Donnerstag, 30. November 2017

SPD, AfD, Grüne und Linke: Namibia-Koalition gegen Glyphosat

Erste zarte Bande wurden schon vor Tagen geknüpft, als der linke thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow und der rechtsextreme AfD-Ausleger Björn Höcke gemeinsam gegen die verhasste Globalisierung auf die Straße gingen. Jetzt aber könnte aus dem kleinen Pflänzchen der schüchternen Sympathie sogar etwas ganz Großes werden: Im Kampf gegen das "Pestizid" (SZ) Glyphosat steht eine feste Phalanx aus SPD, Grünen, der AfD und der Linken gegen die verräterischen Umtriebe der Christsozialen, geduldet von Kanzlerin Merkel. Stiftet das "Umweltgift" (FR) nun vielleicht bald sogar eine ganz neue Regierungskonstellation? Die Namibia-Koalition?

Es sieht zumindest gut aus für die vier Parteien der Anti-Glyphosat-Front. Im Bundestag kommen SPD, AfD, Linke und Grüne auf eine satte absolute Mehrheit. Namibia könnte damit locker durchregieren und Deutschland umweltfreundlicher und gerechter machen. Die Grundlage dafür wäre mit dem Kampf gegen die Beibehaltung der Zulassung von Glyphosat gelegt: SPD-Chef Martin Schulz selbst kritisierte den "Verrat" der Union, die sich geweigert hatte, das von der AfD im Parteiprogramm versprochene Aus für das Unkrautbekämpfungsmittel umzusetzen. "Die AfD spricht sich ausdrücklich gegen den Einsatz des von der WHO als wahrscheinlich krebserzeugend eingestuften Glyphosat beim Pflanzenschutz aus", heißt es bei den "Nazis" (Gabriel). Schulz dagegen setzte für eine künftige Regierung das Ziel, "den Glyphosat-Einsatz in Deutschland zu reduzieren - oder, wenn möglich, ganz verbieten."

Die Linke wäre dabei, weil "Glyphosat Profite schützt statt Verbraucher", wie die Bundestagsabgeordnete Karin Binder wettert. Ihre Kollegin Kirsten Tackmann, agrarpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, bringt sich sogar gegen die Mehrheitsentscheidung der europäischen Partner in Stellung: Ein industrienahes und intransparentes Gremium habe "einen Persilschein für Glyphosat" ausgestellt. Dagegen stehe die Linke.

Und nicht nur sie. Auch bei die Grünen gehört es zur DNA, Mehrheitsentscheidungen der europäischen Partnerländer nicht anzuerkennen, wenn sie den eigenen Positionen widersprechen. Dass Europa bei Glyphosat nach langer Hängepartie eine Entscheidung getroffen habe, sei ein "schwarzer Tag" für Verbraucher, die nun künftig weiter in derselben Lage seien wie Verbraucher in allen anderen Staaten der Erde seit Mitte der 70er Jahre.

Da schreit nach einem nationalen Alleingang, fordert die SPD, die damit bei den anderen Parteien der Namibia-Koalition offene Türen einrennen dürfte. Frankreich hatte die gemeinsamen europäischen Werte bereits Werte sein lassen und angekündigt, den sogenannten "ungarischen Weg" zu gehen und unabhängig von der Rechtslage in der EU einen Glyphosat-Bann zu verhängen. Für Deutschland könnte ein solche entschlossenes Vorgehen gegen den Beschluss des zuständigen Ausschusses der EU-Kommission, der mit 18 zu 10 Stimmen für eine Verlängergung der Zulassung um fünf Jahre gestimmt hatte, die Geburtsstunde einer Großen Koalition ganz neuen Zuschnitts sein: Martin Schulz würde doch noch Kanzler, die AfD hätte die Chance, mit mutmaßlich drei Ministern Politik zu gestalten, statt nur zu meckern. Und Linke wie Grüne würden nicht nur als Mehrheitsbeschaffer am Kabinettstisch sitzen, sondern hätten echte Chancen, wichtige Projekte wie Familienförderung, gerechte Rente, mehr direkte Demokratie und Mindestlohn umzusetzen.

Terror-Offizier und falscher Syrer: Ende im Kleingedruckten

Die Optik kann man immer mal wieder nehmen: Franco A. bei Bild Online im Juni und im November.
Fast pünktlich zum 20. Aprilo gelang der große Schlag gegen Asylbetrüger: Mit Franco A. flog ein falscher Deutscher als Flüchtling auf, der kein Wort Arabisch sprach, dafür aber einen festen Job bei der Bundeswehr hatte. Und große Pläne, wie das Bundeskriminalamt (BKA) und der Militärische Abschirmdienst (MAD) mitteilten. Franco A. hatte versucht, mit einer bei einem Besuch in Österreich in einem Putzschacht in einer Toilette auf dem Wiener Flughafen Schwechat zurückgelassenen historischen Pistole vom Typ Unique Modell 17 Terroranschläge in Deutschland zu verüben. Um Ausländer in Verruf zu bringen, hatte er zudem geplant, seinen Terrorakt als Syrer zu verüben und sich deshalb Ende Dezember 2015 in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Gießen (Hessen) registrieren lassen.

Rechtsterrorismus von langer Hand geplant, nachweisbar mit Hilfe von "Whatsapp-Chats" (DPA), die die Fahnder sicherstellen konnten, obwohl sie verschlüsselt waren. Doch auch dieser Durchbruch bei der Kryptografie nützte offenbar nichts: Sieben Monate nach der Verhaftung des falschen Syrers hat der Bundesgerichtshof den Haftbefehl gegen den Bundeswehrsoldaten Franco A. aufgehoben. Der Verdacht, A. habe aus rechtsextremen Motiven Anschläge auf Politiker verüben wollen, habe sich demnach nicht erhärtet. Die Ermittlungsergebnisse ließen nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, so der BGH, dass A. eine Straftat habe begehen wollen, um den Tatverdacht anschließend auf Asylbewerber zu lenken. Dagegen spreche unter anderem der Umstand, dass er unter seiner wahren Identität im Februar in Wien seine Fingerabdrücke habe abgeben müssen.

Ein "Rückschlag für die Ermittler" (Spiegel), und nicht einmal der erste. Im August hatten die Fahnder bereits den Terror-Druiden Burgos von Buchonia auf  freien Fuß setzen müssen, dem im Januar vorgeworfen worden war, "auf einem abgelegenen Campingplatz gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin gewohnt" (Stuttgarter Zeitung) und von dort aus gemeinsam mit sechs mutmaßlichen Komplizen die Gründung einer rechtsterroristischen Vereinigung vorbereitet zu haben, die Anschläge auf Juden, Asylbewerber und Polizisten geplant habe.

Dafür gebe es keine Anhaltspunkte, teilte die Bundesanwaltschaft acht Monate später fest, die Nachricht jedoch erreichte nicht mehr alle angeschlossenen Funkhäuser.  Im Tagesspiegel etwa, in dem anlässlich der Verhaftung des Terror-Predigers noch der "Hass loderte", fand sich kein Platz für die Nachricht von der Freilassung ohne Anklage.

Dem wegen Terrorverdachts inhaftierten Bundeswehroffizier Franco A. droht dasselbe Schicksal: Wo der Bundesgerichtshof darauf verweist, dass die "Ermittlungen keine bedeutsamen neuen Umstände erbracht, die den Beschuldigten belasten und die Tatbegehung wahrscheinlicher machen könnten", dichtet die Taz tapfer, "ein Attentatsplan lasse sich bisher nicht nachweisen", als sei da in Bälde mit anderslautenden Neuigkeiten zu rechnen. Der "Spiegel" nennt den Mann trotzig weiter "terrorverdächtig", die SZ fantasiert über ein "Doppelleben" und "Bild" weiß mehr als die Ermittler: "Franco a. plante eine Anschlag" heißt es da.

Es war nicht so, wie wir alle geschrieben haben. Aber das merkt doch keiner! Einen Eindruck von den genauen Umständen gewinnt, wer die Pressemitteilung des BGH liest. Journalismus besteht auch in diesem Falle wieder daraus, möglichst viele Details daraus wegzulassen und den Rest so umzuschreiben, dass er den von einem selbst gewünschten Eindruck erweckt. Das Ergebnis wird dann als Premium-Produkt angeboten.

Mittwoch, 29. November 2017

Zitate zur Zeit: Ich streb' gar nix an

"Ich strebe keine Große Koalition an, ich strebe auch keine Minderheitsregierung an. Ich strebe auch keine Neuwahlen an. Ich streb´ gar nix an.



Martin Schulz zu seinen aktuellen Plänen

Im PPQ-Archiv: Mehr zeitgemäße Zitate

Benutzt du diese Nazi-Worte - ohne es zu wissen?

Zwei von drei der von Hitler für den Namen "Deutsche Reichspost" verwendeten Wörter werden bis heute meist bedenkenlos weiterverwendet.
"Wenn Russland die Ukraine einnimmt, was tun wir da", fragt Katrin Göring-Eckhardt bei "Anne Will" in die Studiorunde. Es gibt keine Antwort, nur die große Frage die aus der Frage resultiert: Ist es schon Nazi-Sprache, den Russen expansive Absichjten zu unterstellen, wie Adolf Hitler das tat? Oder entschuldigt die plumpe innenpolitische Absicht die - bei Anne Will unwidersprochen bleibende - außenpolitische Zuspitzung?

