Freitag, 11. Juli 2025

Nichtstudieren in Westdeutschland: Abschreckende Wirkung

Studierendenzahl, Rückgang, Hochschulen NRW, Wintersemester 2023/24, MINT-Fächer, Universitäten, Studienbedingungen
Nur auf kleinen Netzplattformen wird der Trend betrauert, die großen Adressen dagegen gefallen sich in Schweigen, unterbrochen von gelegentlichen Klischeeübungen.

Die Zahlen der Studenten sinken bundesweit, besonders MINT-Fächer verlieren an Attraktivität. Hohe Mieten, politische Unsicherheiten und ein schlechter Ruf westdeutscher Regionen könnten junge Menschen abschrecken. Doch wo sind die Talente hin? Weder Universitäten noch Handwerk melden Zuwachs. Die Politik ignoriert das Problem, während die Bildungsnation so tut, als benötige sie keinen Nachwuchs mehr. Ein alarmierender Trend mit unklarer Ursache. Und stummen Zeugen.

Im besseren Teil des Vaterlandes  

Es ist der bessere Teil des Vaterlandes, hier wird die saubere Version der Muttersprache gesprochen und es gibt kaum national befreite Zonen, in denen Björn Höcke regiert und Alexander Gauland fastnackt baden geht. Der Westen hat viele beliebte Unis, aber nicht nur aus dem Westen selbst, sondern überhaupt wollen dort immer weniger Menschen studieren. Die alte Aufforderung "Dann geh doch rüber!" zieht nicht mehr, denn auch der Osten klagt über rückläufige Studentenzahlen. 

Woran liegt das? Wo sind sie denn alle hin? Im Handwerk und der Industrie jedenfalls nicht, auch dort klagen Unternehmen über einen wachsenden Mangel an ausbildungsfähigen und ausbildungswilligen Neueinsteigern. Zudem war es das süße Studentenleben, das in den zurückliegenden Jahren alle Konkurrenzangebote ausgestochen hatte. Wer etwas werden will, das zeigen die Biografien nahezu sämtlicher mächtigen Anführer, die Deutschland derzeit lenken, der macht sein Abitur. Danach wird Politikwissenschaften studiert, VWL oder BWL oder irgendwas. Und sich anschließend über zwei, drei Jahre als Gehilfe eines Abgeordneten in den Bundestag hochgedient.

Ohne bürgerlichen Broterwerb 

Wenig später sind viele schon Minister, Parteivorsitzender oder zumindest Staatssekretär, ohne jemals mit den Schwierigkeiten und Belastungen eines bürgerlichen Broterwerbs konfrontiert worden zu sein. Aussichten, die Millionen von der Notwendigkeit eines Hochschulstudiums überzeugten. Es musste keines mit Abschluss sein. Es reichte, später erwähnen zu können, man habe studiert. 

Doch offenbar ist die Magie verflogen. Der Vorplatz der Goethe-Universität Frankfurt am Main ist heute an manchen Tagen fast menschenleer, auf der Straße vor der Ruhr-Universität in Bochum verlieren sich ein paar Passanten im grauen Sommermorgen,. Selbst Schloss Hohenheim, Sitz der gleichnamigen kleine, aber feinen Uni in Stuttgart, wirkt verlassen. Studenten? Studierende? Fehlanzeige.

Alle Hoch- und Fachschulen leiden unter dem gleichen Problem: Die Nachfrage geht zurück, die Zeiten der Rekordzahlen an sogenannten "Studierenden" sind vorüber. Die kleine Uni Hohenheim zählt heute 300 Studentinnen und Studenten weniger als in ihren besten Tagen. Im großen Frankfurt am Main ist die Zahl um fast 5.000 geschrumpft. Der Ruhr-Uni, einem anderen Giganten unter den größten Universitäten Deutschlands, sind heute noch 37.000 Studierende geblieben. Ein kläglicher Rest der ehemals 43.000 jungen Frauen und Männer, die der Wissensdurst in den Pott getrieben hatte.

Mühsame MINT-Fächer 

Dass sie allein mit dem Professor im Hörsaal sitzen, erleben derzeit noch nicht viele Studenten. Doch in den sogenannten MINT-Fächern kommt es vor. Vorn steht dann ein Professor, er schreibt Formeln und Beweise an die Tafel, ganz exklusiv für einen Wissbegierigen, der sich vorgenommen hat, Mathematik, Physik oder ein ähnlich herausforderndes Fach zu studieren. Die Anzahl der jungen Leute, die sich das antun wollen, geht seit Jahren zurück. Vor allem Ingenieure, Bergbauexperten und Maschinenbauer, Verfahrens- und Elektrotechniker werden künftig kaum mehr gebraucht werden, weil die KI nach den Vorgaben der EU-Kommission viele Aufgaben übernehmen wird. 

Ein Hobby für Freaks, wie es in Studierendenkreise heißt. Wichtig sei schließlich nicht, was man studiere, sondern dass man studiere. Arbeitgebern gerade im gefragten öffentlichen Dienst reiche ein beliebiger Studienabschluss als Nachweis von Bildungsfähigkeit und Bereitschaft zur Einordnung in ein gewachsenes System. Fachliche Bildung sei nicht hinderlich, aber keineswegs Bedingung, außer in sensiblen Bereichen wie dem Diskriminierungs-, Beauftragten- und Opferwesen. 

Lieber etwas Leichtes 

Gern wird deshalb studiert, aber lieber etwas Leichtes. Da der erstbeste Abschluss häufig reicht, um den Absprung in eine Behörde zu schaffen,  steigt zwar die Zahl an Erstsemestern, Nordrhein-Westfalen aber beklagte zuletzt über alle seine beliebten Universitäten mit ihren ausgezeichneten Studienbedingungen den "stärksten Rückgang der Studierendenzahl seit fast 20 Jahren". Ein Rückgang 4,4 Prozent ließ die Zahl der Studentinnen und Studenten an den Hochschulen in NRW von 742.506 auf nur noch 710.019 schrumpfen. Der Rückgang um mehr als 30.000 Menschen entspricht einer Kleinstadt wie Gladbeck, Kerpen oder Rheine.

Wie kommt es, dass hier immer weniger Menschen studieren – und auch andernorts im Westen die Zahl der Studierenden sinkt? Der erste Verdacht ist natürlich die Lage. Nordrhein-Westfalen, Hessen, auch Rheinland-Pfalz und Niedersachen - sie alle gelten als wenig spannend für junge Menschen, langweilige, satte Regionen mit hohen Mieten und einem hohen Anteil an Zuwanderern, oft regiert von Parteien, die seit Jahrzehnten an der Macht sind und dafür verantwortlich, dass "dieses Land kaputtgespart worden ist", wie SPD-Chef Lars Klingbeil die Bilanz der so lange Zeit regierenden Parteien kritisch auf einen Punkt gebracht hat.

Das gelobte Land der gefegten Gehwege 

Die alten Bundesländern, über viele Jahre nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger in den neueren das gelobte Land der gefegten Gehwege, gepflegten geschotterten Vorgärten und gebratenen Tauben haben heute politisch einen sehr schlechten Ruf. Im Osten ist die AfD Volkspartei, doch die größten  Zugewinne feierte sie einer Analyse der angesehenen Antonio-Amadou-Stiftung zufolge zuletzt im Westen. "Die stärksten Sprünge macht die AfD in den Bundesländern, in denen sie bislang am schwächsten war", prangerte eine Studie die "alarmierende Normalisierung rechtsextremer Ideologien" in Gebieten an, die durch die Amerikaner, Briten und Franzosen vor mehr als 80 Jahren demokratisiert worden waren.

Es sind abschreckende Zahlen, vor allem für junge Leute. In Nord-Westdeutschland, insbesondere in Niedersachsen sprang das Ergebnis der vor Wochen vorübergehend insgesamt als "gesichert rechtsextremistisch gegolten habenden Partei von 6,1 Prozent auf 17,8, in Schleswig-Holstein, dem Heimatland des geachteten und beliebten grünen Klimawirtschaftsministers, stieg der Stimmenanteil von 6,5 auf 16,3. "Im Vergleich zu 2021 hat die AfD in Niedersachsen und Schleswig-Holstein  ihre Ergebnisse mehr als verdoppelt", warnen der Amadou-Forschenden, die zudem auf einen erschreckenden Fakt verweisen: Bis zu 33 Prozent der Wählenden hätten schon darüber nachgedacht, die AfD zu wählen

Abgeschreckte Student*innen 

Das schreckt dann doch viele Studenten und Student*innen in spe einfach ab. Die sagen sich: Wieso sollte ich irgendwo studieren, wenn dort jeder Dritte ein potenzieller Nazi ist? Auch die Angst spielt eine Rolle, nach dem Verlassen der Kleinstadt oder des Dorfes, in dem viele immer noch aufgewachsen sind, mit neuen und gerade im Westen verbreiteten Gewaltphänomenen konfrontiert zu werden. "Tatsächlich scheint es so zu sein, als hätten die politischen Ereignisse der vergangenen Jahre eine abschreckende Wirkung auf Studierende", schreibt die angesehene Wochenzeitschrift "Die Zeit" in einem aktuellen Lagebild.

