffelle im  Rhein davon, in Berlin hat nicht einmal ihr Versuch, bei Frau "Anne Will" so zu tun, als habe sie schon immer gesagt, was sie immer bestritten hat, irgendeine Entlastung gebracht. Wäre der Kanzler nicht auch in ihrer Partei, das sage ich Ihnen, denn ich habe das schon erlebt, wäre sie schon dort, wo die anderen alle sind, die Frau Lambrecht und die Frau Spiegel und wie sie alle hießen, an die sich schon niemand mehr erinnert.

Machtwort nach links

Doch der Scholz ist ja ein Fuchs. Er weiß genau, dass er da in Hessen mit auf der Wahlliste steht und die ganze Schuld an der Pleite zugeschoben bekommen würde, wenn er unsere Ministerin jetzt hart oder überhaupt nur anfasst. Das Machtwort wegen dieser Grenzgeschichten, das hat er also ausdrücklich Richtung Grüne gesagt, genau wie das letzte Mal. Glauben Sie mir, die sind da noch froher drüber als wir hier im Ministerium, weil sie nun sagen können, sie können ja nicht anders.

Für unsere Chefin ist das eine schöne Sache. Sie hat jetzt den Kanzler und dessen Machtwort, dass Deutschland nichts dagegen hat, wenn die EU acht Wochen nach dem Jubel über den großen Beschluss zur europäischen Flüchtlingslösung mit einer Krisenverordnung einen Notmechanismus in Kraft setzt, der die "illegale Migration" begrenzt. Auf deren Seite glänzt sie mit einem weiteren harten Schlag gegen die Strukturen der Rechte, die mit ihren germanischen Sittengesetzen Festtage wie Wintersonnenwende, Ostern, Sommersonnenwende, Erntedank und Tagundnachtgleiche in Frühjahr und Herbst feiert und bei den jährlichen Sonnwendfeiern neben"zahlreiche Personen" auch "ehemalige Aktivisten" der rechten Szene als Gäste begrüßte.

Da muss für den Moment reichen

Damit ist nun Schluss, jedenfalls. Da geht jetzt nichts mehr. Für uns hier im Haus hoffe ich, dass das für den Augenblick reicht, denn ganz ehrlich gestanden töten wir uns sicher schwer, bis zum Wahltag gleich noch eine dritte Truppe für ein Verbot hervorzuzaubern. Ich denke aber, das wird nicht nötig sein. was ich gehört habe, in den Medien vor allem, bestätigt uns ja. Da ist schon ein großes Aufatmen durch Land gegangen, als klar wurde, dass diese Artgemeinschaft nach so vielen Schlagzeilen nun endlich vom Tisch ist.


Mittwoch, 27. September 2023

Katarina die Große: Angriff auf Europa

Im Zeichen des Sowjetsterns auf rotem Grund: Katarina Barley tritt wieder für Europa an.

Zack, war die Katze aus dem Sack und das Erwartete eingetreten. Noch haben die meisten Wählerinnen und Wähler draußen im Lande nicht einmal mitbekommen, was im Juni nächsten Jahres an historischem droht, das macht die deutsche Sozialdemokratie schon  Nägel mit Köpfen und die Namen der Verlierer bekannt. 

Katarina Barley soll es wieder sein, bei ihrer Premiere schon für das schlechteste Ergebnis verantwortlich, das jemals ein Sozialdemokrat aus Brüssel nach Hause holte. Nach fünf Jahren in weitgehender Unsichtbarkeit darf die 54-Jährige noch einmal ran - diesmal sogar freiwillig, denn nun ist daheim wirklich kein Platz mehr frei für die Frau aus Köln, die seinerzeit nach Europa gehen musste, weil die damalige Parteivorsitzende Andrea Nahles fürchtete, sie könne anderenfalls zu einer gefährlichen Konkurrentin um die Führung der Partei werden.

Entsendung ins Exil

Barley gab ihren Ministerposten damals nur auf, weil ihr kein Argument einfiel, das sie öffentlich gegen eine Entsendung ins belgische Exil hätte vorbringen können. Dort richtete die frühere Bundesjustiz-, Arbeits- und Sozial- und Familienministerin sich auf dem Posten der Vizepräsidentin des Europaparlaments ein, eine Stelle, die genug Beinfreiheit bietet, nebenher als Präsidentin des Arbeiter-Samariter-Bundes Deutschland Repräsentationsaufgaben in "nationalen und internationalen Spitzenorganisationen" zu übernehmen.

Im Zeichen des Sterns auf rotem Grund startet Barley nun in ihren zweiten Wahlkampf als SPD-Spitzenkandidatin: Bei der Premiere hatte sie noch mit mitreißenden Slogans wie "Europa ist die Antwort", "Zusammenhalt" und "Mach Europa stark" dermaßen auf sich aufmerksam gemacht, dass ihr 15,8 Prozent der Wähler ihre Stimme gaben. 