Seit die Hobbyhistorikerin Katrin Göring-Eckardt einst beklagte, „Nazis haben die Dresdner Frauenkirche zerstört“, hat sich das Rad der Geschichte weitergedreht. Heute herrscht oft Unklarheit darüber, was gesagt werden sollte, um den gewünschten Eindruck, aber ohne unschöne Assoziationen zu wecken. Schnell stützt der Sprecher in die Nazi-Grube, nur weil er Phrasen und einzelne Wörter benutzt, die im Nationalsozialismus negativ belegt wurden und die nicht so eindeutig erkennbar sind.

So ist das beschönigende Wort "Nationalsozialismus selbst ein reines Nazi-Wort, erfunden von radikalen Antisemiten, Rassisten, Antikommunisten und antidemokratischen Ideologen. Anerkannte Volksbildungsportale verwenden es dennoch, weil sich das Hitler-Wort wie viele andere über die Jahrzehnte hinweg in unserem täglichen Sprachgebrauch etabliert hat.

Unklarheiten überall, die dazu führen, dass sich die grüne Parteivorsitzende im Kampf für die Biene Seite an Seite neben Adolf Hitler wiederfindet. "Lasst euch nicht irren des Pöbels Geschrei, nicht den Missbrauch rasender Toren. Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, vor dem freien Menschen erzittert nicht", klingt hingegen wie reine Nazi-Poesie - aber was ist es wirklich? Nach dem großen Test Wie viel Nazi bin ich wirklich? hat PPQ erneut ein Serviceangebot erstellt, das es möglich macht, den eigenen Sprachgebrauch auf Kontaminationen mit Nazi-Begriffen zu überprüfen.

Welche dieser Sätze haben einen Nazi-Beigeschmack – und welche sind völlig harmlos? Wie erkennt man schwierige Wörter in der Alltagssprache? Was kann ich tun, wenn ich spüre, dass mein rollendes R angeboren ist?

Hier geht es zum Faschistenquiz: Mach den Test!



Quellen:

GRA – Stiftung gegen Antisemitismus und Rassismus
Glossar, Neue Deutsche Medienmacher
Wörterbuch des Unmenschen
Süddeutsche Zeitung
Grundgesetz
Frankfurter Rundschau
Tageszeitung
SPD

Dienstag, 28. November 2017

Offener Brief: Siemens-Chef schreibt Schulz ab


Noch wandelt der scheidende SPD-Chef Martin Schulz unter den Seinen wie ein absolutistischer Herrscher, der nach Gutdünken Posten besetzt und politische Strategien verkündet. Keine Groko, doch eine Groko, meine Groko: Martin Schulz, der Abwickler der deutschen Sozialdemokratie, zeigt im Moment der größten ideologischen Unsicherheit seiner Partei, dass er selbst schwankt - zwischen der Angst, als Teil einer Koalition mit der Union noch mehr vom Wähler abgestraft zu werden als zuletzt. Und der Angst, in der Opposition neben der AfD noch mehr abgestraft zu werden als in einer Koalition mit der Union.

Schulz verlegte sich deshalb zuletzt auf den politischen Meinungskampf nach außen: In einem offenen Brief an Siemens-Chef Joe Kaser kritisierte der SPD-Chef dessen Pläne, Personal abzubauen, um den wankenden Weltkonzern angesichts veränderter Märkte und deutscher Energiewende auf Kurs zu halten. Schulz, dessen Partei durch Managementfehler gerade rund ein 25 Prozent ihrer Mitarbeiter im Bundestag hat kündigen müssen, wirft Kaeser in dem breit gestreuten Schreiben "asoziales Verhalten" vor, weil Siemens weltweit etwa zwei Prozent der Mitarbeiter entlassen will.

"Damit wir noch ein bisschen mehr Gewinn machen, schmeißen wir die Leute raus“, behauptete der SPD-Chef, dessen Partei ihre Fraktionausgaben im Zeitraum zwischen 1995 und 2015 zwar mehr als verdoppelt, die Anzahl der hauptberuflichen Mitarbeiter der Bundestagsfraktion in derselben Zeit aber von 290 auf 225 eingedampft hat.

Schulz, ein Mann, der zuweilen wie der schlechte Imitator eines besonders dumpfen Populisten wirkt, wollte Punkte machen. Und fängt sich von Siemens-Chef Kaeser einen solch scharfen Konter ein, dass klar ist: Aus Sicht der Wirtschaft ist der derzeit noch amtierende SPD-Parteivorsitzende ein Zombie, ein wandelnder Toter, der jeden Respekt verloren hat, so dass es keinen Grund mehr gibt, mit den von ihm verbreiteten Fake News diplomatisch umzugehen.

Joe Kaser jedenfalls verzichtet in seiner öffentlich gegebenen Antwort an den traurigen Verlierer der Wahl vom 24. September auf jeden Anschein von Rücksichtnahme. Rigoros watscht er Schulz ab, indem er dessen von keiner Sachkenntnis geprägte Vorwürfe Punkt für Punkt widerlegt: Es seien nicht Fehler von Siemens gewesen, die die konzerneigene Kraftwerkssparte in Wanken brachten, sondern die auch von Schulzens Partei mitgetragene Energieausstieg. Deshalb gebe es in Deutschland keine Nachfrage nach den Kraftwerken mehr, von denen Schulz verlange, Siemens solle sie weiter herstellen, um die Arbeitsplätze der damit beschäftigten Mitarbeiter zu erhalten.

Nein, der Siemens-Chef nimmt den SPD-Chef nicht ernst. "Wir sprechen auch lieber miteinander statt übereinander und suchen nach Lösungen auf der Basis von Fakten", hält er Schulz vor, offenbar im sicheren Wissen, dass der nie mehr hinter einem Schreibtisch sitzen wird, an dem über für Siemens wichtige Belange entschieden wird. Für Schulz ein politisches Todesurteil: Der hoffnungslose Hoffnungsträger, der gerade bereit scheint, sich in die Arme von Angela Merkel zu werfen, um seine Macht zu retten, hat jeden Respekt verloren.

PPQ-Archiv: Siemens macht es möglich: Linken-MP Bodo Ramelow und AfD-Nazi Björn Höcke marschieren erstmals als Einheitsfront


Wende eingeleitet: Angela Merkels Geheimrede zur Lage der Nation*

Große Stunde gestern im Bundestag: Angela Merkel bekannte sich in einer Geheimrede vor der CDU-Fraktion zu Fehlern und einer Wende der Politik.
Schien es in den ersten Tagen nach der Bundestagswahl noch, als könne es Angela Merkel gelingen, ohne große Kursänderungen weiter am Ruder zu bleiben, kam die Situation in den vergangenen Wochen immer mehr ins Kippeln. Die Kanzlerin, vor zwei Jahren noch so mächtig, dass sie die deutschen Grenzen mit reiner Gedankenkraft öffnen konnte, wirkte angeschlagen, die Mundwinkel hingen noch tiefer als sonst, die gescheiterten Jamaika-Verhandlungen deuteten auf den erstmaligen Verlust der Machtperspektive der Union seit Helmut Kohls Amtsantritt hin.

Doch nun hat sich Angela Merkel in Klausur begeben, mit wenigen Vertrauten wie Altmeier und Baumann über die Lage beraten und Schlüsse gezogen. Wie stets geschieht das bei der Hamburgerin wie instinktiv, sie reißt das Ruder herum, ohne früheren Positionen lange nachzutrauern. "Fehl­ent­wick­lun­gen der Ver­gan­gen­heit müssen für immer aus­ge­schlos­sen werden", sagte sie in einer Geheimrede auf einer internen Strategietagung der CDU-Fraktion.

PPQ dokumentiert die vielleicht fulminanteste Ansprache, die je eine deutsche Kanzlerin gehalten hat. Beobachter ziehen bereits Vergleiche zur bahnbrechenden Geheimrede Nikita Chruschtschows am 25. Februar 1956 zum Abschluss des 20. Parteitages der KPdSU, in der er mit dem System des Stalinismus und den Verbrechen Stalin abrechnete.

Liebe Freundinnen, Freunde, Parteimitglieder, Funktionäre, Damen, Herren und Mitbürgerinnen!

Unsere heutige Plenartagung hat die Aufgabe, im kollektiven Gedankenaustausch und Meinungsstreit die aktuelle Situation in unserer Gesellschaft aus der Sicht unserer Partei kritisch und selbstkritisch zu analysieren und Schlussfolgerungen für die politische und organisatorische Arbeit der Union zu ziehen - die Grundlagen für die Vorbereitung unseres nächsten Parteitages zu legen und den Mitgliederinnen und Mitgliedern unserer Partei, den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes mit einem Aktionsprogramm unsere Vorstellungen für die weitere Arbeit für ein Land zu unterbreiten, in dem wir gerne leben.

Ich verstehe diese Rede als ersten Beitrag für die Diskussion. Der Meinungsaustausch soll und wird den von der ganzen Partei geführt werden, um den von mir vorbereiteten Entwurf für das Aktionsprogramm unserer Partei zu ergänzen und zu bereichern. Am Ende sollten eine einheitliche Grundorientierung und vor allem die Entschlossenheit zum gemeinsamen Handeln unserer Gemeinschaft stehen, mit dem wir vor unser gesamtes Volk treten.



Gefahren verlangen Reaktion


Die Gefahren, die vor unserem Land und vor unserer Partei stehen, verlangen ein konstruktives, auf die Lösung der gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben gerichtetes Handeln. Die Situation im Land ist angespannt, und sehr widersprüchlich. Das Stimmungsbild ist gekennzeichnet von einer bisher nicht gekannten Spaltung der Gesellschaft. Sie hat sich zuerst an der Basis, mitten im Volk, unter den Bürgern, darunter in den Ortsgruppen unserer Partei, geäußert. Eine Volksbewegung ist entstanden und drückt sich in vielen Formen aus in selbstbewussten Demonstrationen, sogenannten Hasspostings im Internet wie im vielstimmigen Dialog bei Facebook, Twitter und am Rande von Veranstaltungen. 