Das widmet sich vordergründig der Angst westdeutsch gelesener junger Menschen, in die von Höcke, Gauland, Wagenknecht und Weidel kulturell dominierten Ostgebiete zu ziehen, verrät dabei aber auch, wie der Westen leidet. Während im Osten der Anteil westdeutscher Studierender sinkt, sinkt die Zahl der Studierenden insgesamt, auch im Westen. Die Abiturienten, die davor zurückschrecken, im Osten zu studieren, weil sie marodierende Nazibanden und asylfeindlichen Proteste fürchten, studieren bundesweiten Zahlen zufolge auch nicht im Westen.

Die Zahlen sinken bundesweit 

Der Effekt ist in Statistiken für ganz Deutschland zu sehen: Die Studierendenzahlen sinken, im demokratiepraktisch prekären Osten laut beklagt, im gefestigt demokratischen Westen eher achselzuckend beschwiegen. Niemand weiß, woran es liegt. Niemand weiß, wo all die hoffnungsvollen Talente bleiben. An den Universitäten und Hochschulen kommen sie nicht mehr an, doch auch auf die Lehrbetriebe weichen sie nicht aus. 

Deutschlands Bevölkerung wächst, die wirklich geburtenschwachen  Jahrgänge, die später einmal alle Schulden abtragen sollen, kommen erste noch. Jetzt schon aber wird dünn, wo die Bildungsnation ihre einzigen Rohstoffe fördern müsste. Die Politik, die genau weiß, worum es geht, ignoriert das Problem. Die Medien, sonst immer hellwach, wenn es gravierende Missstände aufzudecken gilt, schweigen fleißig mit.

Ursula oder der Untergang: Es war nie ein Geheimnis und es muss eins bleiben

Ursula von der Leyen, EU-Kommissionspräsidentin, Misstrauensantrag, Europa, SMS-Pfizer, Vertrauensabstimmung, Straßburg
Manfred Weber (l.) hatte ihr versprochen, dass die Mehrheit steht: Ursula von der Leyen (r.) bleibt Europa erhalten. Das ganze Misstrauensspektakel hätten sich die Abgeordneten sparen können.

Ernsthafte Zweifel am Sieg der Kommissionspräsidentin über ihre Feinde hatte niemand. Das ganze Straßburger Theater, angestrengt von offenkundigen Gegner eines starken Europa mit einer souveränen Präsidentin, sei ein "Spektakel von zweifelhaftem Nutzen" ordnete die Süddeutsche Zeitung die von einem fragwürdigen Rumänen angestrengte Vertrauensabstimmung über Ursula von der Leyen ein.  

Die Deutsche gilt in ihrer zweiten Amtsperiode als einer der letzten Pfeiler, die Europa in den Stürmen der Zeit aufrecht halten "Leyen oder leiden", so fasst die um das Wohl der 440 Millionen Europäer besorgte Wochenzeitschrift "Die Zeit" zusammen, "warum die EU ihre Präsidentin jetzt stützen muss".

Es muss diese sein 

Es kann nur eine geben und es muss diese eine sein. Als Majestätsbeleidigung erschien schon der Vorgang an sich - zum ersten Mal seit Äonen muss sich wieder ein Europachef für sein Verhalten einem Misstrauensantrag im EU-Parlament stellen. Zum dritten Mal in der Geschichte des EU-Parlaments erst geschieht das. Für Ursula von der Leyen war ist weniger bedrohlich als beleidigend, sah sich die 66-Jährige doch gezwungen, zu allen Tricks zu greifen, die für solche Fälle in den Handbüchern des Machterhalts stehen.

Glücklicherweise hat die Frau aus dem alten niedersächsischen Politikadel der Albrechts die Fachliteratur studiert wie kaum jemand anders. Als sie sich den Vorwürfen stellt, folgt sie den Empfehlungen ihrer Kommunikationsberater: In ihrer rund 15-minütigen Rede geht die Kommissionschefin mit keinem Wort auf den Kern der Anschuldigung ein, dem Parlament selbst nach einem Urteil der höchsten EU-Richter noch widerrechtlich die Inhalte der SMS vorzuenthalten, die sie in der Corona-Pandemie mit Pfizer-Chef Albert Bourla tauschte. Stattdessen behauptet von der Leyen, sie haben ja "nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie damals Kontakt mit Spitzenvertretern von Impfstoffherstellern hatte".

Nie ein Geheimnis und es bleibt eins

Ein halsbrecherischer semantischer Purzelbaum, der medial als aufrechte Stellungnahme akzeptiert wurde. Ursula von der Leyen, deren rechtswidrige Weigerung (Az. T-36/23), den Inhalt der SMS-Nachrichten öffentlich zu machen, die europäische Steuerzahler etwa 35 Milliarden Euro gekostet haben, durfte sich mit allem Theaterdonner erfolgreich gegen die Behauptung wehren, "dass diese Kontakte unangemessen gewesen seien und gegen das europäische Interesse verstießen", indem sie  feststellte, das sei "einfach falsch". 

Da niemand die Inhalte der SMS kennt, die von der Leyen auf bewährte Weise samt der betroffenen Geräte aus der Welt hat schaffen lassen, kann sie gelassen bleiben. Es habe keine Geheimnisse, keine versteckten Klauseln und auch keine Verpflichtung für die einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu Bestellungen gegeben, sagt sie. Alle anderen Behauptungen seien Lügen. Die gewiefte Taktikerin weiß genau: Das Gegenteil kann niemand beweisen.

Gemeinsam mit den Brüdern Italien 

Ihre Gegner wissen das auch, ebenso wie sie wissen, dass die EU-Kommissionspräsidentin nicht nur die zum Showdown nach Straßburg eingeflogene Kompanie ihrer 26 Kommissarinnen und Kommissare nebst den Abgeordneten der christdemokratischen EVP, Grünen, Liberalen und Sozialdemokraten hinter sich weiß, sondern auch Teile der rechtsextremistischen Fraktion. Mit Italiens Postfaschistin Giorgia Meloni und deren nationalistischer Partei "Brüder Italien" hatte von der Leyen bereits vor ihrer Wiederwahl zur Kommissionschefin einen Pakt schließen müssen, um sich eine Mehrheit zu sichern. 

Seitdem regiert die Deutsche mit der Gnade der Frau aus Rom, die "Europa nach rechts verschieben" (Spiegel) will und in der vor allem auf ihre Macht bedachten Deutschen mit ihrem dezidierten linken Profil ein unauffälliges Werkzeug gefunden hat. Der Misstrauensantrag gegen von der Leyen, der mit der Chefin drohte, ihre gesamte Kommission samt all der fantastischen neuen Ressortnamen hinwegzufegen, musste scheitern und er scheiterte. 

Das älteste Drehbuch 

Gheorghe Piperea, ein extrem rechter Professor auf Bukarest, der den Antrag von der Leyen  zufolge dem "ältesten Drehbuch der Extremisten" entnommen hatte, fand nur 175 Parlamentarier, die mit dieser Präsidentin nicht mehr weitermachen wollen. Hinter Ursula von der Leyen dagegen stellten sich 360 der immerhin 553 Abgeordneten, die alle wichtigen Termin in ihren Wahlkreisen hatten sausen lassen und zum Showdown angereist waren.

Von der Leyen verlor damit zwar 41 Stimmen verglichen mit ihrer Wahl vor einem Jahr. Diesmal aber war ein knappes Viertel der insgesamt 719 EU-Parlamentarier aus den verschiedensten wichtigen Gründen verhindert. Glück für Europa: So gelang es den rechtsextremen Fraktionen im Europaparlament nicht wie geplant, "nicht nur einen Keil zwischen die EU-Institutionen treiben, sondern auch die Demokratie zu zerstören", wie Ursula von der Leyen in ihrer leidenschaftlichen Verteidigungsrede darauf verwiesen hatte, dass es das "System von der Leyen" (SZ) ist, das Europa aufrecht, vital, dynamisch und lebensfähig hält.