Rückenwind aus Berlin

Doch diesmal stehen die Vorzeichen deutlich besser: Überläufer zu den Grünen, die seinerzeit die traditionsreiche deutsche Sozialdemokratie damals bundesweit unter 15 Prozent gedrückt hatten, gibt es kaum mehr. Barley startet von einem soliden Stammwählersockel von 16 bis 17 Prozent und mit dem Rückenwind aus dem Kanzleramt, in dem nicht mehr eine ungeliebte  Kanzlerin sitzt, als der Juniorpartner man dienen muss. Sondern ein Genosse, der die Regierung im Sinne der einfachen Menschen, der Arbeiter, kleinen Angestellten, Reihenhausbewohner und Sparkassenkunden führt.

Katarina Barley hat penibel an ihrer Botschaft für all die Menschen feilen lassen, Die alte Message vom Europa, das seit 70 Jahren Frieden garantiert (Stand 2017), hätte selbst für eine Sozialdemokratin sehr durchgeistigt geklungen. Deshalb spricht Barley nun davon, dass "Europa den Menschen seit 70 Jahren Stabilität" gäbe, wenn auch ohne die Jahre weiterzuzählen. Geologisch gesehen greift das angesichts der Entstehung Europas von 250 Millionen Jahren etwas kurz, aber jeder weiß, was gemeint ist: Irgendetwas muss sie doch sagen. "Ich stehe für ein Europa, das das Leben der Menschen verbessert, einfacher gestaltet und Sicherheit bietet." Oder stand, denn der entsprechende Inhalt ist derzeit nicht verfügbar.

Alle Diktator, außer Uschi

Was da ist, zeigt, dass Barleys Kampf noch lang und verzweifelt zu werden verspricht. Die frühere Generalsekretärin der SPD, eine Ziehtochter des langjährigen Vorsitzenden Sigmar Gabriel, hat sich bei aller sonstigen Unauffälligkeit der Amtsführung immer wieder ausdrücklich als Streiterin gegen rechts inszeniert, wobei sie zwischen falschwählenden Thüringern, AfD-Funktionsträgern, ausländischen Staatsoberhäuptern und als konservativ geltenden Parlamentskollegen wie dem europäischen Leidensgenossen Manfred "The Power of We" Weber keinen großen Unterschied sieht. 

Sachlich macht ihr sowieso kaum jemand etwas vor: Schon als Ministerin verblüffte Katarina Barley mit erstaunlichen Eröffnungen über die Nicht-Existenz der Nato, über kleine, gemütliche Cafès, die 40 Millionen Euro Steuern zahlen, und ihren tiefsitzenden Wunsch nach möglichst schneller Auflösung der vom Grundgesetz eigentlich mit einer Ewigkeitsgarantie ausgestatteten Bundesrepublik. Hauptsache wahrgenommen werden. Hauptsache vorkommen. Es sind harte Zeiten für Menschen, die sich ohne eine Sekunde nachdenken zu müssen zutrauen würden, die Welt zu regieren. Und dann wieder auf die Nase fallen, weil sie sich die Schürsenkel nicht binden können.

Unter eingebildeter Last

In der SPD ist Katarina Barley damit zum Glück nicht allein. Hier streben alle nach dem Höchsten, nach den größten Kampf und der schwersten Last, die ein Mensch sich einbilden kann. "Unser Europa" hat Parteichefin Saskia Esken den Kontinent ausdrücklich für sich, für Barley und all die anderen Funktionäre zur Verkündigung der Kandidatur Barleys in Beschlag genommen, "unser Europa steht als Bollwerk gegen den Rechtsruck." Und zu Barley, ehemals Rechtsanwältin, Amtsrichterin, Referentin in einem Landesministerium und Beamtenbeirätin ermutigend: "Und wir stehen da an deiner Seite."

Ein Stück Wand, jedermann und jene Frau ein Stein.

Zustromkrise: Die polnische Eröffnung

Die Zeiten, als progressive Politikerinnen mutig deutliche Zeichen für immer mehr Zuwanderung setzten, sind vorüber. Inzwischen wetteifern alle um möglichst rigorose Abschottungsmaßnahmen.

Es war ein typischer Scholz, den der Kanzler da in Berlin vom Stapel ließ. Mitten im Koalitionsstreit um den Zustrom von Neuankömmlingen aus aller Herren Länder zeigte Olaf Scholz, was ihn von all seinen Ministern, der Partei- und Fraktionsvorsitzenden, den Quenglern und Jammerern auf den Oppositionsbänken und selbst den Analysten bei den führenden Medienhäusern unterscheidet. Während die noch stritten, ob nun Grenzkontrollen oder Schleierfahndung, freiwillige Ausweisprüfung bei der Einreise oder Kampf gegen professionelle Schleuser Deutschlands Beliebtheit bei den Verfolgten überall auf der Welt rasch mindern könnten, erweiterte der Bundeskanzler einfach das Schlachtfeld und erfand einen neuen, alten Gegner als Verantwortlichen für die seit Monaten steigenden Zahlen.