Diese Volksbewegung hat einen Prozess der Überprüfung und der Veränderung auch bei mir ausgelöst. Unüberhörbar hat sich demokratisches Selbstbewusstsein entwickelt, das eine freiheitliche Gesellschaft einfordert, in der jeder sein Leben in eigener Verantwortung leben und ein Gemeinwesen mitgestalten kann, das sich als lebendiges und schöpferisches Werk eines souveränen Volkes versteht.

Wir alle erleben in diesen Tagen ohne Regierung ein nie dagewesenes Volksgespräch. In ihm wird ungeahnter origineller und engagierter Geist im Meinungsstreit für ein Land, in dem wir alle gerne leben sichtbar. In diesem Dialog sind viele elementare Forderungen formuliert worden. Sie finden sich auch im Aktionsprogramm wieder, das ich erarbeitet habe. Aber es gibt auch illusionäre Vorstellungen und - das kann und darf niemand überhören - ebenfalls demokratiefeindliche Auffassungen.


Zügellose Feinde der FDGO


Das beunruhigt viele Bürger, die Tag für Tag erleben müssen, wie zügellos sich die Feinde unserer FDGO in die inneren Angelegenheiten des Volkes einmischen und seine berechtigten Forderungen auszunutzen versuchen, um unsere offene Gesellschaft zu beseitigen und damit alles, was die Arbeiterklasse, die Unternehmer, die Genossenschaftsbauern, die Angestellten und alle anderen Bürger, was das gesamte Volk an Gutem geschaffen hat. Deshalb muss unsere Gesellschaft wachsam sein. Das Eigenständige und Unverwechselbare, das in den Jahren nach der Niederlage des Hitlerregimes entstanden ist. sollte niemand leichtfertig aufs Spiel setzen.

Zugleich wird das gegenwärtige Bild von der Einsicht und Haltung der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung gekennzeichnet, dass bei aller unaufschiebbaren Aufarbeitung brennender Probleme, bei allem notwendigen Dialog, bei allem berechtigten Widerspruch nicht weniger wichtig bleibt, Augenmaß anzulegen, weiter am Aufschwung zu arbeiten und den Menschen aus aller Welt, die Schutz suchen, zu helfen. 



So richtig es ist - und die aktuelle Lage ist Ausdruck dafür - dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, so richtig ist auch, dass er auch das Brot braucht, die Milch, das Licht und die Wärme. Jeder, auf welcher Position er im aktuellen Geschehen auch steht, trägt als Bürger dieses Landes seine Verantwortung für das Funktionieren der Gesellschaft, in der wir alle gerne leben. Worüber in Rathäusern und auf der Straße, in Arbeitskollektiven und Gremien auch debattiert wird, manchmal auch kontrovers, immer muss an das Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes und an die Verpflichtungen Deutschland gegenüber den europäischen Partnern gedacht werden.

Wir leben nicht auf einer Insel. Wir sind Teil eines sehr sensibel reagierenden europäischen Organismus. Niemand kann so tun. als ginge es nur um seinen eigenen Herd. Wir alle sind gefordert, uns mit der Anspannung all unserer geistigen und moralischen Kräfte aus eingefahrenen Denkgleisen herauszureißen. Politik ohne Wissenschaft führt in die Irre. Wir brauchen Vernunft, und Wissenschaft ist konzentrierte Vernunft. Das Wort vom Denken als erster Bürgerpflicht ist aktuell, und Nachdenklichkeit gehört dazu.

Denken ohne Schablonen


Ohne ein von jeder Schablone befreites Denken und ohne gründliches Nachdenken werden wir die Sachlichkeit, die für das Finden tragfähiger Lösungen unbedingt erforderlich ist, nicht erreichen. Sachlichkeit, Sachkenntnis und Besonnenheit sind der große gemeinsame Nenner dieser Regierung und unserer Partei, sie sollten auch Ziel aller sein, die Verantwortung in dieser Gesellschaft tragen beziehungsweise bereit sind, sich an dieser Verantwortung zu beteiligen. Es geht um nichts geringeres als um die Zukunft dieses Landes als Mitglied der EU im Herzen Europas. 


Uns alle im Parteivorstand und auch mich persönlich schmerzt es tief, wie unsere Partei in die öffentliche Kritik geraten ist. Es schmerzt viele um so mehr, da sie in Tausenden Stunden ihres Lebens die Pflicht gegenüber dem Allgemeinwohl höher angesetzt haben als ihre persönlichen Interessen.  Wer dieses Arbeitswerk der Menschen bei aller berechtigten Kritik entwürdigt, der muss sich auch fragen lassen, welche Achtung er vor den arbeitenden Menschen, vor ihrem Fleiß und ihrer Ehre hat!

Die Mehrzahl der Mitglieder unserer Partei, der Ortsgruppen, Bürgermeister, Kassenwarte, Abgeordnete, die Funktionäre aller Ebenen bemühen sich, ihrer Verantwortung gerecht zu werden, leisten viel Arbeit und kämpfen. Manchem wurde in der Vergangenheit Unrecht getan, wenn seine Meinung, die Protest gegen unverständliche oder falsche Entscheidungen der Parteiführung war, zu Parteistrafen oder gar Parteiausschluss führte. Solche Entscheidungen sind zu überprüfen und wo notwendig rückgängig zu machen.

Ohne Wenn und Aber der Kritik stellen


Die auf unsere Partei, vor allem auf ihre Führung, konzentriert Kritik resultiert aus der von uns in der Gesellschaft wahrgenommenen Verantwortung. Wer entsprechend seinem Auftrag aus der Verfassung mit seinem Programm vorangegangen ist, der muss nun in der Stunde des offenen Widerspruchs auch bereit sein, für diese Verantwortung ohne Wenn und Aber geradezustehen. Wie wir diese Republik als Teil des Volkes mit dem ganzen Volk aufgebaut haben, so müssen wir als Teil des Volkes auch dem ganzen Volk Rechenschaft geben. Dazu bekenne ich mich, dazu bekennt sich die Führung der Union. Aus meinem Verständnis für Verantwortung habe ich in dieser schwierigen Situation den Auftrag  übernommen, weiter als Parteivorsitzende und Bundeskanzlerin zu arbeiten, obwohl ich die Schwere dieser Arbeit kenne.



Die Frage, die alle bewegt, ist: Was hat zum gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft geführt? Unsere Partei hat große geistige Anstrengungen übernommen, um ihren Führunganspruch zur Geltung zu bringen. Und viele Mitgliederinnen und Mitglieder haben ihn mit ihrer Arbeit getragen. Und doch, ein Grundmangel unseres bisher existierenden Systems war eine solche Beziehung zwischen Partei und Staat, dass die Partei diesen Anspruch letzten Endes doch in hohem Maße administrativ durchzusetzen versuchte. Ich als Kanzlerin habe den Kurs festgelegt, alle anderen waren bemüht, ihn ohne große Gegenrede umzusetzen.

Das künftige politische System unseres Landes muss so beschaffen sein, dass unsere Partei einen Führungsanspruch durch größtmöglichen Anspruch an sich selbst vertritt - durch demokratisch und mit Wissenschaftspotential erarbeiteten Vorlauf zur Lösung anstehender Probleme, durch eine überzeugende Gesellschaftskooperation, durch die Lernfähigkeit im Dialog mit allen gesellschaftlichen Kräften, durch die Kompetenz ihrer Mitglieder, durch harte Arbeit jeder Parteiorganisation.


Tatsache ist: Die heute in aller Öffentlichkeit behandelten Probleme und Fragestellungen sind nicht über Nacht und auch nicht erst im Sommer vor zwei Jahren entstanden. Die tiefgründige Analyse der Entwicklung seit dem Beginn  meiner ersten Amtszeit wird uns zu manchen neuen Erkenntnissen fuhren. Heute wissen wir zum Beispiel, dass der Ansatz für ein gemeinsames Europa nicht auf einer realen Einschätzung der Lage beruhte. 


 Aus den Erkenntnissen, die uns jetzige Analysen vermitteln, wird deutlich, dass damals bei der Formulierung ökonomischer Aufgaben nicht von der Realität, sondern von subjektiven Wunschvorstellungen ausgegangen wurde. Eine gemeinsame Währung sollte einen gemeinsamen Wirtschaftsraum hervorbringen, der wiederum sollte zu einem gemeinsamen politischen Raum zusammenwachsen. Dabei wurde aus den bedeutsamen internationalen Entwicklungen wie sie sich vor allem in der Sowjetunion, aber auch in Jugoslawien vollzogen, nicht die richtigen Schlussfolgerungen gezogen. Eine Einheit von oben ist nicht herstellbar, eine Währung kann den Willen der Menschen nicht ersetzen.

Statt Lösungen gab es Losungen


Negative Erscheinungen, die aus den ungelösten objektiven Entwicklungsproblemen und auch zunehmend aus subjektiv bedingten Fehleinschätzungen resultierten, hatten sich auf vielen Gebieten ausgebreitet: in der Wirtschaft, in der Informationspolitik und den Medien, im Kultur- und Geistesleben, in der Volksbildung, in der Arbeit staatlicher Organe, gesellschaftlicher Organisationen und nicht zuletzt in unserer Partei.