Ein großer Tag für die Demokratie 

Ein großer Tag für Europa, ein großer Tag für die Demokratie. Die "Klatsche für die Rechtsextremen" (Bild) ist "ein Total-Reinfall", denn selbst die EU-Abgeordneten Daniel Caspary und Angelika Niebler aus von der Leyens EVP-Fraktion müssen einräumen, dass "eine breite Mehrheit des Europäischen Parlaments nicht in die Falle der Rechts- und Linksextremen getappt, sondern hat sich klar für Stabilität und gegen politisch motivierten Aktionismus entschieden" habe. 

Statt an konkreten Lösungen zu arbeiten, hätten die "Extremisten der politischen Ränder" vorgehabt, "mit inszenierten Schein-Debatten das Vertrauen in die europäischen Institutionen zu untergraben." Das aber sei vom Parlament nun wiederhergestellt worden. 

Vertuschung ist kein Vertrauensbruch 

Die Vorwürfe von Intransparenz und Machtmissbrauch, gegründet auf die krude These, die EU-Kommission hätte die Herausgabe der SMS zu den ohne Ausschreibung geschlossenen Milliarden-Impfstoff-Deals mit Pfizer laut Gerichtsurteil gar nicht verweigern dürfen, sind damit hinfällig. Das Parlament hat den Europäischen Gerichtshof imposant überstimmt. Die Politik zeigt damit, dass ihr Primat von der Leyens Geheimhaltungskurs legitimieren kann, auch wenn höchste EU-Richter meinen, der Kommission in dieser Frage Vertuschung mit Hilfe von "Hypothesen oder wechselnden oder ungenauen Informationen" vorgeworfen haben.

Wie ein Mann steht Europa jetzt wieder hinter der Frau, in deren Kommission "die Zuständigkeiten der Kommissare meist nicht klar geregelt sind" (Tagesspiegel), so dass Ursula von der Leyen nach jeweils dort regieren kann, wo die frischgebackene Karlspreisträgerin jeweils die größte Bühne mit den hellsten Scheinwerfern und dem meisten Publikum vermutet.

Die Schlachtenbummlerin  

In der Pandemie war das der Bereich Gesundheit, dem von der Leyen das "Projekt Hera" (Health Emergency Response Authority) verordnete. Kaum war die Idee zu einer neuen Behörde geworden, wechselte die aus ihrer Ministertätigkeit in Deutschland mit nahezu allen Fachbereichen grob vertraute gelernte Ärztin in den Bereich Wiederaufbau. Anschließend dann, noch längst war nicht alle Milliarden verjubelt, entdeckte sie ihr grünes Herz und rief den "Green Deal" zur umfassenden klimagerechten Transformation des Kontinents aus. 

Als dieses Thema aus der Mode kam, verlegte sich Ursula von der Leyen im dritten Kriegsjahr in der Ukraine plötzlich auf die eilige Aufrüstung der EU. Sie selbst dachte sich dazu ein weiteres neues Kreditprogramm aus und sie erfand die Vision der Wertegemeinschaft als "stählernes Stachelschwein". Den Litauer Andrius Kubiliusr, dessen Kommissariat sich offiziell als zuständig für "Verteidigung und Raumfahrt" bezeichnet, bootete sie aus. Das ist problemlos möglich, weil die Europäischen Verträge die Verteidigungspolitik nach wie vor als Aufgabe der souveränen Mitgliedsstaaten definieren

Eine Chefin mit Überzeugungskraft 

Für Europa ist es ein gutes Zeichen, dass das kaum mehr eine Rolle spielt. Ursula von der Leyen führt die EU souverän wie ihre Mentorin Angela Merkel  einst Deutschland durch die Fährnisse ihrer Zeit steuerte. Viele Abgeordnete auch aus dem Lager der Demokraten nutzten die von den Rechtsextremen aufgeworfene Gelegenheit zwar, ihren Unmut über die obrigkeitliche Amtsführung der Deutschen zu äußern. Doch deren Geständnis, die "ihre Sorgen laut und deutlich" zu hören und ihr Versprechen, "immer an gemeinsamen Lösungen arbeiten mit pro-demokratischen und pro-europäischen Kräften in diesem Haus" zu arbeiten, genügten, den Sturm im Wasserglas zu beruhigen, die Aufmüpfigen zu überzeugen und Europa zu retten.


Donnerstag, 10. Juli 2025

Flucht vor der Verantwortung: Racketes Marshmallows

Carola Rakete Kümram Ölgemälde
Carola Rackete: Die linke Spitzenkandidatin zur EU-Wahl hat jetzt zugegeben, dass sie nie vorhatte, ihre Wahlkampfversprechen einlösen zu wollen. 

Vor der Wahl wird das eine gesagt, danach das andere getan. Daran sind Wählerinnen und Wähler seit Jahrzehnten gewöhnt. Für Politiker ist beinahe jeder Spruch, jede Parole und jedes Versprechen zulässig, wenn dadurch das Ziel näherrückt. Näher zur Macht, ran an die Fleischtöpfe der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung, die Linke, Rechte und Liberale gern für andere schultern. Getrieben vom Bewusstsein, die Welt zu einem besseren Ort machen zu können, sind sie sich gewiss, dass der Einzug in ein Parlament nur die erste Stufe der Berufung ist. Die zweite ist ein Regierungsamt, aus dem sich die Wirklichkeit direkt gestalten lässt.

Fall aus dem Olymp 

Ob sie will oder nicht, sie muss. Bei Annalena Baerbock und Robert Habeck war zu besichtigen, wie der Hase läuft. Doch später war auch zu sehen, wie tief der Fall aus dem Olymp des Außenamtes und vom Feldherrenhügel des Klimawirtschaftsministeriums ist, hat der Wähler erst entschieden, mit den Ämter andere Personen betrauen zu wollen. Enttäuscht von der Aussicht, von ganz vorn im Bundestag auf eine Hinterbank abgeschoben zu werden, ergriff Annalena Baerbock die erste Gelegenheit, sich im Ausland nach einer neuen Stelle zu suchen. Ihr Bundestagsmandat gab die frühere Außenministerin nach ihrem Umzug in aller Form auf.

So weit ist es bei Robert Habeck noch nicht. Doch auch hier deuten alle Zeichen auf Abschied. Mehrfach hat der krachend gescheiterte "Bündniskanzler" die Reaktionen auf seine Idee getestet, Deutschland ebenfalls zu verlassen, enttäuscht, vergnatzt und desillusioniert. Es kam kaum Kritik, wenige nur versuchten, den 55-Jährigen davon abzuhalten, sich aus der Politik zurückzuziehen. Aus seiner Partei kamen gar keine Rufe, es sich doch noch einmal anders zu überlegen. Und schon gar nicht kamen Angebote, irgendwo vor in der ersten Reihe weiter eine Rolle zu spielen. Obwohl die derzeit so traurig besetzt ist wie seit den Jahren von Gunda Röstel und Antje Radcke nicht mehr. 

Gastprofessor mit Bundestagsmandat 

Habeck hatte auf Zuspruch gehofft, der ausblieb. Der Ex-Minister, inzwischen im Rang eines einfachen Abgeordneten, verstand die Signale. Nach ersten Andeutungen, er wolle in Trumps Amerika neu anfangen, soll es nun Dänemark sein. Am Institut für Internationale Studien in Kopenhagen will der studierte Philosoph künftig arbeiten, auch "Gastprofessuren an verschiedenen außereuropäischen Universitäten" strebe er an und freiberuflich will er sich als "Redner zu verschiedenen Anlässen" anbieten, etwa als Gastgeber eine Gesprächsreihe unter dem Titel "Habeck live" am Berliner Ensemble

Noch nicht endgültig entschieden hat Robert Habeck, ob er sein Bundestagsmandat behalten will oder ob er seine politische Karriere in einem Alter beendet, in dem Friedrich Merz nur noch 15 Jahre vor seinem Eid als Bundeskanzler stand. 

Bei Carola Rackete lag der Fall immer schon  anders. Als die aktivistische Kapitänin sich vor zwei Jahren von der Linkspartei als Spitzenkandidatin zur EU-Wahl aufstellen ließ, war das Unternehmen eines auf Zeit. Die frühere SED wollte ihre Altlasten abschütteln, indem sie die ostdeutschen Rentner verschreckt, und zugleich vordringen in die hippen sozialismusaffinen Kreise der Kinder des westdeutschen Bioadeadels, denen die Grünen nicht radikal genug sind. Mit 2,7 Prozent der Stimmen, nicht einmal halb so viele wie fünf Jahre zuvor, bewies Rackete, dass es durchaus eine Zielgruppe für Kandidaten mit kulturell angeeigneten Frisuren gibt, die das System komplett zerstören wollen. Allerdings ist sie offenbar sehr, sehr klein.