Auf der Suche nach Schuldigen

Die Wahl fiel, wenig überraschend, auf Polen. Das Nachbarland hatte sich bereits in den zurückliegenden Jahren nach und nach aus der europäischen Wertegemeinschaft zurückgezogen. Immer wieder mussten Brüsseler Beamte regelnd eingreifen und deutsche Medien mahnend ihre Stimme heben. Längst sind die Verfahren, die die europäischen Demokraten gegen die Regierung in Warschau führen, zu einem "unentwirrbaren Knoten" (Tagesschau) geworden, den Optimisten allenfalls noch durch einen Machtwechsel im Präsidentenpalast in der Warschauer Königsstraße für noch lösbar halten. Wie Ungarn gilt Polen als EU-skeptisch und nationalistisch. Gehörte das Land zu Thüringen, würde die Regierungspartei PiS zweifellos als teilweise gesichert vom Verfassungsschutz im Blick behalten.

Warum also nicht Polen, mag sich Olaf Scholz gedacht haben, als er mit Blick auf die steigende Zahl von Migranten an der deutsch-polnischen Grenze sagte, er wolle nicht, dass Neuankömmlinge aus Polen einfach durchgewinkt würden. Vielmehr, so Scholz, gelte das Prinzip, dass "wer in Polen ankommt, dort registriert wird und dort ein Asylverfahren macht". Aus Sicht des deutschen Regierungschefs soll das künftig offenbar auch für Inhaber von gültigen Visa gelten, wie sie polnische Konsulate in Afrika und Asien ausstellen. Diese massenhaften Arbeitsvisa, so heißt es im politischen Berlin, seien "irgendwie für Geld verteilt worden" und deshalb gar keine richtigen Visa wie sie Deutschland vergebe. 

Gemeinsamer Grenzzaun

Alte Ressentiments gegen Polen, neu aufgelegt. Wurde vor einem Jahr noch gemeinsam gefeiert, als Polen auch mit finanzieller Hilfe der EU, die zum großen Teil aus Deutschland kam, seinen neuen Grenzzaun zu Belarusdemfrüherenweißrussland fertigstellte, der Russland hybride Migrationsangriffe auf die EU abwehren sollte, herrscht jetzt Katzenjammer über die legalen Zuwanderungsmöglichkeiten, die Warschau Menschen aus dem Nahen Osten und Afrika bietet. Die polnischen Visa gestatten die Einreise nach Polen über den Luftweg, die offenen Grenzen des Schengenraums erlauben es sogenannten Drittstaatsangehörigen mit einem Aufenthaltstitel anderer EU-Staaten, ungehindert von der innereuropäischen Reisefreiheit Gebrauch zu machen und aus Polen weiter nach Deutschland zu reisen, dessen Willkommenskultur seit 2015 weltweit berühmt ist.

Doch die Tage, als deutsche Politiker und deutsche Medien stolz waren auf dieses Alleinstellungsmerkmal, sie sind vorüber. Getrieben von der Angst vor Populisten und Fremdenfeinden schieben sich die demokratischen Parteien seit dem Ende der Sommerpause und der Verkündigung des Beginns der neuen Flüchtlingskrise gegenseitig die Verantwortung zu. Die SPD sieht ein Versagen der FDP, die Grünen-Chefin fordert mehr und schnellere Abschiebungen, die Union noch mehr und sogar die Innenministerin will wegen ihres bisher unglücklich verlaufenden Wahlkampfes in Hessen die "Gangart verschärfen" (BMI) und trotz der von der EU schon vor Jahren angemahnten Beendigung temporärer Grenzkontrollen neue Polizeihundertschaften gegen illegal Einreisende einsetzen.

Die polnische Eröffnung

Scholz' polnische Eröffnung liefert nun zumindest eine Begründung für Abschottungs- und Abschreckungsmaßnahmen, wie sie bisher ausschließlich von ausgewiesenen Gegnern einer demokratischen Migrationspolitik gefordert worden waren. Der junge Mann aus Guinea, der über das Mittelmeer kommt, in Italien landet und sich dann nach Norden aufmacht, um in Deutschland ein neues Zuhause zu finden, unterscheidet sich dieser Lesart zufolge grundsätzlich von seinem Nachbarn in Kankan oder Faranah, der mit einem polnischen Arbeitsvisum nach Europa gekommen ist, um sich von Warschau aus nach Westen aufzumachen, wo er hofft ein neues Zuhause zu finden.

Dienstag, 26. September 2023

Nord-Stream-Anschlag: Europas stiller 11. September

Verschwörungstheoretiker beschuldigten zeitweise sogar die USA der Täterschaft.

Als es kräftig krachte, vor einem Jahr am Boden der Ostsee, machte sich schnell Erleichterung breit. Endlich war die Diskussion zu Ende, ob Deutschland nicht vielleicht doch weiter Gas aus Russland nehmen sollte, um gut über den Winter zu kommen. Endlich waren die Zweifel ausgeräumt, dass sich das Tätervolk auch diesmal wieder gegen die Opfer stellen könnte. Und schnell war auch klar, dass sich die anfängliche Aufregung nicht würde halten können, so ganz ohne Indizien, Beweise und Spuren zu den Tätern und jegliches Aufklärungsinteresse.