Anstatt Lösungen von Problemen zu beraten, wurden allgemeine Losungen in Umlauf gebracht und stereotyp wiederholt, um in Ordnung zu bringen, was noch nicht in Ordnung ist. "Wir schaffen das", habe ich selbst zum Beispiel behauptet. Anstatt Probleme sofort und direkt anzusprechen, ließen wir uns von der Hoffnung treiben, sie eines Tages bei günstigeren Konstellationen wieder in den Griff zu bekommen. Anstatt unsere Genossen und alle Bürger ins Vertrauen zu ziehen und sie so für eine engagierte Mitarbeit zur Lösung zu gewinnen, wurde versucht, ihnen ein Gesellschaftsbild zu suggerieren, das immer weniger den Alltagserfahrungen der Menschen entsprach. Konflikte wurden verdrängt und notwendige Antworten oft durch Administration und Gängelei ersetzt. wer kritisierte, wurde als "Hassposter" oder "Hetzer" oder "Zweifler" angeprangert.

Tatsache ist auch: Die vorhandenen vielfältigen Formen der Demokratie blieben hinter den breiter werdenden Interessen und Bedürfnissen der Bürger zur Mitsprache zurück. Die politische Reife der Bürger und ihre Bereitschaft, sich mit ihrer unverwechselbaren und selbstbewussten Individualität in die Gesellschaftsgestaltung einzubringen, wurden unterschätzt. Auf diesem Boden wuchsen bürokratisches Verhalten und Herzlosigkeit im Umgang mit Bürgern. Die Missachtung der Individualität und Kompetenz in der beruflichen und gesellschaftlichen Tätigkeit führte nicht selten zur Ignoranz gegenüber geistigem Volksvermögen und ließ Schöpfertum verkümmern.

Tatsache ist nicht zuletzt: Unsere Wirtschaftspolitik ist hinter den Realitäten zurückgeblieben. Neue Anforderungen an unsere Wirtschaft. auch wachsende außenwirtschaftliche Probleme, Stichpunkt Digitalisierung, wurden nicht mit notwendigen Veränderungen in der Volkswirtschaft beantwortet. Große Investitionen, die nicht ausreichend zum Wachstum des Bruttoinlandsproduktes beigetragen haben, nahmen bedeutende materielle und finanzielle Ressourcen in Anspruch. 


Das Prinzip, dass nur verbraucht werden kann, was vorher erwirtschaftet worden ist, wurde sträflichst verletzt. der Staat nahm immer mehr ein, den Bürgern blieb immer weniger. Den immer schneller steigenden Steuereinnahmen standen nochschneller steigende Sozial- und Subventionsausgaben gegenüber. 

Unsicherheit und Unruhe breiteten sich aus


All das hatte schwerwiegende Auswirkungen auf die Stimmung im Lande. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung nahm zu. Unruhe und Unsicherheit breiteten sich aus. Demonstrationen setzten ein, etwa bei Pegida in Dresden, deren Teilnehmer in ihrer überwiegenden Mehrheit für notwendige Veränderungen in der Gesellschaft eintraten, unter die sich aber auch staatsfeindliche, auf Konfrontation und Konflikt bedachte Kräfte mischten. Ohne den Einfluss der Russen zu unterschätzen, müssen wir uns doch eingestehen, daß die eigentlichen Ursachen dieser für unsere Gesellschaft schmerzhaften Abkehr von den eingeübten Ritualen der Meinungsbildung in unserem Lande bei uns selbst zu suchen sind. Viele Menschen hatten den Glauben an die Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Zustände in Deutschland verloren und sahen für sich keine Lebensperspektive mehr, obwohl es uns wirtschaftlich so gut geht wie noch nie zuvor.


All das, was gut und wertvoll ist in unserem Land, ist nicht allein Resultat der Initiative der Regierung, sondern Ergebnis gemeinsamen Wirkens aller gesellschaftlichen Kräfte, der Anstrengungen, der Arbeit von Millionen. Zweifellos ist es diese historische Leistung unseres Volkes, die die Welt bewundern und manchmal auch neidisch auf unser Land zu schauen.


Uns aber hat diese Bewunderung verleitet, die Existenz sich verschärfender Widersprüche, die aus der Tiefe der Gesellschaft ins Bewusstsein der Öffentlichkeit drängten, zu verleugnen. Deutlich wurde, dass aus längere Zeit angestauten unbewältigten Problemen schwerwiegende Konflikte entstanden waren und unser Land in eine politische Krise geraten war. Wir standen an einem Scheideweg. Und wir sind stehengeblieben. 

Wir brauchen die offene Debatte


Die offene Debatte über das, was die Menschen bewegt, das gemeinsame Suchen nach Lösungen, der Streit um die jeweils beste Variante entwickelte sich in vielen, wenn nicht in allen Fällen zu einer Schule demokratischen Umgangs miteinander für alle Beteiligten. Die Bürgerinnen und Bürger wollten diskutieren. Wir wollten weitermachen wie bisher. Die vielschichtige Entwicklung spiegelt sich zunehmend in Massenmedien vor allem im Internet wider, in denen schon nach dieser kurzen Zeit wohltuende Veränderungen und ein neuer, erfrischender Geist unübersehbar sind. Statt unkritisch zu berichten, wird hier eine andere Elle angelegt. Wir finden das erfrischend, denn wir sehen die Verantwortung der Journalisten vor dem gesamten Volk darin, daß sie die eingeleitete Wende mit persönlichem Engagement und Besonnenheit, mit Sachkenntnis und Weitsicht befördern. Eine  öffentliche, sachkundige Erörterung gesellschaftlicher Probleme ist die Voraussetzung, Wege zu ihrer Lösung zu finden. Das ist gut, und das sollten wir fördern.


Zu lange war das anders. Wir müssen selbstkritisch einschätzen: Wir waren auf den offenen Ausbruch der Konflikte, auf die neuen Fragen in unserer Gesellschaft nicht vorbereitet! Versuche einzelner Parteimitglieder, Alternativvorstellungen im Bereich der Ökonomie, in der Medienpolitik, in der Jugendpolitik, zu internationalen Aufgaben und zu anderen Fragen zur Diskussion zu stellen, fanden keine Mehrheit, ja mehr noch, wurden verdächtigt, die Gesamtpolitik der Partei in Frage zu stellen. Die unübersehbaren wirtschaftlichen Erfolge führten zu einer unanfechtbaren Dominanz einzelner Funktionäre. Die Kollektivität der Führung war immer weniger gewährleistet. Kritik und Selbstkritik blieben unterentwickelt. Das führte in der Folge immer öfter zu subjektivistischen Entscheidungen. So konnte ich, ohne die Parteiführung, ohne die Mitglieder und ohne die gewählten Abgeordneten zu fragen, im Sommer 2015 einfach so die Grenzen öffnen. Ich habe damals selbst gestaunt, wie wenig Widerspruch daraufhin kam.


Heute ist klar: Die Lage wurde falsch eingeschätzt und deshalb auf Fragen nicht reagiert, die das Leben längst aufgeworfen hatte. Es gab Anzeichen politischer Arroganz. Entscheidungen, die kollektive, besonnene Beratung erfordert hätten, entstanden aus spontaner, oftmals aus persönlicher Verärgerung. Der Blick für das Leben war verlorengegangen.

Parteiführung fand sich zu lange mit Situation ab


Alle Mitglieder der  bisherigen Parteiführung sind sich bewusst, dass sie sich - bei allem Ansatz zum Widerspruch - zu lange mit dieser Situation abgefunden und nicht rechtzeitig genug mit kollektiver  Kraft Einspruch gegen autoritäre Erscheinungen erhoben zu haben. Die Überzeugung, mit demonstrativer Einheit und Geschlossenheit die Partei zu führen, um den Medien kein Futter für Konfliktberichterstattung zu geben, war tiefer als die Einsicht, mit dem persönlichen Beispiel des Widerspruchs das gemeinsame Nachdenken und Handeln auszulösen. Heute wissen wir: Einheit und Geschlossenheit brauchen zu vor den gemeinsamen scharfen politischen Streit.

Selbstkritik kam völlig aus der Mode


Mangel an Realitätssinn drückte sich in der Überbewertung erreichter Ergebnisse, in der Darstellung von Erstrebtem als schon Erreichtem, in der Verdrängung oder gar Negierung von Rückständen, Mängeln und Fehlern aus. Sichtbar für alle war das besonders in den Medien, die in diesem Sinne angeleitet wurden. Die politische Kultur verfiel. In der Gesellschaft kam Selbstkritik völlig aus der Mode. Kritik an negativen Erscheinungen wurde mit der Begründung, man dürfe dem Feind keine Munition liefern, mehr und mehr den ausländischen Medien und kleinen Internetseiten  überlassen. Hinzu kamen abwartende bis ablehnende, teils dogmatische, teils überhebliche Tendenzen gegenüber der Entwicklung in anderen EU-Ländern, die wir als schlecht regiert empfanden..

All das lähmte Initiativen, verschüttete Bereitschaft zum gemeinsamen Überwinden von Schwierigkeiten. Die Autorität der Parteiführung, ihre in Jahrzehnten konsequenten Kampfes für die Interessen des Volkes errungene Verbundenheit mit den Massen, worauf wir immer stolz waren, erlitt schweren Schaden. Als kluges, entschlossenes, einheitliches Handeln besonders dringlich war, gab es an der Spitze der Partei Sprachlosigkeit. Das beeinträchtigte die Handlungsfähigkeit der Partei und begünstigte die Destabilisierung im Lande, die von zum Teil aus Russland gesteuerten Bots geschürte Psychose und die Ausbreitung krisenhafter Erscheinungen fand bei manchem Bürger offene Ohren.