Keine List auf das Mandat 

Carola Racketes Lust, ihr Mandat auszuüben, war auch nicht viel größer. Pünktlich ein Jahr nach der Konstituierung des EU-Parlaments hat die 37-Jährige jetzt bekanntgegeben, dass sie ihr Mandat im EU-Parlament niederlegen werde. Die Wählenden, die der Versicherung der von der linken Parteispitze im Hinterzimmer bestimmten Kandidatin vertraut hatten, sie ziehe "für Klima und Menschenrechte ins Europaparlament", stehen bedröppelt da wie die Millionen von Habeck- und Baerbockwähler. 

Die hatten ihren Lieblingen abgenommen, dass sie nicht nur ein "Regierungsprogramm" haben. Sondern nach der absehbaren Niederlage auch bereit sein werden, das Graubrot der Oppositionsarbeit zu kauen. Die müssen jetzt erkennen, dass Beharrlichkeit und dicke Bretter die Sache der beiden grünen Stars nicht sind.

Auch bei Rackete zeigt sich die niedrige Frustrationstoleranz, die in der Wissenschaft meist mit dem Marshmallow-Test nachgewiesen wird. Dabei werden Kindern vor die Wahl gestellt, sofort eine kleine Belohnung zu erhalten - etwa ein Marshmallow. Oder zu warten und später eine größere Belohnung zu bekommen. Die Fähigkeit, zu warten, wird als Zeichen für Selbstkontrolle gewertet, ihr Fehlen spricht für unzureichende Impulskontrolle und einen Mangel an Ausdauer, zugunsten größerer Ziele größere Geduld aufzubringen.

Weit vorm Ziel aufgeben 

Welches Ziel könnte größer sein als die, die Carola Rackete hatte verfolgen wollen? Der Hitzejuni zeigt, dass das Klima schlimmer leidet denn je. Die Menschenrechte werden nicht mehr nur zeitweise suspendiert wie in der Pandemie, sondern an den deutschen Grenzen. Doch die Europa-Abgeordnete Rackete gibt an, nie wirklich daran gedacht zu haben, ihr Mandat zu nutzen, um "fossile Konzerne zu vergesellschaften, gute, zukunftsfähige Arbeitsplätze zu schaffen, die Spekulation mit Böden und Essen zu stoppen, Bauern ein gutes Auskommen zu sichern und alle Menschen mit gesunden, bezahlbaren Lebensmitteln zu versorgen". 

Auch der Kampf für einen "Schuldenerlass für den globalen Süden" und die "sicheren Perspektiven für Menschen, die durch die Klimakrise zur Flucht gezwungen sind" (Rackete, 2024) waren nur ein Vorwand. "Meine Kandidatur und mein Mandat hatten von Anfang an das Ziel, zur Erneuerung der Partei beizutragen", gibt Carole Rackete heute unumwunden zu. 

Alles war ein Trick, ein abgekartetes Spiel. Die Linke hatte die Seenotretterin auserkoren, ihr die Tür zu den zahllosen staatliche geförderten sozialer Bewegungen zu öffnen. Rackete selbst hat die europäische Demokratie und ihren Wählerauftrag nie erster genommen als die Partei sie: Von Anfang an, hat sie jetzt gestanden, hätten sie und ihr Team darüber diskutiert, das Mandat "kollektiv" zu gestalten. Die Wählerin und der Wähler, sie müssen doch nicht wissen, wer da allein nach seinem Gewissen entscheidet.

Platz 6 auf der Besetzungscouch 

Ihr Nachfolger Martin Günther kommt von Platz 6 der Besetzungscouch, weil 4 und 5 keine Lust hatten. Der propere Mann aus Bernau in Brandenburg, der schon lange "in die erste Reihe" will,  hat sein Leben der sozialistischen Sache gewidmet. Noch nie musste der 43-Jährige Zuflucht zu einem bürgerlichen Erwerbsberuf suchen, immer fand sich eine Stelle als Mitarbeiter eines linken Bundestagsabgeordneten. Günther tritt nun an, Racketes "Kampf für Klimagerechtigkeit" fortzusetzen. 

Er will das tun, indem er "Druck macht für eine EU, die die Stromrechnung bezahlbar hält und klimaneutrale Energieversorgung umsetzt, den ÖPNV unterstützt, Reiche und Konzerne gerecht besteuert und EU-weit kraftvoll gegen Mietenwahnsinn, Pflegenotstand angeht".  Ihm als Ökonomen  seien "die wirtschaftlichen Zusammenhänge dabei besonders wichtig", stellte Martin Günther aus Anlass seiner überraschenden Inthronisierung klar. Eine sozialere und ökologischere EU werde es nur geben, "wenn wir sie von den Superreichen und ihren Lobbyisten zurückerobern." Gelingt das nicht, kann er sein Mandat einfach zurückgeben. Gewählt hat ihn ohnehin niemand. 

ChatEurope: Zu den Grenzen der Wirklichkeit

EU Nachrichten KI chateurope.eu
Die euopäische Nachrichten-KI "ChatEurope.eu" gibt sich als unabhängige Quelle aus, wird aber von der Europäischen Kommission finanziert. 


Die Besten der Besten haben sich zusammengetan, verwegen geradezu angesichts der strengen europäischen Regelungen zur Eindämmung der Gefahren der Künstlichen Intelligenz. Unbeeindruckt von den Forderungen großer Wirtschaftsunternehmen nach einer Pause für die wettbewerbsbehindernden Vorgaben für den Einsatz sogenannter Chatbots in den EU schoben die renommierte Deutsche Presse-Agentur (DPA) und 14 andere Medienhäuser aus ganz Europa alle kleinlichen Bedenken beiseite. Europa soll der größten technischen Revolution seit der Erfindung des Internets voranmarschieren - und ganz vorn, dort, wo das Licht ist, schreitet ChatEurope in der ersten Reihe.

Der Bot, der sich selbst nicht kennt 

Der Chatbot ist seinen Erfindern zufolge "die erste KI-basierte Nachrichtenplattform für europäische Themen", gegründet von einem "Konsortium europäischer Medien", hinter denen sich neben der DPA genaugenommen die Nachrichtenagenturen Agenzia Nazionale Stampa Associata (ANSA) aus Italien, Agence France-Presse (AFP) aus Frankreich und EFE aus Spanien verbergen. Von weiteren Beteiligten wie der Deutschen Welle und "Medienhäusern aus Polen, Rumänien, Spanien und weiteren renommierten Partner" weiß der von der  rumänischen Firma DRUID AI programmierte Bot nichts.

"Ich habe keine Informationen über weitere Mitglieder des Konsortiums", behauptet Chateurope. Der Bot ist auch sonst weitgehend wissensfrei: Von sich selbst weiß sie nicht zu sagen, auf welche KI er zurückgreift - es ist die französische Entwicklung MistralAI. Und sie denkt zwar immer sehr lange nach. Liefert aber am Ende durchgehend Antworten auf dem Niveau der "Tagesschau in leichter Sprache": Mal ist es nur die halbe Wahrheit, mal komplett erfunden. Mal stimmt der Rest nicht, aber das Interessanteste fehlt.

"Vorbeugung von Fake News" 

Ein echtes Europa-Projekt, natürlich gestartet "zur Vorbeugung von Fake News" und zur "Bekämpfung von Falschinformationen durch den gezielten Einsatz von künstlicher Intelligenz". Dazu sollen Bürgerinnen und Bürger dem Chatbot über die Internetseite chateurope.eu "alle Fragen rund um Europa" stellen, sieben Sprachen sind möglich stellen und "fundierte und verifizierte Antworten" versprochen. 

Um Anliegen zu bescheiden, greift ChatEurope sicherheitshalber nicht auf das Wissen der Welt zurück und auch nicht auf das, was in irgendwelche Archiven oder gar in diesem Internet steht. Seinen "wertvollen Beitrag für alle Menschen in Europa", wie DPA-Chef Peter Kropsch den Chatbot schon zum Start lobte, gewinnt die langsamste KI der Welt vielmehr ausdrücklich "ausschließlich" aus den "geprüften Informationen der beteiligten Medienhäuser".  

Erschütternder Kenntnisstand 

Was die nicht gemeldet haben, existiert nicht. Der Kenntnisstand über unangenehme Geschichten, die als nur regional bedeutsam gewertet wurden wie etwa die SMS-Affäre der EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, endet an dem Tag, an dem der letzte Partner nicht umhinkam, ein journalistisches Interesse zu simulieren. "Die Arbeit der EU wird transparenter", versichert der DPA-Chef, dessen Firma natürlich ihre "unabhängige und verifizierte Berichterstattung in das Projekt" eingebracht und die "europaweite Allianz gegen Desinformation und Fake News" damit gestärkt hat. 