Jahrestag einer unübersichtlichen Situation

Schon nach sieben Tagen war die anfangs unübersichtlich erscheinende Situation unter Kontrolle. Niemand schrieb mehr etwas. Keiner fragte. Der größte Anschlag auf ein Stück kritischer deutschen Infrastruktur seit Mai 1945 war wie von Zauberhand nicht nur aus den Schlagzeilen, sondern komplett aus den Nachrichten verschwunden. Noch eine abschließende Meldung der "Tagesschau" zur Beerdigung. 

Schade, dass die anfangs in Aussicht gestellten gemeinsamen Bemühungen mehrerer eng befreundeter und verbündeter Nato-Staaten zur Aufklärung des milliardenteuren Verbrechens wegen unvereinbarer Differenzen über den Umgang mit womöglich unerwünschten Ermittlungsergebnissen nun doch nicht zustandekommen würde. Und schon war Schluss mit lästigen Nachfragen und investigativen Recherchen. Wenn es nicht der Russe gewesen sein war, dann sollte es gefälligst niemand gewesen sein können. Europas 11. September, er war auf den 26.9. gefallen. Und am 10. Oktober schon ein so alter Hut, dass niemand mehr darüber sprach, schrieb oder fragte, was da eigentlich passiert war.

Es hätte so schön bleiben können. Wäre nicht drei Monate später der früher als  "begnadeter Einzelkämpfer" (Süddeutsche Zeitung) gefeierte Pulitzer-Preisträger Seymour Hersh in die Stille gestolpert, im Koffer 13 Seiten einer Verschwörungstheorie, die er so plakativ "Wie Amerika die Nord Stream-Pipeline ausschaltete" nannte, dass sich alle ehrbaren Medienhäuser in Deutschland strikt weigerten, ihren Lesern auch nur eine grobe Zusammenfassung der ungeheuerlichen Vorwürfe zu präsentieren.

Angst vor Amerika

Im politischen Berlin ging die Angst um. Wenn wirklich die Amerikaner dahinterstecken, was denn dann? Botschafter einbestellen? Sanktionen beschließen? Mit der EU-Flotte auslaufen und Vergeltung fordern? Würden denn aber alle Wertepartner wirklich mit in See stechen? Wo doch der frühere polnische Außenminister Radosław Sikorski sich schon ausdrücklich für den einfallsreichen amerikanischen Beitrag zur Stärkung des deutschen Kampfwillens bedankt hatte?

Die Bundesregierung mied die Probe aufs Exempel, auch später, als die von Hersh wachgeküssten deutschen Medien begannen, nach möglichen anderen Tatverdächtigen zu suchen. Russen wären sehr gut gewesen, Ukrainer weniger, aber die man dann fand, waren wenigstens ohne Befehlsausgabe im Präsidentenpalast von Wolodymyr Selenskyj aufgebrochen. Berlin verließ sich nun darauf, dass die Täter vielleicht niemals gefunden werden, wenn mit Hochdruck ermittelt wird. Oder dass es so viele sind, dass es ebenso gut niemand gewesen sein könnte.

Ein rauchender Colt

Zum Jahrestag ist die Brisanz vom Tisch. "Offizielle Ermittlungsergebnisse gibt es kaum" (Deutschlandfunk), inoffizielle jede Menge. Die große Aufregung der ersten Stunden, als die Explosion der Pipelines noch als rauchender Colt in einem von Russland erklärten Krieg galt, sie ist schon nach zwölf Monaten zum Teil des ganz gewöhnlichen Themensterbens geworden. Vieles ist  noch unklar und wird es hoffentlich bleiben: Etwa, warum die Röhren trotz längst gestoppter Lieferungen aus Russland bis zur Landestelle in Deutschland prallvoll Erdgas waren. Ja, zugegeben, lässt der Kanzler erkennen, schön war das alles nicht. Aber wenn die Täter denn gefunden werden, und es sind die richtigen, dann sind sie dran.

Dämmbremse kontra Wohnungsnot: Das Klima muss warten

Beim Dämmen zieht die Bundesregierung die Notbremse: Das muss nun doch nicht, jedenfalls nicht gleich.

Es sollte ein wichtiger Pflasterstein auf dem geplanten Holzweg in die Klimaneutralität werden. Deutschland durchdämmen, ganz egal, was es kostet, um die luftdichten 15 Millionen Wohngebäude anschließend nach den Vorgaben der neuen EU-Wohngebäuderichtlinie verpflichtend so ehrgeizig sanieren zu können, dass sie ab 2032 verpflichtend emissionsfrei umgebaut werden müssen, das war das Ziel, das die Bundesregierung Immobilienbesitzern ab 1. Januar kommenden Jahres ins Stammbuch geschrieben hatte.  

Weltrettung mit Wärmedurchgangskoeffizient

Bußgelder bis 50.000 Euro drohten jedem, der ein Haus erwarb, es anschließend aber versäumte, es innerhalb von zwei Jahren so zu sanieren, dass es der Wärmedurchgangskoeffizient (U-Wert) unter 0,24 W/m²K liegt, die Fassade entsprechend der gesetzlichen Anforderungen gedämmt wird und bis 2030 mindestens Effizienzklasse E und bis 2033 mindestens Effizienzklasse D erreicht wird.

