Mittwoch, 27. August 2014

Fremde Federn: Rußland kämpft mit Amerika bis zum letzten Ukrainer

Die "Junge Welt" hat ein bemerkenswertes Interview mit dem ukrainischen Generaloberst Wladimir Ruban aus der "Ukrainskaja Prawda" übersetzt. Ruban ist der Chefunterhändler der ukrainischen Regierung für Verhandlungen mit den Separatisten zum Gefangenenaustausch. PPQ dokumentiert die Dokumentation.

Was sind das für Menschen, mit denen Sie verhandeln? Was für einen Charakter haben sie? Wofür tun sie das? Wahrscheinlich haben Sie sich ein Bild von ihnen machen können.
Und zu welchem Zweck macht die ukrainische Armee Gefangene? Was sind das für Menschen in der ukrainischen Armee und in den Freiwilligenbataillonen?

Das heißt, für Sie sind die einen wie die anderen?
Für Sie nicht? Sind für Sie sechs Millionen Bewohner der Region um Donezk und Lugansk plötzlich zu Feinden geworden?

Nein, friedliche Anwohner sind keine Feinde.
Und die 15000, die bewaffnet sind – sind das für Sie Feinde?

Alles in allem schon. Das sind schließlich Leute, die Leben und Gesundheit friedlicher Bürger bedrohen.
Jede Armee bedroht Leben und Gesundheit friedlicher Bürger. Dafür gibt es sie. Offiziere, die die Militärakademie abgeschlossen haben, sind professionelle Mörder, oder ist Ihnen das neu? Haben Sie das nicht gewußt? Das sind keine Leute, die auf Paraden Flaggen tragen, das sind Leute, die im Schützengraben andere Menschen umbringen. Das ist der Inhalt ihrer Ausbildung, so wie ich von meiner Ausbildung Jagdflieger bin. So ein schönes Wort, klingt so harmlos. Nehmen Sie das Wort »Flieger« weg, und es bleibt Jagd. Was ist mein Job? Zu jagen und zu töten.

Für mich sind diese Menschen dort keine Feinde. Ihnen fällt das leicht, sie aus Ihrer Position als Feinde zu betrachten. Aber ich kenne diese Leute seit langem. Unter ihnen sind Offiziere, Afghanistan-Veteranen, mit denen wir gemeinsam gegen (den geputschten Präsidenten Wiktor; jW) Janukowitsch protestiert haben. Dort gibt es Leute, mit denen wir auf dem Maidan gestanden haben. Auf dem Euromaidan. Aber wir haben ihn nicht so genannt.

Was meinen Sie mit »dort«?
Auf der anderen Seite. Die mit den Georgsbändchen, in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk.

Diese Leute haben also mit Ihnen auf dem Maidan gestanden?
Ja, und jetzt kämpfen sie gegen die ukrainische Armee. Es gibt jetzt zwei Seiten.

Aber warum tun sie das?
Und warum hat der »Rechte Sektor« »das« auf dem Maidan getan? Oder warum haben die Leute auf dem Maidan gestanden?

Wenn sie auf demselben Maidan waren, warum stellen sie sich jetzt gegen dieselben Menschen, mit denen sie Seite an Seite gestanden haben?
Weil die Leute, die auf dem Maidan waren, sich mit der Absetzung Janukowitschs zufriedengegeben haben. Weiter ist bisher keine einzige Forderung von damals erfüllt worden. Und die Leute im Donbass haben entschieden, bis zum Schluß zu kämpfen. Ihnen hat es nicht gereicht, daß Janukowitsch weg war, sie wollen reale Veränderungen im Land. Die meisten Punkte, die sie fordern, sind dieselben, die auch auf dem Maidan vorgetragen wurden.

Das sieht aber ganz anders aus.
Dafür muß man sich bei den Journalisten bedanken und bei all den anderen, die sie als Terroristen verschrien haben. Auch diejenigen, die sich den Begriff »Antiterroroperation« haben einfallen lassen, statt »Krieg« zu sagen.

Aber Rußland erkennt das nicht als Krieg an …
Was hat Rußland damit zu tun?