Nicht wissen ist nicht lügen. Von einem Misstrauensantrag gegen die Kommissionschefin  im EU-Parlament, wie er in dieser Woche verhandelt werden wird, hat ChatEurope noch nie gehört. "Tut mir leid, aber mein Wissen beschränkt sich ausschließlich auf die Artikel, die auf der ChatEurope-Plattform veröffentlicht wurden, und ich kann keine Informationen zu Ihrer Anfrage finden", heißt es auf die Frage, ob es einen Misstrauensantrag gegen Ursula von der Leyen gebe. 

Ein "intelligenter Chatbot" 

Keine Chance der Information, die nicht von einem der beteiligten Medienhäuser kommt, wer die nun auch genau seien. Die Intelligenz des "intelligenten Chatbots" (Eigenbeschreibung) reicht nicht weit, aber weit genug, um Nutzeranfragen auf eine besonders schlaue Art zu bescheiden: Die auf Deutsch gestellte Frage, welche EU-Länder seit 2015 ihre Grenzen geschlossen hätten und wie viele es heute sind, beantwortet ChatEurope mit der Nennung von Österreich und Deutschland, heute seien es aber zehn Staaten. Auf Englisch wird die Frage hingegen mit  "Deutschland, Österreich, Frankreich, Dänemark, Schweden und Norwegen" beantwortet.

Kommt immer darauf an, wer fragt. Das Ganze wurde von einem Team aus Frankreich und Rumänien zusammengeschraubt und im Tagesbetrieb wird es offenbar von DPA und die AFP-Tochter News Aktuell mit Inhalten beschickt. Künstlich ist daran alles, intelligent ist nichts, Nutzerfragen werden nicht beantwortet, sondern mit Auskünften beschieden - wie die gute alte Googlesuche verweist jede aus wiederkehrenden Satzbausteinen gezimmerte Auskunft auf die verwendete Quelle, die in der Regel nicht "aus den Nachrichten der Partner" stammt, sondern von DPA oder AFP.

Ein beunruhigender Befund 

Angesichts des legendären Rufes der größten deutschen Nachrichtenagentur, die heute für mehr als die Hälfte aller Inhalte sorgt, die die Leser aller deutschen Tageszeitungen zu Gesicht bekommen, ist das ein beunruhigender Befund. Zwar wird der selbst für eine europäische KI äußerst beschränkt wirkende Nachrichten-Chatbot ganz bestimmt kein langes Leben haben, doch bis dahin kann ChatEurope noch jede Menge Fehlinformationen verbreiten und Wissenslücken offenbaren: Die Kenntnisse der Auskunftsmaschine zum ehemals weltbedeutsamsten EU-Korruptionsskandal um die griechische Parlamentarierin Eva Kaili endet auf Deutsch mit dem Tag ihrer Inhaftierung im Dezember 2022. 

Auf Italienisch geht es danach noch etwas weiter, aber als Übersetzer ist Chateurope nicht eingestellt. "Ich kann Ihnen nicht bei der Übersetzung helfen, aber ich kann Ihnen Informationen zu verschiedenen Themen geben, die in europäischen Nachrichten behandelt werden", empfiehlt er, doch lieber "vielleicht etwas über Umweltinitiativen" wissen zu wollen. Da wären Antworten ausreichend da.

Frage doch, was ich weiß 

Ein echter Europa-Bot, der nicht weiß, wie viele venezolanische Präsidenten welche EU-Mitgliedstaaten auf dem Höhepunkt des Streits um die Rechtsstaatlichkeit in der Maduro-Diktatur anerkannt hatten. Der aber stur darauf besteht, es habe immer nur einen gegeben. Seit wann Angela Merkel wieder Bundeskanzlerin ist, weiß ChatEurope auch nicht, weil europäische künstliche Intelligenz kein Nein vorsieht. Stattdessen gibt es die Antwort: "Sorry but my knowledge is limited only to the articles published on the ChatEurope platform." 

Verglichen mit amerikanischen oder chinesischen Chatbots wirkt ChatEurope dynamisch und vertrauenswürdig wie Olaf Scholz mit seiner Aktentasche bei TikTok. Der Besuch der alten Tante im hippen Styleclub findet vorsichtshalber am Vormittag statt, bei Tageslicht fallen die traurigen Falten der mit einem Disclaimer von 10.000 Anschlägen - natürlich auf Englisch - geschützten Experimentalanordnung  weniger ins Auge. 

Unabhängige Stimme der Kommission 

Dafür aber, dass die "independent voice free of political, commercial or ideological influence", als die sich der "Zusammenschluss bedeutender Medienhäuser" selbst sieht, sich "dem gemeinsamen Ziel verschrieben" hat, "die öffentliche Kommunikation der Europäischen Union verständlich, transparent und faktenbasiert zu vermitteln".

Ein Auftragswerk. Die Dame demonstrativ Ambitionen wie die, das "Fundament für ein neues digitales Selbstverständnis Europas" zu sein. Darunter aber ist sie splitterfasernackt. "Dieses Projekt wurde mit Mitteln der Europäischen Union finanziert" steht ganz unten, während ChatEurope selbst sich natürlich entschuldigen muss: "Sorry but my knowledge is limited only to the articles published on the ChatEurope platform and I can’t find any information about your query"

Die erfundene Milliarde

Wie viel Geld der europäischen Steuerzahler die Kommission sich das "Experiment" der Mediengiganten kosten lässt, ist nicht bekanntgegeben worden. ChatEurope.eu, hier jetzt eigener Ansicht nach perfekt im Bilde, nennt "370 Millionen Euro", die "die EU zwischen 2007 und 2013 gezahlt" habe, "während eine Finanzierung von 814 Millionen bereits für 2014-2020 unterzeichnet wurde (von denen 120 Millionen bereits gezahlt wurden)".

Duie Milliarde ist natürlich frei erfunden, die EU-KI  weiß einmal mehr nicht, dass sie keine "fundierte und verifizierte Antwort" gibt, sondern aus den wenigen verfügbaren "geprüften Informationen der beteiligten Medienhäuser" reine Desinformation destilliert, die sich die angeblich unabhängigen Berichterstatter von der EU finanzieren lassen.

Meilenstein der Übergriffigkeit 

In der Tat ein neuer Weg, "möglichst vielen Bürgern den Zugang zu komplexen politischen und wirtschaftlichen Themen zu erleichtern", um  ihnen einen "Gegenvorschlag zu den mächtigen US-Tech-Plattformen" zu machen. Dass sich sogenannte Nachrichtenagenturen und Medienhäuser auf keinem anderen Kontinent der Welt dazu hergeben würden, offiziell zuzugeben, dass sie im Auftrag der  Kommunikationsinteressen einer Behörde unterwegs sind, macht  diese KI tatsächlich zu "mehr als einem Chatbot". Die "europäische Alternative für informierte Debatten" ist ein Politikum, ein Meilenstein der Übergriffigkeit staatlicher Instanzen auf die unabhängige Berichterstattung. 

Bewaffnet mit dem Argument, dass die Infrastruktur hier "vollständig europäisch" sei, übernehmen unverdächtig erscheinende Medienhäuser die Öffentlichkeitsarbeit einer Institution, die aufgrund ihrer traurigen Leistungsbilanz schwer unter Druck steht. Große Redaktionen geben ihre redaktionelle Unabhängigkeit in die Hände einer Förderinstitution, die so transparent arbeitet, dass sie sorgfältig darauf achtet, die Kosten des Einkaufs ihrer neuen Propaganda-KI nur ja nicht öffentlich werden zu lassen. 

Unter der Überschrift der "vertrauenswürdigen, digitalen Nachrichtenvermittlung in Zeiten von KI und Desinformation" solle das Projekt "nicht nur technologische, sondern auch gesellschaftliche Barrieren abbauen" und ein "gemeinsames Informationsfundament als Basis für eine europäische Öffentlichkeit" schaffen. Wie die EU-Kommission sich eine solche Öffentlichkeit wünscht, lässt sich am Beispiel von ChatEurope heute schon sehen.


Mittwoch, 9. Juli 2025

Der Fingerabdruck der EU: Immer wenn es schon zu spät ist

Allianz für die Chemieindustrie
Die EU kümmert sich in Europa um alles, jetzt auch um kritische Moleküle.

Kaum hatte der nächste Großkonzern angekündigt, seine Geschäftstätigkeit in Deutschland im Sinne der Nachhaltigkeit und Klimagerechtigkeit zurückfahren zu wollen, reagierte Brüssel wie immer, wenn es zu spät ist. Eine "Allianz für die Chemieindustrie" wollen die Kommissare diesmal gründen, wenn auch erst, nachdem "kritische Moleküle identifiziert" worden sind. Danach sei Brüssel bereit, die Produktion zu fördern. Europa soll so unabhängiger von Lieferungen aus anderen Staaten werden, die die Reste der hierzulande verbliebenen  Chemieproduktion mit Vorprodukten füttern.