Ein Vorhaben, von dem sich die Bundesregierung nun überraschend verabschiedet hat, ohne es aufzugeben. In den letzten Zügen des Wahlkampfes in Bayern und Hessen kündigte Klimaminister Robert Habeck an, die in der Gebäuderichtlinie angedrohten schärferen Energiestandards für Neubauten vorübergehend auszusetzen. Zu beunruhigend waren die Nachrichten aus dem Baumarkt, die zuletzt wie Brandgeschosse ein schlugen. Die ehrgeizigen wie auch die noch ehrgeizigeren Neubauziele verfehlt. Die Sanierung des Gesamtbestandes zum Erliegen gekommen. 

Familien geben Baugenehmigungen zurück. Banken berichten von geplatzten Finanzierungen. Die großen Wohnungskonzerne sagen Neubauvorhaben ab, weil eine kostendeckende Miete bei 17 Euro pro Quadratmeter liegen müsste. Die gierigen kommunalen Unternehmen drehen an der Mietschraube, um noch den letzten Cent für die öffentlichen Eigentümer aus dem ohnehin schon inflationsgeplagten Mietern zu pressen.

Der Feind will den Menschen nur Angst machen

Bundesbauministerin Klara Geywitz flankierte die Bekanntmachung mit der Mitteilung, dass sie jetzt auch gegen die in Berlin und Brüssel geplanten Energiesparvorschriften für unsanierte ältere Gebäude sei. Verfluchter Wärmekoeffizienzdurchgang! Solche verpflichtenden Effizienzstandards, ausgedacht offenbar von skrupellosen Menschenfeinden, machten Eigentümern von unsanierten Häusern nur "Angst, dass sie zehntausende Euro investieren müssten", sagt die SPD-Politikerin mit Blick auf die desaströsen Umfragewerte ihrer Partei nicht nur in Hessen und Bayern, sondern auch im Bund. 

Klimakatastrophe hin, Weltuntergang her. Sie jedenfalls werde die geplanten neuen, beinharten Klimastandards kippen. Ist eine Situation, wie sie ist, muss die Welt eben mal warten. Bei der Gelegenheit, gerade schaut keiner hin, werden auch die neuen EU-Abgasnormen zur Beendigung der Fahrzeugproduktion in der Gemeinschaft gleich mit abgeräumt.

Spitzentreffen als Chefsache

Die Rückendeckung des Bundeskanzlers haben die beiden Minister, deren Abschied vom ehrgeizigen deutschen Klimaschutzplan noch vor zwei, drei Wochen nicht zu erahnen war. Schon vor dem Beginn des - nach einem Vorschlag der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) nach dem Vorbild der historischen Benzingipfel von 1934 und 2011 als "Wohnungsbaugipfel" bezeichneten - Spitzentreffens hatte Bundeskanzler Olaf Scholz deutlich gemacht, dass die Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem bei ihm selbstverständlich ebenso Chefsache ist wie alles andere. Demonstrativ pocht Scholz "auf bessere Bedingungen für den Bau bezahlbarer Wohnungen in Deutschland". 

Wie immer sollen dafür Vorschriften vereinfacht und vereinheitlicht werden, auch das in der früheren DDR so erfolgreiche serielle Bauen lobte der Kanzler bei einer Wahlkampfkundgebung in Nürnberg als Weg, Bauen "noch billiger" (Scholz) zu machen. Statt des klima- und gemeinwohlschädlichen Einfamilienhauses schwebt dem Kanzler eine Renaissance der prächtigen Wohnblocksiedlungen vor, die in den 60er, 70er und 80er Jahren Drei-Zimmer-Küche-Bad mit fließend warmem Wasser zum neuen Wohnstandard für Millionen einfacher Menschen in Ost und West machten. 

Schöne neue Betonwüsten

Quadratisch, gut und praktischerweise einfach an die vom Gesetzgeber geforderten Fernwärmenetze anschließbar, versprechen die neuen Betonwüsten nach einem "grundlegenden Umdenken bei Komfort und Stromverbrauch", wie es der Architekt und Vordenker Werner Sobek nennt, eine Verdichtung des Zusammenlebens, das den glücklichen Mietern viele Wege ersparen wird. Knallt der "Wohnungsbau-Wumms" richtig, sind die drei Millionen zuletzt Zugezogenen schon in wenigen Jahren untergebracht. 

Selbst der vergleichsweise kleinen, verlogenen und wirtschaftlich schwachen DDR war es zwischen 1971 und 1989 gelungen, 1,2 Millionen formschöne und zweckmäßige Wohnungen neu zu bauen, während gleichzeitig nur einige zehntausend Altbauten zu Ruinen verfielen. Deutschland, fünfmal größer und dank der höchsten Steuereinnahmen, die jemals eine deutsche Regierung verbuchen konnte, finanziell auf Rosen gebettet, kann das, was die sozialistischen Planwirtschaftler in 18 jahren erreichten, deshalb leicht in dreieinhalb schaffen.