 Schwierige Zeiten für die Partei


Alle diese Fragen bedürfen einer weitergehenden, konsequenten und vollständigen Klärung. Diese Zeit zählt zweifellos zu den dramatischsten und kompliziertesten in der Geschichte unserer Partei. Die Auseinandersetzung darüber, wie es zu einer solch schwerwiegenden Fehlentwicklung kommen konnte, muss letztlich zu Garantien führen, die für immer eine Wiederholung ausschließen.




Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Die Wende, die wir wollen, ist noch lange nicht vollzogen, und wir müssen mit Widerstand gegen sie rechnen. Diese Chance muss jedoch anders als in ähnlichen Situationen der Vergangenheit genutzt werden. Es geht weder um kosmetische Korrekturen, weder um Flickwerk noch um Fehlerüberwindung durch einfaches Vorwärtsschreiten. Es geht darum, solche Bedingungen für die Gesellschaft zu schaffen, dass ein Zurück zu alten Zeiten nicht mehr möglich ist.

Es gilt, die wirklichen Wurzeln, die uns in diese Situation gebracht haben, aufzudecken und restlos zu beseitigen. Damit verbunden sind solche Bedingungen und Strukturen zu schaffen, die nicht nur die begonnene Entwicklung unumkehrbar, sondern solche Krisensituationen nicht wiederholbar machen.

Auf dieser Tagung heute muss sich die Parteiführung über alle Fragen grundsätzlich verständigen. Wenn nötig im harten Meinungsstreit. Es geht um die richtige gemeinsame Position, die uns in die Lage versetzt, am Ende mit einer Stimme zu sprechen und mit dem Aktionsprogramm alle Mitglieder der Partei in dem schweren Kampf um die Wiedergewinnung des verlorenen Vertrauens zu führen.


Wir suchen den Lernprozess


Das kann nur in einem kollektiven Dialog-, Erkenntnis- und Lernprozess in der Partei und in der gesamten Gesellschaft geschehen. Ziele und Inhalte dieser Gesellschaftsstrategie können sich nur aus der souveränen Entscheidung der Mehrheit des Volkes herleiten. Die sozialen, geistig-kulturellen und demokratischen Bedürfnisse und Ansprüche der Bürger unseres Landes sind es, die unsere Aufgabe bleiben.  Sie unterliegen zugleich vielfältigen Veränderungen. Unsere Gesellschaftsstrategie wird danach beurteilt, wie sie jedem einzelnen ausreichend Möglichkeiten eröffnet für seine Persönlichkeitsentwicklung, welchen Spielraum sie ihm für die individuelle Lebensgestaltung schafft.

Die Bürger - reich an Wissen, politisch interessiert und motiviert - verstehen sich zu Recht als mündige Bürger. Sie wollen sich in den Willensbildungs- und Entscheidungsprozess auf allen Ebenen einbringen. Der Mensch als bewusstes Subjekt gesellschaftlicher Prozesse, als unverwechselbare, kreativ und verantwortungsbewusst handelnde Individualität - das ist die entscheidende Quelle zur Lösung der vor uns liegenden komplizierten Aufgaben.


Die Ausarbeitung einer neuen Gesellschaftsstrategie kann nicht auf der Beteuerung abstrakter Prinzipien beruhen. Es geht einzig und allein um die Bestimmung einer Gesellschaftsordnung, in der die Menschen sich selbst verwirklichen und durch ihre Arbeit zunehmend ihre Bedürfnisse und Interessen befriedigen können. Das Land, das wir meinen, kann nur das Werk der Volksmassen selbst sein.

Wir brauchen nicht bei Null anzufangen


Wir brauchen bei der. Ausarbeitung unserer Gesellschaftsstrategie nicht bei Null anzufangen. Zu den Grundlagen der Entwicklung Deutschlands gehören die Marktwirtschaft, das private Eigentum an den hauptsächlichen Produktionsmitteln, Staatseigentum und private Versicherungen, aber auch die Verantwortung unserer Partei in der Gesellschaft und das Bündnis aller demokratischen Kräfte unseres Landes. Wer diese Grundlagen in Frage stellt, sollte sich gründlich überlegen: Will er das gesellschaftliche Chaos, will er Destabilisierung an der sensiblen Trennlinie zwischen demokratischer EU und diktatorischen Regimes wie in Russland, China oder der Türkei? Will er gefährdete Arbeitsplätze, will er soziale Unsicherheit anstatt der sozialen Sicherheit für alle?

Das kann natürlich andererseits nicht bedeuten, daß Errungenes erstarrt. Auch hier ist immer wieder zu prüfen, was entwicklungs-, erneuerungs- bzw. reformbedürftig ist. Eine wirkliche Stabilisierung der Grundlagen unseres Wohlstandes verlangt mehr als eine schwarze Null.

Zukunftsgestaltung kann weniger denn je bloße Fortschreibung der Gegenwart sein. Ausgangspunkt können nur die Erfahrungen und Bedürfnisse des Volkes sein. Davon ausgehend sind die neuen gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten zu erkunden und realistische Orientierungen auszuarbeiten. Wir brauchen eine realistische Zukunftsvision, die in allem den Menschen zugewandt ist.

Vieles, was für die freie Entwicklung des einzelnen Voraussetzung ist. hat unsere Gesellschaft geschaffen: soziale Sicherheit, hohe Bildung, vielseitige Ausbildung. Vieles, was für die freie Entwicklung des einzelnen unverzichtbar ist muss noch geschaffen werden: das tatsächliche Mitspracherecht der Bürger bei der Entscheidung großer Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung und der Zukunft sowie bessere Bedingungen für die Selbstverwirklichung des einzelnen. Unserem Bekenntnis zur freien Entwicklung und Entfaltung der Individualität jedes einzelnen haben jetzt gut überlegte, praktische Taten auf allen Gebieten zu folgen.

Der Mensch als Triebkraft

Die Individualität der Menschen ist konsequent als gesellschaftliche Triebkraft und Quelle von Innovationen zu begreifen und im Interesse des einzelnen und der Gesellschaft zu nutzen. Die Achtung und Entfaltung der Individualität gehören zur Lebensqualität und zur Ausbildung eines positiven Lebensgefühls. Wir müssen künftig gesellschaftliche Freiheit vor allem als demokratische Suche nach Varianten und Bestimmung der günstigsten Möglichkeiten weiteren Fortschritts verstehen. Die für die Freiheit unverzichtbare Einsicht in das gesellschaftlich Notwendige muss selbst frei sein. Dafür sind die entsprechenden politischen Voraussetzungen zu schaffen und zu garantieren.

Unsere Gesellschaft kann nur eine demokratische Gesellschaft sein. Bei allem, was geschaffen worden ist. erkennen wir heute deutlich, dass das demokratische Potenzial der Menschen im Lande unzureichend erschlossen wurde. Dialog, streitbares Ringen um die bestmöglichen Entscheidungen, Meinungsfreiheit, hohe Autorität von Moral und Recht, klare Verantwortlichkeiten und effektive Kontrollmechanismen, Bedingungen für kompetente und rasche Entscheidungen müssen zu Wesenszügen unserer Demokratie werden. 


Zeit für eine moralische Wende


Wir streben eine moralische Wende unserer Gesellschaft an. Vieles haben beziehungsweise hatten wir erreicht, aber manches ist auch verlorengegangen. Wir bekennen uns zur FDGO, in der die moralischen Werte des Christentums ebenso wie die allgemeinmenschlichen Werte, die aus dem geschichtlichen Wirken unterschiedlicher Klassen, Weltanschauungen, kirchlicher und anderer Gemeinschaften hervorgegangen sind, in die Vermittlung von Lebensidealen einfließen. Gewissen und Moral müssen einen weitaus höheren Stellenwert in Politik. Ökonomie und anderen Bereichen einnehmen.

* Nach Motiven der Antrittsrede von Egon Krenz als Generalsekretär des ZK der SED (Berlin, 18. Oktober 1989)

Montag, 27. November 2017

Statt Titten: Bento und der Reichsvollkornbrotausschuss

Das junge Spiegel-Angebot Bento wagt einen Neuanfang. Statt Ratgebertexte zum Umgang mit Spermaflecken, Artikel über weibliches Breitbeinigsitzen und lustiger Quizfragen über das triste Leben in Dunkeldeutschland wagt sich das magazinige Magazin jetzt auf das glatte Eis des politischen Glaubenskampfes: In einem Text mit der Zeile "Benutzt du diese Nazi-Sätze – ohne es zu wissen?" lässt Sprachwissenschaftler und Korpusliguistiker Anton Stefan die "Nazi-Alarmglocken" (Bento) klingeln.

PPQ hat das bemerkenswerte Interview von Gebärdendolmetscherin Frauke Hahnwech aus grammatischen Konstruktionen und konzeptuellen Metaphern ins Deutsche übersetzen lassen, so dass nun auch Liebhaber der leichten Sprache erfahren können, wie viel Nazi sie womöglich sind, sein dürfen oder müssen.


Wenn wir Wörter wie "Mischbrot", "Rasse" oder "Ausmerzen" hören, denken wir uns oft nichts dabei. Klar, denn Mischbrot wurde schon immer gegessen, das Wort Rasse findet sich sogar im Grundgesetz und "Ausmerzen" gehörte zu den Lieblingsvokabeln des früheren SPD-Chefs Franz Müntefering. Dennoch sollten bei allen von uns sofort die Nazi-Alarmglocken klingeln, denn Mischbrot, Rasse und Ausmerzen gehören zweifelsohne zu den Begriffen unserer Sprache, die nicht nur, aber auch Wurzeln im 3. Reich haben.

Das Mischbrot etwa ist eine Erfindung des Reichsvollkornbrotausschuss, mit dem Wort "Rasse" begründeten die Nazis ihr millionenfaches Morden, das sie zudem als "Ausmerzen" bezeichneten.