Sind Sie etwa der Meinung, Rußland sei an diesem Konflikt nicht beteiligt?
Haben Sie dort russische Truppen gesehen?

Ich habe Soldaten aus Rußland gesehen.
Haben Sie die Beteiligung russischer Truppen gesehen?

Offiziell nicht.
Sie werden sie auch inoffiziell nicht sehen, weil es dort keine gibt. Und sogar, wenn Sie irgendeinen Russen oder irgendeinen Soldaten gesehen haben, ist das noch keine Beteiligung Rußlands.

Wie soll man das denn sonst nennen?
Wie Sie wollen. Wissen Sie, daß auf beiden Seiten Söldner kämpfen?

Ja.
Auf beiden Seiten. Auf der ukrainischen und auf der Lugansker und Donezker Seite. Sagen Sie jetzt auch, daß Polen oder Schweden auf unserer Seite kämpfen? – Es gibt so einen traurigen Witz: »Rußland kämpft mit Amerika bis zum letzten Ukrainer.« Das kommt der Wahrheit sehr nahe. Aber das ist Geopolitik, und da werden die Entscheidungen ganz woanders getroffen. Spezialisten für nationale Sicherheit können lange darüber diskutieren.

Wir arbeiten direkt an der Front und bedienen uns unserer Erfahrung und unseres Wissens. Wir sind gewöhnt, die Dinge beim Namen zu nennen. Wenn dort russische Waffen geliefert werden, ist es das eine. Putin kann da vieles verbieten, das ist eine andere Frage. Wenn da russische Offiziere sind, ist es eine dritte. Das ist keine offizielle Beteiligung Rußlands als Kriegspartei.

Wie soll man das denn nennen?
Waren Sie dort?

Ich beschäftige mich das letzte halbe Jahr mit nichts anderem.
Und, sind alle Offiziere dort Russen? Am Ende noch Tschetschenen?

Nicht alle, aber der harte Kern. Die Anführer der Bewegung.
Gott sei mit Ihnen. Russen mit ukrainischen Pässen?

Mit vollkommen russischen Pässen.
Das sind sogenannte »Berater«.

Ausbilder.
Wir sind schon zu Sowjetzeiten als »Bergleute zum Erfahrungsaustausch« in andere Länder gefahren und waren Militärberater. Genauso sind bei uns heute Spezialisten aus verschiedenen Ländern als Ausbilder tätig. Nicht deswegen, weil ihr Land sie schickt, sondern weil unsere Seite darum gebeten hat. Nehmen Sie an, wir wollen zusammen ein nettes kleines Ding drehen, aber wir wissen nicht, wie das geht. Was machen wir? Wir laden uns irgendeinen Banditen als »Spezialisten« ein, damit er uns berät, wie man in die Bank und wieder herauskommt.

Aber die Leute, die »sagen, wie es geht«, kommen alle aus Rußland. Wie soll man denn von einer inneren Auseinandersetzung reden, wenn sie von außen gesteuert wird?
Nennen Sie es, wie Sie wollen.

Nein, ich versuche mir darüber klarzuwerden.
Dann werden Sie sich mal klar. Ich habe Ihnen meine Meinung gesagt. Alle Fragen werden innerhalb der Ukraine entschieden. Jede Seite hätte schon mehrmals den Krieg gewinnen können.

Aber?
Wenn man hätte gewinnen wollen und nicht den Krieg in die Länge ziehen. Man hätte ja wohl innerhalb von drei Monaten das Feuer einstellen und sich einigen können. Das kann man immer, in jeder Situation.

Und warum passiert das dann nicht?
Es gibt Leute, die sind an einem Ende des Krieges nicht interessiert. Ich bin das nicht, ich kann mich mit der anderen Seite einigen.

Und werden Sie das tun?
Ja. – Wir haben ja offiziell keinen Krieg. In Kiew fürchtet man den Kriegszustand, und niemand weiß, was das bedeutet. Die Zivilisten an der Macht fürchten sich vor den Militärs, denn wenn das Kriegsrecht ausgerufen wird, dann verlieren die Zivilisten an der Macht diese womöglich an das Militär. Das Ergebnis ist, daß die gesamte Infrastruktur vor die Hunde geht und die Menschen leiden.