Fingerabdruck der EU 

Es ist der Fingerabdruck der EU, der sich im nun auch in dieser Branche zeigt. So lange es irgendwo gut läuft oder auch nur halbwegs erträglich, ist es Brüssel mit seiner gigantischen Bürokratiemaschine, das für immer neue Lasten sorgt, die Industrieunternehmen, der Handel, das Handwerk und die Kunden tragen sollen, um die hochfliegenden Pläne einer Gesellschaftsumgestaltung von oben zu finanzieren. 

Von der DSGVO-Verordnung und den Ökodesign-Vorschriften über die Verordnung über entwaldungsfreie Produkte und die Verordnung über entwaldungsfreie Produkte führt ein gerader Weg zur CO2-Abgabe, die Lieferkettensorgfaltspflichten  und den KI Act, der die europäische Wirtschaft wirksam daran hindert, im globalen Wettbewerb um eine Zukunftstechnologie bestehen zu können. 

Klagen kommen nie an 

Das geht alles lange gut, weil die Regeln in den meisten Mitgliedstaaten eher salopp umgesetzt werden. In den anderen knirschen die Zähne, doch eine Wirtschaft wie die deutsche kann zusätzliche Bürokratiekosten durch Informationspflichten und entgehende Wirtschaftsleistungen tragen, obwohl sie nach Schätzungen des Ifo-Instituts mittlerweile bei bis zu 146 Milliarden Euro pro Jahr liegen. Klagen kommen in Brüssel ohnehin nicht an, darauf haben die Konstrukteure der europäischen Wertegemeinschaft großen Wert gelegt. 

Mit der Schaffung einer neuen Verantwortungsebene, die weit weg liegt und weder für Bürger noch für Politiker der unteren Kategorien in den Mitgliedsstaaten erreichbar ist, entstand ein gottesgleiches Wesen. Bis hin zum Bundestag und den von ihm getragenen Bundesregierungen können heute sämtliche Entscheidungen, die irgendwem wehtun, auf jene ferne, für normale Menschen undurchschaubare Mechanik in Brüssel und Straßburg geschoben werden. Das hat die Kommission beschlossen. Das hat das EU-Parlament abgenickt. Dem hat der Europäische Rat zugestimmt. Das muss also so. Es tut allen leid. Aber niemand kann dagegen etwas machen.

Unmittelbare Gesetzeskraft 

Niemand außer der Kommission, die im Unterschied zum teildemokratisch gewählten Parlament das Recht hat, sich Gesetze auszudenken, die keine sind, aber in den Mitgliedsstaaten unmittelbare Gesetzeskraft erlangen, ohne dass es dazu noch einer Bestätigung demokratisch gewählter Abgeordneter bedarf. 

Der Schaden richtet sich per Fernbedienung selbst an und die Trauergemeinde steht schulterzuckend ringsum, betrachtet das Desaster und wenn alles richtig dumm läuft, lässt sich die EU von einem alten Kollegen wie dem Multifunktionär Mario Draghi bescheinigen, in Europa die Produktivität schwach, sehr schwach" ausfalle, sich "zwischen der EU und den USA eine große Lücke im Bruttoinlandsprodukt aufgetan" habe und das "verfügbare Pro-Kopf-Einkommen in den USA seit 2000 fast doppelt so schnell gestiegen" sei wie in der EU.

Zweifel eines Sozialdemokraten 

Wenn nur jemand wüsste, warum. Klaus von Dohnanyi, ein Sozialdemokrat alter Schmidt-Schule, hatte schon vor Jahren einen gelinden Verdacht. "Wer die Zuständigkeitskataloge der Europäischen Union und  das "Protokoll (Nr. 2) zur Anwendung" liest, kann das Buch nur verwirrt schließen", hatte von Dohnanyi bemerkt, wenn auch erst nach seinem Eintritt in den Ruhestand. Der große alte Mann der Hamburger Sozialdemokratie war verwirrt: "Alle können für alles zuständig sein. Vermutlich sieht die Kommission in ihrem Selbstverständnis deswegen auch alles als ihre Zuständigkeit an."

Sie fährt recht gut damit, denn wer für alles zuständig ist, dem kann niemand in die Parade fahren. Die EU tut das am Ende immer selbst: Nachdem sie dafür gesorgt hatte, dass sich in Europa keine nennenswerte Chipindustrie mehr befand, erließ sie den "Chips Act", um ausländische Halbleiterhersteller mit Milliarden und Abermilliarden Euro Steuergeldgeschenken anzulocken. 

Rückwärtsgang für regulierung 

Nachdem es ihr gelungen war, die Regulierung im Internet so weit zu treiben, dass selbst die Fans der Datenschutzgrundverordnung Veränderungen forderten, signalisierte sie die Bereitschaft zu zarten Erleichterungen. Und kaum war nicht mehr zu leugnen, dass die Klimaziele nicht mehr erreichbar sind, um die herum sich alles Leben in der Gemeinschaft in den kommenden Jahrzehnten hatte abspielen sollen, gab es "mehr Spielraum" und geheimnisumwitterte "Möglichkeiten, die Ziele jetzt einfacher zu erreichen" (Der Spiegel).

Auf Europa ist Verlass. Sobald ein Kind im Brunnen liegt, versammeln sich die, die es hineingestoßen haben, am Rand des tiefen, kalten, dunklen Lochs, um Rettungspläne zu besprechen. Als die Corona-Pandemie bewies, dass die EU nicht einmal simple OP-Masken selbst herstellen kann, wurden Strategien entwickelt, das schnell zu ändern. Es wurde schnell vergessen. Als es aufgrund der weltweiten Lockdowns an simplen Alltagsmedikamenten fehlte, sollten große neue Fabriken entstehen, die Hustensaft und Kochsalzlösungen regional anbauen und frisch ausliefern. Das gelang nicht ganz, sondern im Gegenteil. Der Good Manufacturing Practice (GMP)-Leitfaden der EU löste eine neue, noch größere Kochsalzkrise aus.

Kommission am Brunnenrand 

Folgenlos bleibt das alles nicht. Immer wieder reagiert die  EU-Kommission mit Aktionsplänen und Förderversprechen, sobald die Lage aussichtslos geworden ist. Kaum war die Gewinnung von Metallen in der EU zum Erliegen gekommen, schuf sich die Gemeinschaft eine "Allianz für kritische Rohstoffe", die nun schon im fünften Jahr "einen Pfad hin zu größerer Sicherheit und Nachhaltigkeit absteckt". 

Nachdem sie die europäischen Autobauer mit dem angekündigten Verbrennerverbot gezwungen hatte, übereilt auf Elektroautos zu setzen, sprang sie hilfreich mit Zöllen ein, um die chinesische Konkurrenz draußen zu halten. Als das nicht reichte, gab es "mehr Zeit" dazu. Im März war sie dann drauf und dran, die Stahlbranche krisensicher zu machen, zuvor schon war aufgefallen, dass Kernkraft vielleicht doch grün gelesen werden muss, sollen auf dem alten Kontinent nicht alle Lichter ausgehen. 

Plötzlich angeschlagen 

Jetzt ist die nach segensreichen 32 Jahren seit der Umwandlung der Europäischen Gemeinschaft in die Europäische Union "angeschlagene europäische Chemieindustrie" dran. Der gemeinsame Binnenmarkt, jenes bedeutende wirtschaftliche Integrationsobjekt der EU, das den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen zwischen den Mitgliedstaaten ermöglicht und so zumindest der Theorie nach "zu größerer wirtschaftlicher Dynamik" geführt hat, kann es allein nicht mehr schaffen. 

Es braucht oben am Brunnenrand eine "Allianz für kritische Chemikalien", die "kritische Produktionsstandorte identifiziert", herausbekommt, welcher Rohstoff "politische Unterstützung benötigt" und dann "Handelsprobleme wie Abhängigkeiten in den Lieferketten angeht".

Die Erfolge der als "Europäische Rohstoffallianz" gegründeten Sondereinheit zur Sicherung des Nachschubs an kritischen Rohstoffen zeigen, was möglich ist. In nur fünf Jahren hat die Allianz "bereits 14 Industrieprojekte zur Sicherung des Abbaus Seltener Erden in Europa ermittelt". Abgebaut werden die vorhandenen Vorräte nirgendwo, weder im sächsischen Storckwitz (Sachsen) noch im schwedischen Kiruna, wo eine Million Tonnen Seltenerdoxide im Boden liegen. 