Solche Phrasen und einzelne Wörter, die vom Nationalsozialismus negativ belegt wurden, haben sich trotzdem über die Jahrzehnte hinweg in unserem täglichen Sprachgebrauch etabliert, sagt der Sprachwissenschaftler Anton Stefan von der Universität Schwedt.

Manche Wörter seien nicht so harmlos, wie sie wirken. Ihre Verwendung macht etwas mit uns, das uns bereit macht für ein viertes, fünftes oder gar sechstes Reich. Stefan warnt: "Im Unterschied zu mir haben Nationalsozialisten Sprache ganz gezielt eingesetzt, um ihre Ideologie in der Gesellschaft zu verankern und Macht auszuüben." Klar für den Wissenschaftler: Viele der von ihnen missbrauchten Begriffe irren noch immer in unserer Sprache umher!

PPQ geht den wichtigsten Fragen nach: Welche sind das? Wie umgehe ich sie? Was kann ich tun, wenn andere sie benutzen? 

Achtung, Triggerwarnung: Der nachfolgende Text enthält Nazisprache.

Welche Naziworte gibt es heute noch und warum?

Man muss zwei Kategorien unterscheiden: Einerseits gibt es Begriffe, die durch die Nazis eingeführt wurden, wie das Wort "Lügenpresse", das sich seit dem 19. Jahrhundert im deutschen Sprachraum nachweisen lässt. das deutet auf ein sehr viel früheren Vorkommen von Nazis hin als wir bislang glaubten. Da ist der Fall eindeutig: Wer den Begriff Lügenpresse nutzt, wie es die Frankfurter Rundschau bereits 1945 tat, bedient sich am Gedankengut der Nationalsozialisten. Und da frage ich mich, warum überhaupt noch darüber diskutiert wird, ob solche Ideen rechtsradikal sind.

Andererseits gibt es auch einige wenige Begriffe, die schon vor Hitler gedankenlos genutzt wurden, ohne dass die Nazis daran etwas änderten, oder?

Zum Beispiel das Wort "Volk". Das gab es natürlich schon vor den Nazis, aber dass die Väter des Grundgesetzes es dennoch für verantwortbar hielten, es in der Fügung "Deutsches Volk" zu verwenden, wirft Fragen auf. Das "Volk" ist ja immer Abgrenzung von anderen, die nicht "das Volk" sein dürfen sollen. Das ist die biologisch/ethnische Definition, wie die Nazis sie verwendet haben, auf die das Grundgesetz mit seiner Formulierung vom "deutschen Volk" anspielt.

Was passiert mit uns, wenn wir Wörter wie "Volk" auf diese Art verwenden?

Wir gewöhnen uns an nationalsozialistische Denkmuster. Selbst wenn man es unbewusst benutzt, also etwa "Volksmusik" macht oder "Volkstanz" betreibt, es ist nie die Kette von Rebhühnern gemeint, auf die der Jäger mit dem Wort anspielt. Sondern das, was im Mittelhochdeutschen "volc" war, also Leute, eine Kriegsschar. Da muss gar keine böse Absicht dahinterstecken, aber immer führt die Verwendung dazu, dass die Idee eines ethnisch definierten Volkes im Bewusstsein der Gesellschaft verankert bleibt. Das führt dazu, dass die tatsächlichen, noch schlimmeren Nazibegriffe mit der Zeit nicht mehr so empörend klingen, weil wir uns schon an die Konzepte gewöhnt haben. Sie werden also "sagbar".

Können wir nicht einfach die Nazi-Begriffe "zurückerobern" wie das Franz Müntefering mit dem Wort "Ausmerzen" getan hat? oder wie es Sportreporter mit dem Begriff "Sonderbehandlung" versuchen?

Bei einigen Wörtern funktioniert das natürlich. "Mutter" zum Beispiel hat sich "Mutterkreuz" gelöst, Hitler "Kriegsverdienstkreuz" ist in unseren zum Glück friedlichen Tagen als Bundesverdienstkreuz hoch anerkannt. Sprache ist im ständigen Wandel und zum Glück haben es die Nazis nicht geschafft, die gesamte deutsche Sprache Wort für Wort und für immer zu ruinieren. Zum Beispiel "Mädel". Damit wurde lange Zeit noch die NS-Jugendorganisation "Bund Deutscher Mädel" assoziiert, die heute kaum noch jemand kennt. Dadurch sagen junge Mädchen völlig unbefangenen "ich und meine Mädels". Aber es gibt auch Wörter, hinter denen ein Konzept steckt. Wenn heute beispielsweise versucht wird, die früher propagierten "völkischen Eigenheiten" als ethnic peculiarities wiederzuerwecken, dann wird damit viel mehr ausgedrückt, als die neutrale Beschreibung von Bürgern eines Staates mit ihren Gewohnheiten, Sitten und Gebräuchen. Diese Wörter kann man nicht einfach übersetzen.

Hat sich die Verwendung von Nazi-Sprech seit Pegida und AfD verstärkt?

Das kann ich nicht abschließend beurteilen, weil etwa Franz Müntefering irgendwann aufgehört hat, vom Ausmerzen zu sprechen und auch Eva Herman, die den Trend mit ihrem "Autobahn"-Auftritt im Fernsehen ausgelöst hat, zuletzt kaum noch zu hören war. In der Generation nach dem Zweiten Weltkrieg war Nazisprache noch Alltag. So zweifelte Konrad Adenauer die deutschen Gebietsverluste infolge des verlorenen Krieges als "völkerrechtlich nicht gültig" an und er nannte sie "faktisch zunächst verloren". Heute ist dagegen sehr klar, dass man so – zumindest öffentlich – nicht sprechen darf.

Sollte man nicht also besser alle Nazi-Begriffe verbieten?

Ob man einen Sprachgebrauch verbieten sollte, muss man sich ganz genau überlegen, denn das kann sehr schnell die Meinungsfreiheit einschränken. was muss, das muss allerdings, das ist klar. Verbote sollte man sich für schwerwiegende Fälle vorbehalten, wie im Fall der Holocaust-Leugnung.
Was wir brauchen, ist ein sensibler Umgang mit Sprache und ein Bewusstsein darüber, wie sehr sie noch immer von der Nazizeit geprägt ist. Statt Verbot also ein Lernprozess, in dessen Ergebnis jeder Einzelne für sich lernt wie wir früher, wenn Mutter uns den Mund mit Seife ausgewaschen hat: Das darf ich sagen. Und das ist verboten.

Warum ist es denn so wichtig, vorsichtig mit Sprache umzugehen?

Man darf nicht den Fehler machen, zu glauben, dass unsere Wirklichkeit losgelöst von Sprache existiert. Realität ist nicht objektiv, sie entsteht erst durch die Art, wie wir über sie reden. Ein Pferd zum Beispiel ist zwar auch ein Pferd, wenn es ganz allein für sich auf einer menschenleeren Insel lebt. Aber für uns entsteht es erst, wenn wir es entdecken. Vorher gibt es kein Pferd auf der Insel. Wenn wir also beispielsweise Sprachbilder verwenden, die Menschen in wertvoll und weniger wertvoll aufteilen, einen Sprinter zum Beispiel schnell nennen, einen Fußballer dribbelstark, eine Kanzlerin mächtig, ein Model schön oder einen Schauspieler attraktiv, dann beschreiben diese Bilder nicht die vorhandene Realität, sondern sie erschaffen gesellschaftliche Wirklichkeit, die es ohne sie gar nicht gäbe.

Wie groß ist die Gefahr?

Riesig. Realität passiert nie plötzlich, sondern immer zuerst sprachlich. Ohne das Wort Wald wären das nur Bäume, ohne Nazi-Sprache hätte es Hitler vielleicht nie gegeben und ohne das Wort "Flüchtlinge" hätten wir kein Problem mit sogenannter "Flüchtlingskriminalität". Es wird immer zuerst geguckt, wie weit kann ich sprachlich gehen, was akzeptiert die Gesellschaft. Und wenn sich das in den Köpfen etabliert hat, dann kann man zur Tat schreiten. Das ist das Gefährliche an dieser Art der Sprache: Sie beschreibt nicht nur Realität, sondern ist selbst Teil der Realität, die sie selbst erschafft.

Groko: Hauptsache Macht

Er kam, um sie abzulösen. Und endet als weiterer Bettvorleger im Schlafzimmer einer Kanzlerin, die ihre Stärke nur noch daraus bezieht, dass all ihren Gegnern eine Welt ohne sie nicht vorstellbar erscheint. Schon als Martin Schulz kurz nach der krachend verlorenen Bundestagswahl ankündigte, er werde die erreichten 20,5 Prozent "verdoppeln, und die nächste Bundesregierung wird einen sozialdemokratischen Bundeskanzler haben“, war klar, dass der erfahrene Bürokrat nun auch den letzten Kontakt zur Wirklichkeit verloren hatte. Schulz agierte wie ein Zombie, alle seinen Entscheidungen dienten allein dem Ziel, selbst Kapitän auf dem sinkenden SPD-Schiff zu bleiben. Keine GroKo, verkündete er schon Minuten nach Schließung der Wahllokale.

Wie immer war die Entscheidung nur mit einer handverlesenen Truppe von Getreuen in der Parteiführung besprochen. Wie immer musste Schulz später nachregulieren und seine inzwischen um ihre Posten und die Machtperspektive der Partei bangenden Genossen noch einmal nachdrücklich auf die Absage an Merkel einschwören. Der Buchhändler, geübt im politischen Kampf hinter den Kulissen, glaubte die Sozialdemokratie aus Neuwahlen gestärkte herausführen zu können - ein erneuter Fehlschluss, wie aktuelle Umfragen vermuten lassen.