Der Startschuss, mit Rücksicht auf die Zeiten per rotem Buzzer-Knopf ausgelöst, ist gefallen.


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Montag, 25. September 2023

Obergrenze: Wolle mer se reinlasse?

Wie ein Echo aus vergangenen Zeiten wirkt die aktuelle Beschwörung von Zweifeln, Angst und Furcht vor dem Kontrollverlust.

Wie die Kesselflicker streiten sie, und wieder geht es um die Migration, die offenen Türe, oder Tore und vor allem darum, wie sich der Eindruck einer beabsichtigten Kehrtwende nach acht Jahren Ausnahmezustand am wirksamsten als kompletter Neustart verkaufen lässt. "Obergrenze"? "Integrationsbremse"? "Belastungsgrenze"? "Aufnahmekontingent"? "Offenearmelimit"? "Engagementeistrich"?

Ohne zu wissen, was, ist die Antwort klar.
Auch wenn die Demokratie am Wochenende im thüringischen Nordhausen einen überraschenden, wenn auch knappen Auswärtssieg landen konnte, ist die Kuh der weiteren Abwendung breiter Bevölkerungsschichten von den Demokraten in Berlin noch lange nicht vom Eis. Das Gefühl der Überforderung, befeuert durch Ex-Bundespräsidenten und deren amtierende Nachfolger, durch frühere Parteivorsitzende, Ministerpräsidenten, Bundesminister und EU-Kommissionspräsidentinnen, es will auch zwei Wochen nach Landung auf Lampedusa nicht weichen. Die Koalitionsfriseure streiten noch um die Kaisers Bart, ob die "Belastungsgrenze" (Steinmeier) schon erreicht ist oder bald oder erst viel später erreicht wird. Die Wahlbürger aber gehen schon von der Fahne. Und die großen Magazine hauen dröhnend auf die populistische Pauke: "Grenzen zu für Asylanten?" "Schaffen wir das noch mal?"

Unklar, was. Unklar, von wem. Unübersehbar, wie groß die Aufregung ist, übertroffen nur noch von der Ratlosigkeit, was man nun alles nicht tun könnte, weil es ohnehin nichts nützt. Neue sichere Herkunftsländer? Bringt nur sieben Prozent weniger. Lieber mal mit der Türkei reden, das bringt auch nur elf Prozent. Grenzkontrollen auf den Straßen? Dann laufen sie halt durch den Wald. Zäune? Mauern? Schnellboote im Mittelmeer? Lebensmittelmarken statt Bargeld? Oder keine Obergrenze, die man "Zielkorridor" nennen könnte oder "Berliner Flüchtlingsziel"?

Neue Worthülsen braucht das Land, das wieder einmal an einem Kipppunkt steht. Zwei Wochen vor zwei Landtagswahlen, die zum Plebiszit einer ewiggestrigen Bevölkerung über eine Zukunftskoalition zu werden droht, die das Kunststück vollbracht hat, sich gleichzeitig in alle vier Himmelsrichtungen zu vergaloppieren, ist Eile bei der Umbenennung der Wirklichkeit geboten. Aus der stets ungeliebten "Abschiebung", einem Wort, das nur wenig zärtlich und liebevoll klingt, wurde die "Rückführung", die an den großherzigen deutschen Umgang mit den Beniner Bronze-Skulpturen erinnert. Anstelle von Grenzschließung trat zuerst "Schleierfahndung" (Nancy Faeser) in Kraft. Anlässlich des achten Geburtstages der "Obergrenze" und ihrer Schwippschwägerin "europäische Lösung" darf inzwischen sogar unbefangen von "Kontrolle" (von der Leyen, Faeser) gesprochen werden. 

Seit die "illegale Zuwanderung" von den Wortschmieden und Propagandapoeten der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in Berlin in "irreguläre Migration" umgetauft wurde und der "Asylant" sich in einen "Migranten" verwandelt hat, schwebt über jedem Wort eine doppelte Hoffnung. Wird sie in den rückständigen Gebieten angenommen und als klares Signal für unerbittliche politische Handlungsbereitschaft versanden werden? Und wird sie in den progressiven Landesteilen dennoch als Beruhigungspille für die Aufgeregten, die Spaltungsanfälligen und Ostdeutschen erkannt? 

Es ist Endspiel um die Deutungshoheit, crunch time im Landtagswahlkampf. Wenn Olaf Scholz für eine "stärkere Kontrolle der irregulären Migration" eintritt, dann balanciert er geschickt auf dem dünnen Seil zwischen der Erwartung einer mutmaßlichen Bevölkerungsmehrheit, dass Politik zuallererst im Auftrag ihrer Wählerinnen und Wähler zu handeln verpflichtet sei, und dem eigenen Wunsch, aller Welt zu gefallen. Scholz belehnt mit seiner Wortwahl natürlich Ursula von der Leyen, die zuvor schon von versprochen hatte, den aktuellen "Zustrom" (Merkel) über das Mittelmeer demnächst besser "überwachen" (von der Leyen) zu wollen. 