Noch eine Rohstoffallianz 

Die Rohstoffallianz selbst tut gar selbstverständlich sowieso gar nichts. Sie hat alle Hände voll zu tun, um "die infolge der Versorgungsengpässe des Jahres 2021 getroffenen Maßnahmen" zu koordinieren. Und "Möglichkeiten für weitere internationale  Rohstoffpartnerschaften" zu prüfen.

Für die Chemie und deren neue Freunde von der  "Allianz für die Chemieindustrie" sind das gute Nachrichten. Wenn erst die Arbeit am Vorhaben beendet ist, zu ermitteln, bei welchen Molekülen Europa genau "von ausländischen Importen abhängig ist", wie Industriekommissar Stephane Sejourne das erste Etappenziel umrissen hat, wird klar sein, dass es ein "Gesetz für kritische Moleküle" braucht. 

Geschwätzgebläse: Wie der Investitionsbooster in die Welt kam

Investitionsbooster, Wachstumsbooster, Wirtschaftswunder, Schuldenbremse, Energiewende, Rettungsschirm, Stromautobahn
Europas Weg war schon vort Jahren richtig. Und dabei bleibt es auch.

Selten war die Lage so angespannt. Die europäische Wirtschaft lahmt seit Jahren, Deutschland hinkt sogar noch hinterher. Die Schulden sind so hoch wie nie, die Depression hat selbst Beamte und staatliche Angestellte erfasst. Von der "bis zum Sommer" versprochenen Stimmungswende ist weit und breit nichts zu sehen, nicht viel mehr als vom Kanzler selbst, der die Welt als sein Feld betrachtet und das Land, das er regiert, allenfalls als Ausgangspunkt für seine Reisen.

Unhörbares Brodeln 

Es brodelt, wenn auch unhörbar. Die Länder jammern über Merz’ Pläne zur Erhöhung der Pendlerpauschale, die Grünen wollen seinen Fraktionsvorsitzenden abstrafen, die SPD hat sich über den Mindestlohn zerstritten und mit der anstehenden Wahl neuer Verfassungsrichter droht ein erneuter Angriff auf die Brandmauer: Wird Friedrich Merz Einsicht zeigen und auf die früher vom Verfassungsschutz beobachtete Linkspartei zugehen? Oder geht er ins Risiko und lädt die heute vom Verfassungsschuzt beobachtete AfD ein, ihm die fehlenden Stimme zu spendieren?

Eine Situation, in der Land und Leute dringend der Aufmunterung bedürfen. Und die kommt in Deutschland seit Jahren zuverlässig von der Bundesworthülsenfabirk (BWHF) im politischen Berlin.  Welche große Krise in der Vergangenheit auch zu bewältigen war, mit eleganten und wirkmächtigten Neologismen wie "Rettungsschirm" und "Energiewende", "Schuldenbremse", "Wachstumspakt" und "Stromautobahn" gelang es BWHF-Chef Rainald Schawidow und seinem Kollektiv stets, die Probleme zumindest verbal in den Griff zu bekommen.

Ein große Tradition 

Ganz in dieser großen Tradition, die zurückgeht bis auf das kaiserliche Reichsamt für Worte und Benennungen (RWB - Forschungsbehörde), steht auch der "Investitionsbooster", mit dem die BWHF Union und SPD im Deutungskampf um Deutschlands wirtschaftliche Zukunft aufmunitioniert hat. Gelegentlich auch "Wachstumsbooster" genannt, bezeichnet der Propagandabegriff eine hochkomplexes neues System von steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten und Steuertricks, die zu geringeren Steuereinnahmen führen, allerdings überwiegend bei den Bundesländer, nicht beim Bund. 

Das gesparte Geld, so spekulieren Kanzler Friedrich Merz und Finanzminister Lars Klingbeil, werden die Unternehmen umgehend für neue Investitionen nutzen, das werde die dringend nötigen Wachstumsimpulse setzen und das Land aus der industriellen Depression führen. Wichtiger aber noch als die tatsächliche wirtschaftliche Wirkung ist im Propagandakrieg um die Hoheit über Stammtischen und Talkshowstudios die Frage der Offensivfähigkeit.

Leerworte und Füllsilben 

Nach dem zweiten Gesetz der Mediendynamik werden bei der Übermittlung von politischen Botschaften nur knapp drei Prozent des Gesamtinhalts wahrgenommen. Um wirklich zu vielmals enttäuschten, abgestumpften und widerwilligen Zuhörern durchzudringen, brauchen Politiker floskelhafte Substantive, zusammengeschraubt aus Leerworten und Füllsilben, sprachbildhaft angespitzt und in Abschusssituationen selbstdonnernd.

Sogenannte Worthülsen sind auch bei der Überwindung der Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft das erste Mittel der Wahl. "In  unserem Gewerbe wissen wir", erklärt BWHF-Chef schawidow, "dass sich niemand mit degressiven Abschreibungen, erhöhten Bemessungsgrundlage für die Forschungszulage und spezielle Förderungen für Elektromobilität begeistern lässt." Kurz muss es sein, spannend und vielversprechend. Für den "Investitionsbooster" ließen sich die Phrasendrescher und Worthülsendreher von der Raumfahrt inspirieren. Dort wird ein Zusatztriebwerk, das als erste Stufe einer Trägerrakete dienst, als "Booster" bezeichnet  - schon in der Corona-Pandemie erwies sich, dass die dem Wort innewohnende Kraft bei den Empfängern ankommt.

Strategische Wucht 

Warum nicht noch einmal, diesmal spezieller, sagten sich die Propagandapoeten in den tiefen, labyrinthartigen Gängen der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) im Regierungsviertel von Berlin. Als  sprachliche Verpackung für die ambitionierten Schuldenpläne der schwarz-roten Koalition schien der aus altem Impfmaterial und dem im Deutschen positiv konottierten lateinischen investire für "Einkleiden" zusammengeschraubte Begriff "Investitionsbooster" ideal geeignet. Als Synonym entstand gleichzeitig  auch der "Wachstumsbooster" - auch er von überragender strategischer Wucht. 

Nach dem Verpuffen der Versprechen vom "grünen Wirtschaftswunder" und "Wachstumsraten wie in den 50er Jahren" sei es darauf angekommen, "wieder zu Maß und Mitte zurückzufinden", beschreibt Schawidow. Die Billionen-Schulden der neuen Budnesregierung seien zwar erschreckend, doch als Suoerlativ eben doch recht einfach vermarktbar. "Wir wussten, wir brauchen einen rhetorischen Volltreffer, aber mir war klar, dass ich mich da auf meine Leute verlassen kann", sagt der Meister der politischen Semantik, der als Sprach-Alchemist selbst Klassiker wie "Heißzeit", "Klimanotstand" und "CO2-Steuer" mitentwickelt hat.

Ein sprachliches Signal 

Kaum waren die Multimegasondervermögen beschlossen, lief hinter den Kulissen der BWHF die raffinierte Mechanik der Worthülsenproduktion an. Immer geht es dabeid arum, politisches Handeln als entschlossen und weitsichtig zu verkaufen, Zweifel vorbeugend zu veröden und Polititsprache so zu übersetzen, dass "auch die 77-jährige Oma aus Sachsen ahnt, wie gut das alles gemeint ist". 

Aus dem "steuerlichen Investitionssofortprogramm" mit epochalen Maßnahmen der 75-prozentigen Abschreibung für E-Fahrzeuge im Anschaffungsjahr machten die BWHF-Spezialisten in mehreren sogenannten Glättungs- und Anpassungsrunden ein sprachliches Signal. Was im Gesetzestext trocken und spröde wirkt, vibriert im neuen Wortkleid wirklich wie eine Rakete auf der Rampe.

Favorit aller Abteilungen 

"Muss ja", sagt Schawidow, der genau weiß, dass "steuerliche Maßnahmen" und "Entlastungsschritte"  in der Öffentlichkeit kaum Jubel auslösen. Dazu brauche es Begriffe, die Fortschritt, Kraft und Zukunftsvisionen in sich vereinen. Anfangs hätten Vorschläge wie "Wirtschaftswunder 2.0", "Zukunfts-Turbo" und "Wettbewerbsspritze" auf dem Tisch gelegen. "Doch schnell kristallisierte sich der Investitionsbooster als Favorit aller Abteilungen bei uns im Hause heraus."