Schulz hat sie auch gelesen. Und aus der großen Angst, in einer erneuten Großen Koalition weiter Stimmen zu verlieren, wurde nun die noch größere Angst, nach Neuwahlen mit noch weniger Abgeordneten im Parlament zu sitzen. Weniger Abgeordnete aber bedeuten noch weniger treue Gefolgsleute für den Mann, der die SPD noch schneller heruntergewirtschaftet hat als sein Vorgänger Sigmar Gabriel. Und so windet sich der für seinen Opportunismus bekannte Parteiführer in Windeseile eine Runde so um sich selbst, dass er in wenigen Tagen am anderen Ende als Merkels Vizekanzler herauskommen wird.

Ein Umfaller von historischer Dimension. Schulz, der Merkel ablösen wollte, wird zu Merkels Lebensretter.

Sonntag, 26. November 2017

Zitate zur Zeit: Im Dienst des Schmetterlings

"Wir wollen dass in diesen vier Jahren, dass jede Biene, jeder Vogel und jeder Schmetterling weiß, wir werden uns für sie einsetzen."

Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt beim Parteitag der Grünen in Berlin.

Geniestreich aus der Bundesworthülsenfabrik: Terrorsperre

terrorsperre Bundesworthülsenfabrik fröhlicher Jahresendmann
Neue Stadtmöbel als Hingucker: Terrorsperren schützen unsere Jahresendmärkte.
Mit "Rettungsschirm" und "Energiewende", "Schuldenbremse" und "Wachstumspakt", "Stromautobahn" oder "Obergrenze mit atmendem Deckel" hat die Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in den vergangenen Jahren mehr für den politischen Symboldialog in Deutschland getan als viele extreme und radikale Parteien wie die CSU, die AfD oder gar die FDP.

Ja, Deutschland hat sich und es wird sich weiter verändern, genau wie die als Ungelernte zum Politik-Star gewordene Katrin Göring-Eckhardt es stets vorhergesagt hat: Bunter, sozial wärmer auch infolge des unaufhaltsamen Klimawandels, dazu aber auch sicherer, weil der starke Staat angesichts des internationalen Terrors der Rechtsextremisten klare Kante zeigt: Das offene Gemeinwesen schützt sich, nicht nur mit Panzerwesten, wundervollen neuen Wasserwerfern und Schnellfeuergewehren, sondern auch mit pfiffigen Betonsperren, die es jungen Männern unmöglich machen, die stille Zeit am Ende des Jahres unzulässig zu stören.

Mit Hilfe der Bundesworthülsenfabrik wurde binnen kurzer Zeit auch eine beruhigende Vokabel für das neue Phänomen der am Rande von Innenstädten und Weihnachtsmärkten aufgebauten Merkel-Mauern gefunden.

BWHF-Chef Rainald Schawidow, der zu DDR-Zeiten schon für Erich Honecker und Kurt Hager arbeitete und damals Begriffe wie den "Sozialismus in den Farben der DDR" und das "gemeinsame europäische Haus" erfand, verweist auf den friedlichen Charakter des neuen Wortes. "Terrorsperre ist ein absolut defensiver Begriff", beschreibt er, "der jedoch zutreffend das Gefühl vermittelt, der aufgegebene Schutz der Außengrenze könne quasi auf jedem Marktplatz leicht wiederhergestellt werden." Angela Merkel selbst, die über den von Hetzern, Hassern und Zweiflern höhnisch genutzte Begriff "Merkel-Lego" wütend gewesehn sei, habe die Neubezeichnung in der BWHF bestellt. "Da war natürlich Ehrensache für uns, flott zu liefern."

Um nicht nur verbal zu beruhigen, habe die BWHF parallel zur vom Kanzleramt angewiesenen sofortigen Implimentierung des neuen Wortes in den Leitmedien eine Strategie entwickelt, nach der die neuen barrierefreien Barrieren durch die örtlichen Behörden in Geschenkpapier gehüllt oder fröhlich bunt angemalt werden. "Der kleine Mann auf der Straße soll nicht über den komplizierten Sachverhalt nachdenken, weshalb es diese Sperren braucht", sagt Rainald Schawidow. Wichtig sei vielmehr, dass er es als völlig normal empfinde, dass er sieben Jahrzehnte nach dem Ende des 2. Weltkrieges wieder vor Bomben und Tod geschützt werden müsse. "Uns kommt es darauf an, dass er glaubt, das alles sei ebenso selbstverständlich wie die weihnachtlich gestimmten Polizisten mit ihren mattschwarzen Friedensgewehren und den Beamtenhidjabs."

Dank bunter Folien und roter Schleife, liebevoll aufgemalten Jahresendmännern und Jahresendflügelfiguren in züchtig-festlichen Kleider sind die neuen Terrorsperren ein Hingucker in so mancher City. Ob als Betonpoller, mit Granulat gefüllte Sackriegel oder preisgünstiger Wassercontainer - alle diese Varianten machen Deutschland in der stillen Zeit erlebenswerter, sicherer und die Menschen insgesamt zufriedener.

Tröstlich für Steuerzahler und Jahresendmarktbesucher zudem: Alle rund 35.000 Terrorsperren rund um die 2.500 deutschen werden mit Gesamtkosten von zwischen 35 und 60 Millionen Euro insgesamt so viel billiger als gedacht, dass letztlich sogar noch Geld übrig bleibt, um die Glühweinpreise stabil zu halten. Das Geld, so twitterte die SPD, "wurde in diesem Land erwirtschaftet und niemanden weggenommen." Julia Klöckner  von der CDU bestätigte: Der Steuerzahler müsse nicht dafür aufkommen, weil "der Bund gut gewirtschaftet" habe.

Samstag, 25. November 2017

Bundeswehr zieht Bilanz: Sexy Soldaten

Vor einem Jahr erst präsentierte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen ein neues, kühnes Konzept, das aus der Bundeswehr einen modernen und attraktiven Arbeitgeber machen sollte. Keine einfache Armee mit Offizieren und Soldaten sollten Heer, Luftwaffe und Marine mehr sein, sondern eine bunte Truppe, die in Sex-Seminaren für den Nahkampf gestählt und auch im digitalen Gefecht unschlagbar ist.

Jetzt zieht das Verteidigungsministerium eine erste Bilanz unter besonderer Berücksichtigung der Säuberung der Truppe von Naziandenken und falschen Flüchtlingen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: So zählt das Ministerium deutlich mehr Fälle von sexueller Belästigung und Vergewaltigung als früher. In diesem Jahr seien bis Mitte November elf Vorfälle angezeigt worden, bei denen Bundeswehrangehörige eine Kameradin oder einen Kameraden vergewaltigt haben oder dies versucht haben sollen. Im letzten Jahr vor der Umstellung auf das weltweit beispielhafte Konzept der familienfreundlichen Vorwärtsverteidigung hatte es noch nur fünf solcher Vergewaltigungen und Vergewaltigungsversuche gegeben.

Auch die Gesamtzahl von sexuellen Übergriffen von Berührungen bis zu Vergewaltigungen stieg von 128 im Gesamtjahr 2016 auf 187 bis November 2017. Ursula von der Leyen zeigt sich zufrieden mit den ersten Früchten der Reformbemühungen. „Es ist ein positives Zeichen, dass Vorgesetzte und Mannschaften häufiger Vorfälle anzeigen“, sagte sie. Erst im Frühjahr hatte es einen Workshop zur sexuellen Orientierung der Soldaten gegeben, jetzt folgt eine Sonderausgabe des hauseigenen Y-Magazins zum Thema „Liebe, Lust und Partnerschaft“ – die Bundeswehr macht Ernst mit der neuen Offenheit für Geschlechtsdinge und den Umgang mit unterschiedlicher Sexualität.

Der frühere grüne Bundestagsabgeordnete Volker Beck lobt die ersten Ergebnisse der großen Reform bei Twitter: "Die Bundeswehr könnte selbst einem holländischen Angriff mit Elektrofahrrädern höchstens sechs bis sieben Minuten standhalten."

Stunde Null: "Spiegel" vergleicht Merkel mit Hitler

"Der "Spiegel" sagt ,danke, Merkel` und zeigt Bilder aus Deutschland 2017: Die zweite Stunde Null.
Als sei die Situation im politischen Berlin nach der missratenen Bundestagswahl nicht ohnehin schon angespannt genug, gießt nun auch der ehemals renommierte "Spiegel" weiter Öl ins Feuer: Mit dem aktuellen Titelbild "Stunde Null" zieht das frühere Nachrichtenmagazin Parallelen zwischen der komplizierten Mehrheitssituation in der Bundesrepublik des Jahres 2017 und dem Zusammenbruch des Hitlerregimes im Mai 1945.

War bisher die unmittelbare Nachkriegszeit in Deutschland und Österreich als "Stunde Null" bezeichnet worden, weil ein Machtvakuum nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht die Chance zu einem voraussetzungslosen Neuanfang bot, ist Deutschland heute von einer Regierungslosigkeit weit entfernt. Alle Minister sind weiter im Amt, die Kanzlerin vertritt das Land nach außen, die völkerrechtlichen Verpflichtungen werden ausnahmslos eingehalten, soweit Angela Merkel nicht bereits zuvor entschieden hatte, dass sie im Inland keine Anwendung finden.