Eine Antwort auf steigende Flüchtlingszahlen, die aus dem deutschen Klimakampf bekannt ist: Sie hilft keiner Kommune, auch nur einen Neuankömmling unterzubringen. Sie hilft keinem Lehrer, in einer Schulklasse, in der vier Sprachen besprochen, seine eigene aber nicht verstanden wird, Unterrichtsstoff zu vermitteln. Sie wirkt wie das Versprechen, eines Tages die "Regeln für Abschiebungen zu verschärfen" (Faeser), die hierzulande traditionell überwiegend symbolischen Charakter haben. Schon laufen entsprechende Abstimmung mit Ländern und Kommunen. Bald startet das Gesetzgebungsverfahren. Danach nur noch kurz der Triolog der EU.-Gremien, zwei, nicht mehr als drei Jahre. Und dann ist die Zustimmung aber wirklich Formsache.

Die Schamlosen: Helden der politischen Arbeit

 

Um die Werktätigen zu Bestleistungen zu motivieren, hatte sich die DDR-Führung ein buntes und vielfältiges Angebot an Orden und Ehrenzeichen ausgedacht. Von der Aktivistenmedaille, dem Groschen unter den Ehrenzeichen, ging es hinauf bis zum "Orden der Völkerfreundschaft" und dem "Helden der Arbeit". 

Nur wenige Wochen vor dem Mauerfall 1989 wurden die letzten Träger ausgezeichnet, Staatschef Erich Honecker selbst ließ es sich nicht nehmen, verdienten Genossen noch etwas vom Blechvorrat anzuheften. Unter den Angehörigen der sozialistischen Elite beargwöhnte man sich gegenseitig eifersüchtig: Wer hat schon welche Plakette? Wer trägt schon welche Blechorden mit Lorbeerkranz für "beispielgebende Initiativen und andere hervorragende Verdienste bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft"?  

Acht Stufen aus Blech

Das historische Berlin kennt diese Szenen wie keine andere Stadt. Schon die DDR-Vorgängerdiktatur verlieht mitten in der Mitte, keine drei Kilometer entfernt vom Schloss Bellevue, beinahe bis zum letzten Atemzug Orden und Auszeichnungen an emsige, verdienstvolle oder auch nur an solche Mitstreiter, die gerade greifbar waren. Eine Tradition, an die das neue, demokratische Deutschland nach nur wenigen Jahren Pause anknüpfte.

Ein Foto aus dem Elfenbeinturm.
Der "Verdienstorden der Bundesrepublik", einst vom Bundespräsidenten Theodor Heuss gestiftet, wenn auch nicht auf eigene Kosten, wird inzwischen in acht Stufen vergeben, dazu gibt es eine neunte, die nur Staatsoberhäupter erhalten dürfen, während sie an den jeweiligen deutschen Bundespräsidenten automatisch als Dienstantrittsprämie ausgereicht wird. Bei direkten Zuarbeitern der Politik aus Beamtentum, Bundeswehr und unabhängiger Justiz erfolgt eine Verleihung automatisch, sobald verdienstvollen Persönlichkeiten aus ihrem Amt scheiden.

In illustrer Runde

Alle anderen auch im politischen Raum müssen jemanden kennen oder jemanden kennen, der jemanden kennt, um sich wenigstens Hoffnung auf das als "Volkskreuz" bekannte Verdienstkreuz am Bande machen zu dürfen. Mehr als Viertelmillion Menschen hat es irgendwo in einem Schubfach liegen, meist direkt neben dem Parteiausweis. Unter den ausländischen Trägern sind Diktatoren wie der Äthiopier   Haile Selassie, der letzte persische König Mohammed Zahir Schah, der korrupte spanische Ex-Herrscher Juan Charlos I. und der für seine Vertuschungsversuche rund um die Atomkatastrophe von Tschernobyl, seinen brutalen Feldzug in Afghanistan und seine Rückendeckung für das ostdeutsche Mauerregime bekannte Michail Gorbatschow.

In diese illustren Reihe von teils weltweit Preisträgern darf sich nun auch Bärbel Bas stellen, als Figur eher unter dem Radar der Weltöffentlichkeit, als Bundestagspräsidentin aber aktuell die Nummer 2 unter den deutschen Würdenträgern. Protokollarisch hat die Sozialdemokratin damit Anspruch darauf, dass ihr das "Großkreuz des Verdienstordens" von der Nummer 1 umgehängt wird. Bas, erst seit dem großen Hinterzimmerstreit um die Besetzung des begehrten Sitzungsleiterpostens in die erste Reihe der Bundespolitik gerückt, steigt in ihre Ordensträgerlaufbahn gleich mit Stufe sieben von acht ein, wobei das allerhöchste "Großkreuz in besonderer Ausführung" generell nur an ausgeschiedene CDU-Kanzler vergeben wird.