Sind Sie der Meinung, man müßte das Kriegsrecht einführen?
Wenn Krieg herrscht, muß man das Kriegsrecht einführen. Den Dilettanten unter den Journalisten muß man verbieten, über den Krieg zu schreiben, weil sie keine Ahnung haben, was er bedeutet. Über den Krieg schreiben dürften nur Spezialisten. Es muß deshalb eine strikte Zensur geben, damit kein Schaden entsteht. Ich bin ein Gegner der Zensur, aber ich sage das auf der Grundlage dessen, was ich weiß.

Die Steuern müssen ordentlich eingezogen werden, nicht so von Fall zu Fall, wie das (Ministerpräsident Arseni; jW) Jazenjuk beim Parlament zusammenbettelt: ein neues Gesetz, eine neue Steuer.

Im Krieg ist alles sehr einfach. Es herrscht Krieg, es müssen Probleme gelöst werden, es gibt ein Ziel: den Sieg. Bei uns weiß man nicht, was das Ziel ist.

Kiew versucht einfach, den Krieg zu ignorieren und zu leben wie im Frieden.
Die Kiewer sind darum bemüht. Aber auch die Regierung?

Vom Kriegszustand hat doch niemand Vorteile. In der Westukraine hat man den Eindruck, daß es keinen Krieg gäbe.
Und was passiert mit Ihrer Wohnung, wenn in der Küche der Kriegszustand herrscht? Ist dann im Schlafzimmer alles in Ordnung? Das ist schließlich Ihre Wohnung, die müssen Sie als Ganzes betrachten. Deshalb muß der Kriegszustand sowohl im Schlafzimmer als auch in der Küche ausgerufen werden.

Ob es der Westukraine gefällt oder nicht: sie hat Teil am Krieg, sie schickt ihre Kinder dorthin. Ich sehe sie, wenn ich sie aus der Gefangenschaft heraushole, sie können kein einziges Wort Russisch. Die sind so etwas von betroffen vom Krieg. – Das ist keine Antiterroroperation. Das ist ein Krieg.

Was für ein Krieg?
Ein neuer, unverständlicher, hybrider Krieg. Beinahe ein Bürgerkrieg.

»Beinahe« … Warum gibt es die »Berater«?
Berater gibt es immer. Ich habe von einem »Beinahe-Bürgerkrieg« gesprochen, weil beide Seiten ideologisch kaum zu unterscheiden sind. Beide kämpfenden Seiten wollen ordentlich leben. Sie wollen vernünftige Straßen und daß ihre Familien gut ernährt sind. Für sie macht es keinen großen Unterschied, ob die Ukraine in Richtung Rußland oder EU gleitet oder ob sie allein bleibt. Alle wollen besser leben, und alle, beide Seiten, sind durch diese Führungsfiguren ins Elend gestürzt worden.

Aber der Krieg beschleunigt das doch nur.
Der Krieg ist immer eine Quelle des Fortschritts und der Klärung – in den Seelen und hinsichtlich der Zukunft. Die Ukraine ist ein reiches Land, sie wird niemals ins Elend stürzen. Ich denke, der Krieg nimmt irgendwann ein Ende, und die Leute werden wohlhabender.

Gemeinsam mit dem Donbass?
Gemeinsam.

Es wird also kein »Transnistrien 2« geben?
Nein. Die Infrastruktur ist zerstört, ein solches Transnistrien 2 könnte sich nicht halten. (1990 hatte sich die überwiegend russische und ukrainische Bevölkerung in dem hauptsächlich östlich des Dnjestr/Dnister gelegenen Industriegebiet von Moldawien abgespalten und die Republik Transnistrien [Eigenbezeichnung: Pridnestrowische Moldauische Republik] ausgerufen; jW)

Die Ukrainer sind ein fleißiges Volk und können gescheit arbeiten. Unsere Ingenieure sind erstklassig, und in Donezk steht eine der besten Technischen Hochschulen des Landes.