Der "Spiegel" nutzt die fragile Krisenlage dennoch, um gezielt querzuschießen. Mit dem "Stunde Null"-Vergleich, der die weiter als künftige Kanzlerin bereitstehende Demokratin Angela Merkel mit dem seinerzeit bereits toten Massenmörder Adolf Hitler gleichsetzt, begibt sich die Redaktion wie schon zuletzt mit einer Serie von Trump-Titelbildern auf das glatte Eis des politischen Propagandismus. Lehrbuchmäßig wird der Auszug der FDP aus den Verhandlungen zu einer Jamaika-Koalition, die der "Spiegel" favorisiert hatte, als Fehlleistung eines Egomanen pathologisiert, dem zugleich Ambitionen angedichtet werden, er wolle sich nach selbstprovozierten Neuwahlen mit Hilfe rechtspopulistischer Forderungen zum ersten stramm rechten Reichskanzler seit Hitler aufschwingen.

Ohne sich groß um Realitäten zu scheren, dichtet das Magazin in seiner Titelstory ein Märchen zusammen, das geschickt an reale Ereignisse andockt, um Bürgerinnen und Bürger gezielt zu verunsichern. FDP-Chef Lindner habe mit sei­ner "pro­fes­sio­nell in­sze­nier­ten Ko­ali­ti­ons­ab­sa­ge un­ter Schein­wer­fer­licht im nächt­li­chen Ber­lin" mehr im Sinn gehabt, als eine je­ner „Trend­wen­den“ durch­zu­set­zen, von de­nen in sei­nen Twit­ter-Ein­trä­gen zu le­sen sei, orakelt der "Spiegel" sich eine Verschwörungstheorie herbei, die hinter dem Verhandlungsaus eine Strategie entdeckt, mit der der FDP-Chef auf eine eigenen Kanzlerschaft zielt. Lindner wolle "nach dem Vor­bild von Em­ma­nu­el Ma­cron und Se­bas­ti­an Kurz die Li­be­ra­len in eine bür­ger­li­che Pro­test­be­we­gung ver­wan­deln", unter anderem mit einem "Per­so­nen­kult wie sei­ne Vor­bil­der aus Öster­reich und Frank­reich" und einer "Rhe­to­rik ge­gen die Eli­ten, die Me­di­en und das an­geb­lich herr­schen­de Mei­nungs­mo­no­pol".

Das gibt es natürlich nicht, auch wenn die "Zeit" im Kampf gegen den liberalen Verrat an Jamaika die krude "Spiegel"-These von der geplanten Machtergreifung der Liberalfaschisten stützt. Die „Lindner-Bewegung“, wie es dort verächtlich heißt, wolle den "unkartierten Raum" erobern, den die Union unter Merkel rechts von sich habe  freilassen müssen, um nicht das Geschäft der neuen Nazis zu besorgen. Die FDP stehe damit genau auf der Bruchlinie der westlichen Gesellschaften, die von der Globalisierung als Unternehmer, Konsumenten und Touristen maximal profitieren möchten, von deren Rückwirkungen aber - anders als Redakteure der "Zeit" - weitestgehend verschont werden wollen.

Ein Verbrechen mit Ansage, dem die "Zeit" eine klare Absage erteilt: "Einzeln sind alle diese Forderungen natürlich diskutabel, in der Summe enthalten sie ein gefährliches, irreales Signal: Deutschlands Rolle in der Welt ist auch viel billiger zu haben."

Dass Deutschland 2016 zehnmal so viele Flüchtlinge aufnahm wie Frankreich, erscheint so gesehen nur logisch und gerecht. Eine FDP-Forderung nach Beschränkung des Familiennachzuges dagegen zeigt, was die ehemals liberale Partei heute in Wahrheit ist: Die radikalisierte, rechtsenthemmte Garde eines egomanen Populisten auf der faschistischen Seite der Uni­on, die gnadenlos durch die verheerten Trümmerlandschaften der neuen Stunde Null (Foto oben) trampelt und "das alte Po­li­tik-Es­ta­blish­ment" (Zeit) da­mit zwingt, "jene Scher­ben weg­zu­räu­men, die Lind­ner hin­ter­las­sen hat.“

Freitag, 24. November 2017

Jamaika-Blues: Die Niederlage der Nation

Der ewigen Kanzlerin schwinden die Machtoptionen, die führenden Politikbegleiter sind in großer Sorge um den Fortbestand des Gemeinwesens. Politikwissenschaftler Holtmann sieht Volksparteien aber nicht am Ende. Zeitgleich äußern die besten kräfte der deutschen Demokratie populistische Elitenverachtung und nach AfD und SPD hat sich nun auch noch die FDP aus dem Kreis der gestaltungswilligen Parteien verabschiedet. Jamaika-Blues bei "Spiegel", "Stern" und "SZ", Tränen der Trauer und Tränen der Wut bei FR, Taz und Welt. Es riecht nach Weimar, heißt es, wenn auch nur leicht.

Über die Ergebnisse der Bundestagswahl und der nachfolgenden lähmenden Sondierungsgespräche um eine imaginäre Koalition aus Feuer, Wasser und Posaunen sprach PPQ mit renommierten Politpsychologen Hans Achtelbuscher vom An-Institut für Angewandte Entropie der Bundeskulturstiftung.

Die Partner der Großen Koalition haben sehr unterschiedlich auf die Wahlergebnisse reagiert. Warum wollen die Sozialdemokraten auf keinen Fall regieren, die CDU aber um jeden Preis?

Achtelbuscher: Das bestätigt frühere Erfahrungen, nach denen Partner einer Großen Koalition Federn lassen, danach aber auf unterschiedliche Weise mit dem luftigeren Federkleid umgehen. Die Union hat vom Amtsbonus der Kanzlerin profitiert, zugleich aber unter dem Namen Merkel gelitten. Dagegen war die SPD an Martin Schulz gefesselt, den die Wähler nach dem Abflauen des künstlich erzeugten Hypes für eine Art Taschenbuchausgabe von Frau Merkel hielten. Die SPD konnte die Pferde nicht wechseln, weil die gesamte Machtbalance dann auseinandergefallen wäre, ebenso geht es der CDU. Letztlich war der Handlungskorridor beider Parteien so auf ein mehr vom weiter so festgelegt.

Hätte aber dann nicht eine Neuauflage der GroKo folgen müssen?

Achtelbuscher: Schlimmer für beide wäre das auch nicht gewesen. Nein, das Problem liegt darin, dass SPD iwe CDU sich immer noch für Volksparteien halten, die aber sind ein historisches Relikt, denn Milieus und Lager werden brüchiger und die Wähler glauben nicht mehr einfach so, was ihnen durch Medien vorgesetzt werden, die - wie im Fall von ARD und ZDF - direkt unter der Kuratel der Parteien stehen. Der Wert der Volksparteien misst sich aber nicht am eigenen Glauben daran, man sei eine. Sondern am Vermögen, heterogene Interessen unterschiedlicher Bevölkerungsschichten zu bündeln. Die GroKo-Parteien sprachen ja zuletzt wirklich nur noch ein relativ fest umrissenes Klientel an. Die, die in den letzten Jahren profitiert hatten.

Stehen nun nach dem Ende der Jamaika-Spekulation also irgendwann interne Machtkämpfe um die kommende Richtung bevor?

Achtelbuscher: Das ist eine Frage des Krisenmanagement. SPD wie CDU wissen, dass die Krise nur noch tiefer wird, wenn die in den Tiefen der Parteikörper brodelnden Energien nach außen ausbrechen. Deshalb halten Schulz und Merkel ja auch noch durch beziehungsweise dulden ihre Gegenkräfte deren Versuche, von der Spitze aus einen Neuanfang zu organisieren. Aus der Geschichte wissen wir, dass das noch nie gelungen ist, aber nach den vielen Jahren, in denen die beiden Parteien von relativen kleinen, fest miteinander verbundenen Gruppen geführt wurden, herrscht dort wohl der Glaube, dass es diesmal anders sein könne. Allerdings könnte schon beim Parteitag im Dezember alles ins Wanken kommen, weil die Basis der SPD eine Figur wie die alteingesessene Andrea Nahles als fragwürdige Anführerin beim angeblichen Marsch in ein neues Zeitalter empfindet. Klar ist: je später der Umbruch kommt, desto geschwächter wird die Partei sein, die ihn dann ertragen muss.

Und was erwarten Sie für eine Regierungsbildung?

Achtelbuscher: Das wird kein Selbstläufer. Aber ein einigermaßen gut geführtes Land kann auch mal sieben, acht oder auch zwölf Monate ohne Regierung aushalten. Eigentlich regiert in Deutschland ja nun auch schon seit Juni niemand mehr. Und man merkt es im Alltag kaum.

Viele sagen, die Situation sei jetzt so spannend wie lange nicht, die Menschen gingen wieder zur Wahl, es interessierten sich viele für Politik?

Achtelbuscher: Das ist auch ein Spiegel der Schmusezeiten, die wir unter Union und SPD erlebt haben. Die CDU hat sich ja zu einer sozialdemokratischen Partei gewandelt, die Sozialdemokraten haben den Pragmatismus von notwendigen Rüstungsexporten und freundlichen Gesprächen mit Diktatoren entdeckt. Das verschleißt einerseits die Demokratie, andererseits ist so eine Art Führung des Landes durch reines Management für die Wirtschaft ein Segen. Vielleicht sollte man es probehalber mal zwei Jahre so weiterlaufen lassen. Dann wüssten wir, wie nachhaltig das ist. Und dann könnte man entscheiden, ob es sich wirklich lohnt, jedes Jahr mehr als 300 Millionen für eine Regierung auszugeben, wenn man für dieselbe Summe auch 100.000 neue, kostenlose Kindergartenplätze schaffen könnte.