Präsidentin des Vertrauensverlustes

Welches Signal sendet das aus? Bas sitzt dem Parlament seit zwei Jahren vor, die aktuellen Analysen großer Medienhäuser zufolge nicht eben als die glücklichsten der noch jungen deutschen Demokratie gelten. Der demokratische Block der linken Mitte ist in der Zeit ihrer Regentschaft im Bundestag förmlich zusammengeschrumpelt. Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Handlungsfähigkeit des Staates ist erodiert. Selbst Gemeinsinnsender pflegen regelmäßig vom "Staatsversagen" zu schwadronieren. Die SPD, der Bas wie Steinmeier angehören, ist auf dem Weg, auch noch die letzten getreuen Stammwähler zu vergrätzen und nach dem Osten auch den Westen an marodierende Rechtspopulisten zu übergeben. Was daran ist auszeichnungswürdig? Welche besonderen "Leistungen, die im Bereich der politischen, der wirtschaftlich-sozialen und der geistigen Arbeit dem Wiederaufbau des Vaterlandes dienten" (Theodor Heuss) werden hier prämiert? Und wenn nicht, warum?

Ja, warum denn nicht? Für Walter Steinmeier, schon als Außenminister und Kanzlerkandidat ein Mann, der sich um die Ansichten der Öffentlichkeit nicht weiter scherte, war es ausreichend, dass Bas "eine herausragende Parlamentarierin" ist, die "unserem Bundestag würdevoll und bürgernah als Präsidentin dient". Sie macht ihre Arbeit. Und sie macht sie gut. Wenn das kein Grund ist, ihr nach zwei Jahren den höchsten Orden der Republik umzuhängen, was denn dann? Bärbel Bas, deren großer Wettbewerbsvorteil in der SPD darin besteht, dass sie aus den dort so selten zu findenden "kleinen Verhältnissen" kommt, sieht das nicht anders. 

Gemäß einer Geheimabmachung

Wenn alle, warum dann nicht sie auch? Schon seit Mitte der 90er Jahre gibt es schließlich eine bindende Geheimabmachung zwischen den Bundestagsfraktionen, nach der pro Legislaturperiode 30 höchste und allerhöchste Orden vollkommen unabhängig von tatsächlichen Verdiensten an Bundestagsabgeordnete verliehen werden, die entsprechend der jeweiligen  Fraktionsstärke verteilt. Eine "ganz neue Form der Selbstbedienung", wie es der Verfassungsrechtler Herbert von Arnim nennt. Aber eben für die neuen Verdienstkreuzträger auch eine schöne Sache. 

"Frau und Macht, das leben Sie ganz selbstverständlich", hat Walter Steinmeier seine Genossin bei der Preisverleihung ausdrücklich gelobt. Bas verkörpere das Ideal, "dass in der Demokratie nicht Herkunft, Status oder Vermögen über den Zugang zur politischen Macht entscheiden", sondern "dass unsere Politiker aus der Mitte der Gesellschaft heraus stammen und bestimmt werden", wenn sie sich nur über Jahre die Karriereleiter hochdienen. Für die SPD, deren Führungsriege von der "Generation Parteiarbeiter" dominiert wird, die noch nie in ihrem ganzen Leben Zeit außerhalb der sozialdemokratischen Nomenklaturblase verbracht hat, ist Bas ein Glücksfall: Zumindest ihre Biografie, lobt Steinmeier, strafe "Populisten Lügen, die Politiker als eine abgehobene Elite verleumden". 

Die Unbekannte aus dem Ruhrgebiet

Bärbel Bas sitzt seit noch nicht einmal 15 Jahren im Parlament, etwa 89 Prozent der Deutschen haben ihren Namen noch nie gehört oder können ihn nicht korrekt zuordnen. Dennoch ist die 55-Jährige aus dem Ruhrgebiet vielen sehr viel bekannteren Persönlichkeiten nun enteilt: Weder der Langzeitparlamentarier Christian Ströbele noch der erste grüne Außenminister Joschka Fischer, weder der frühere FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle noch der langjährige PDS-Anführer Gregor Gysi haben "zielstrebig, hartnäckig, unprätentiös" genug "für Ihre Überzeugungen gekämpft" (Steinmeier über Bas), als dass ihnen ein Großkreuz hätte angeheftet werden dürfen.

Jemand, der wie Bas  angetreten ist, das "Parlament vor Angriffen zu schützen und die Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen", müsste verstehen können, dass "der beste Schutz gegen die Verachtung unserer repräsentativen Demokratie, die wir mitunter spüren" (Steinmeier) darin besteht, den Eindruck zu vermitteln, dass Diedaoben sich einen Kehricht darum scheren, was Diedaunten von ihrer Amtsführung, von ihren kleinen politischen Geschäften auf Gegenseitigkeit und der abgebrüht wirkenden Abarbeitung einer einmal beschlossenen Agenda auch im Angesicht des drohenden Machtverlustes halten. "Wir wissen alle, dass diese Verachtung von jenen gezielt geschürt wird, die ein Interesse daran haben, unsere Demokratie zu destabilisieren", hat Walter Steinmeier in seiner Laudatio für die "liebe Frau Bas" gesagt.

Wen er meinen könnte, erklärte er nicht.