Gerade ist der Bau von einer Granate getroffen worden …
Das ist eine interessante Frage, woher die Granate gekommen ist. Es gibt eine »dritte Seite« – wir nennen sie jetzt so –, die diese Granaten verschießt und die Schuld der einen oder anderen Seite zuschreibt.

Wer ist diese »dritte Seite«?
Ich weiß es noch nicht, ich habe keine entsprechenden Informationen. Wir nennen das, als Arbeitstitel, »dritte Seite«. Besler von den Aufständischen nennt sie so, und die Leute in Donezk sagen es auch. Nach diesen Leuten wird gefahndet, um herauszubekommen, wer diese Saboteure geschickt hat.

Sie sagen, daß die Leute auf beiden Seiten gleich sind. Und dann haben Sie die Situation einer Mutter, der mitgeteilt wird, daß ihr Sohn erschossen werden soll. Die Kämpfer haben den Henker und einen Geistlichen zu ihm gebracht, und sie ist bereit, auf den Knien dorthin zu rutschen, um die Aufständischen anzuflehen, daß sie ihren Sohn statt ihn zu erschießen, wenigstens Schützengräben ausheben schicken. Ist das in Ordnung?
Ja, das ist in Ordnung, wenn die Verwandten sich um ihre Angehörigen kümmern, die in Gefangenschaft sind. Dafür gibt es die Familie. Die Mutter hätte nicht gedankenlos abstimmen dürfen, und beim nächsten Mal wird sie mit dem Herzen abstimmen und dabei berücksichtigen, was sie erlebt hat. Und ihr Sohn wird auch die richtige Wahl zu treffen wissen.

Das heißt, wir sind auf einem Weg der Selbstreinigung?
Ja. Wir haben aufgehört, zu unseren Eltern zu fahren und häufig an sie zu denken.

Und die Aufständischen – werden die »mit dem Herzen abstimmen«? Können sie lernen, in solchen Kategorien zu denken?
Die Aufständischen sind genau solche Ukrainer wie Sie und ich. Sie sind nicht aus anderem Teig gebacken, sie haben dieselben Blutgruppen, ihr Blut ist genauso rot wie unseres. Sie haben dieselben Schulen besucht wie wir und gemeinsam mit uns die Schulbank gedrückt.

Aber ihre Lage ist etwas anders. Sie sind in der Minderheit.
Was heißt hier Minderheit? Wie viele Menschen soll man denn umbringen, damit der Donbass als ukrainisch durchgeht? Hundert- oder zweihunderttausend?

Am besten keinen einzigen.
Eben. Deshalb muß man verhandeln und sich einigen. Man muß lernen zuzuhören. Ein guter Unterhändler redet wenig und hört viel zu.

Glauben Sie, daß die Leute aus dem Donbass, die sich in der Vergangenheit politisch und im Leben immer alles haben bieten lassen, etwas lernen werden?
Selbstverständlich. Sie haben schon einiges gelernt. Nach dem Maidan ist die Ukraine nicht mehr dieselbe, und nach diesem Krieg erst recht nicht. Wir sind jetzt alle andere Menschen geworden.


2 Kommentare:

Teja hat gesagt…

Guter Mann. Endlich mal Einer aus den Reihen Kiews, dachte bis jetzt, da gibt's nur A****lö****. So wie der Alexander V. Zakharchenko im Interview richtig feststellte: in diesem Krieg töten sich gegenseitig die Slawen. Das hat die EUSANATO fein hinbekommen.

Volker hat gesagt…

Redegewandt ist er, der Wladimir.

Das Interview sollte man lesen unter dem Gesichtspunkt, dass er auch da seine Arbeit macht als Chefunterhändler. Und das macht er sehr gut.
Alles trennende rhetorisch klein machen, alles Gemeinsame an die große Glocke.
Alle Kanäle offenhalten, nicht den geringsten Versuch sich moralisch oder sonstwie über den Gegner zu stellen.
Ihm gelingt auch der Spagat, den durchsetzungsstarken und zuverlässigen (Offiziersehrenwort) Führer darzustellen, jedoch ohne auch nur einen Anflug von persönlicher Eitelkeit oder Rechthaberei.
Ein Talent.