Kein Wunder. Auch der "Investitionsbooster" nutzt die Macht, die zusammengesetzte Substantive in der deutschen Sprache haben. Vorläufer wie "Stromautobahn", "Corona-Kabinett" oder "Maskenpflicht" haben in der Vergangenheit vielmals nachgewiesen, dass solche insich inhaltsleeren Worthülsen den Anschein erwecken können, komplexe Sachverhalte zu vereinfachen. Aus ihrer fleißigen  Verwendung durch Politik und Medien entsteht eine Illusion von Entschlossenheit - hier, indem das nüchterne "Investition", das nur wenige Deutsche zutreffend in ihre Muttersprache übersetzen könnten, mit dem dem dynamisch wirkenden "Booster" kombiniert wird. 

"Wir wollen, dass die Bürgerinnen und Bürger das in ihrem Alltag spüren, dass sich etwas verändert", hatte Lars Klingbeil im Bundestag gesagt. Und versprochen, dass die Milliarden nicht zum Fenster hinausgeworfen, sondern dort ivestiert würden, wo sie Erträge versprächen: "Dass das Schlagloch, das seit Jahren nervt, auf einmal beseitigt wird, dass die Schultoilette, die schon seit Jahren nicht mehr benutzt werden kann, repariert wird, dass auch im Dorf die Ladesäule für Elektromobilität ermöglicht wird, dass das Schwimmbad neue Duschen bekommt, dass die Schienen saniert, die Brücken stabilisiert und das Glasfaserkabel verlegt wird."  

Sehnsucht nach Prosperität 

Auch das ein Anglizismus, den nicht jeder detailliert erklären könnte, der aber gerade deshalb Geschwindigkeit und Kraft suggeriert. Für alle, die das nicht fühlen können - etwa die Zuschauer der "Tagesschau in leichter Sprache" - steht der "Wachstumsbooster" zur Verfügung. Dieser Begriff spricht die Sehnsucht nach wirtschaftlicher Prosperität und zumindest halb auf Deutsch direkt an und zielt damit auf eine breitere, geerdete Zielgruppe. Bundesfinanzminister Lars Klingbeil, ein Instinktfußballer auf dem propagandistischen Spielfeld, bevorzugt selbstverständlich diese Variante. 

Leicht übersehen wird, dass zur Boosterkapagne der BWHF viel mehr gehört als nur diese beiden hochwirksamen Worthülsen. Um den Investitionsbooster mit ökologischer Strahlkraft aufzuladen, haben die BWHF-Mitarbeitenden in einer nächtlichen Sonderschicht einen ganzen Booster-Besteckkasten entwickelt.Neben dem "E-Mobilitäts-Booster", der die Förderung von Elektrofahrzeugen hervorhebt, wird es künftig auhc den "Sichereitsbooster", der "Panzerbooster" und den "Baubooster" geben. 

Vorarbeit von Lauterbach 

Schawidow ist sicher, dass die neuen Begriffsbooster universell einsetzbar sind, obwohl deren unmittelbare Bedeutung - früher wurde so der Hilfsantrieb bei Dampflokomotiven genannt - kaum bekannt ist. "Seit der Pandemie und der Vorarbeit von Herrn Lauterbach steht der Begriff gleichbedeutend für Fortschritt, Modernisierung und Widerstandskraft." 

Die BWHF liefert desweiteren dazu passende Phrasen wie "Planungssicherheit schaffen", "Investitionen anreizen" und "klimaneutraler Standort". Deren Einsatz wird sorgfältig orchestriert, um die Akzeptanz in der Bevölkerung zu maximieren. Rainald Schawidow weist darauf hin, dass die Sprachproduktion selbst nur ein Teil der Arbeit der BWHF ist. 

Perfekt für Begeisterung 

Der andere bestehe darin, ein komplexes Zusammenspiel aus linguistischem Können und politischem Kalkül zu organisieren: Bürgern soll das Empfinden eingeimpft werden, dass Probleme erkannt sind und Hilfe unterwegs ist. Das sei in langen reden kaum vermittelbar. "Dazu braucht es einen Begriff, der emotional und rational zugleich wirkt." Der Investitionsbooster erfülle diese Anforderungen perfekt: "Er ist technisch genug, um seriös zu wirken, aber dynamisch genug, um Begeisterung zu wecken."

Ein bewährte Technik der Sprachmanipulation, die Anglizismen nutzt, um Modernität zu signalisieren und damit politisches Versagen kaschiert. Die Wiederholung des Begriffs in verschiedenen Kontexten – von Bundestagsreden bis hin zu Social-Media-Kampagnen – sorgt dafür, dass er sich im öffentlichen Bewusstsein verankert. Um Bedschwerden zu vermeiden, wie sie in der Vergangenheit nach dem massenhaften Einsatz von "Wachstumspakt", "Mietpreisbremse" und "Rettungspaket" kamen, steht der "Wachstumsbooster" bereit, um die Botschaft nachzujustieren.

Medizin gegen Populismus 

Am Ende sei es doch der Normalbürger – die Verkäuferin, der Handwerker, der Rentner –, der das Gefühl haben müsse, er vestehe, was die dort oben treiben, sagt Schawidow. Der Mann, der seine Lehre beim VEB Geschwätz in der DDR machte, sieht sich und seine BWHF als Dienstleister. "Wir betreiben hier Zukunftsgestaltung und Vertrauensmanagement", sagt er, "jede unserer Worthülsen ist eine Medizin gegen Politikverdrossenheit, Populismus und Phrasendrescherei." 

Der Kritik, dass es nur um Propaganda gehe, ist der Chef der BWHF sich bewusst. Doch seine Aufgabe und die seiner hochspezialisierten Linguisten, Semantiker und Kommunikatoren sei nicht die Lösung wirtschaftlicher Probleme, sondern deren kommunikative Vermittlung. Schawidow findet das "genau so wichtig", denn wer Bürger systematisch ausschließe, dürfe sich nicht wundern, wenn die sich abwendeten oder den Falschen hinterherliefen. "Wir haben mit dem Investitionsbooster ein Wort geschaffen, das Menschen abholt und mitnimmt in die komplexe Realität eines milliardenschweren Investitionsprogramms", sagt Rainald Schawidow stolz. 

Dienstag, 8. Juli 2025

Sternstunde einer Anführerin: Ich oder der Untergang

Ursula von der Leyen saubere Hände kümram Ölgemälde
Ursula von der Leyen hat saubere Hände - der junge Maler Kümram hat sie in typischer Pose porträtiert. 

Wie sie da stand vor den Frauen und Männern, die sich angemaßt hatten, sie vor aller Augen maßregeln zu wollen, zeigte Ursula von der Leyen einmal mehr, dass sie so einfach nicht in die Bredouille zu bringen ist. Im pfirsichfarbenen Sweater, schwarzer Pulli, das Haar streng in Stasis gelegt, ließ sich die 66-Jährige gar nicht erst ein auf die Vorwürfe, die aus der ganz rechten, zudem rumänischen Ecke des größten zumindest halbdemokratisch gewählten Parlament der Welt gegen sie aufgemacht worden waren.    

Der Plan ihrer Feinde 

Von  der Leyen wusste genau, was geschehen war. Sie kannte den Plan ihrer Feinde, die die auch die Feinde Europas sind. Allein ein Moment der Unaufmerksamkeit der demokratischen Parteien der Parlamentsmehrheit hatte den Nörglern und Zweiflern die Gelegenheit in die Hände gespielt, die Frau vorzuführen, die die größte Staatengemeinschaft der Weltgeschichte seit nun schon sechs Jahren von Erfolg zu Erfolg führt. 
 
Wären alle wachsam gewesen, hätte es dazu nicht kommen können. So aber konnte sich eine ganz kleine Clique von "Rechts-außen-Abgeordnete" (Der Spiegel) Anweisungen aus dem "ältesten Handbuch der Extremisten" holen, wie es von der Leyen selbst nennt. Und ihr "mangelnde Transparenz bei der Impfstoffbeschaffung" (Die Zeit) und egomanisches Agieren bei der Verkündigung eines EU-eigenen Verteidigungsfonds vorwerfen, obwohl die CDU-Politikerin doch nur das Beste für alle wollte, die EU, die Abgeordneten und die angesichts der russischen Angriffe auf die Ukraine nach einer undurchdringlichen europäischen Verteidigung nach dem Vorbild eines stählernen Stachelschweins rufenden Menschen. 

Eine kampfentschlossene Löwin 

Wenn das Europäische Parlament in Straßburg ein Kolosseum wäre, dann hätten die, die hätten zuschauen wollen, an diesem historischen 7. Juli 2025 sehen könne, wie eine Löwin ihre Jungen verteidigt. "Wir dürfen Extremisten nicht erlauben, die Geschichte umzuschreiben", rief sie. Ohne sich auf konkrete Vorwürfe einzulassen, stellte die frühere deutsche Verteidigungsministerin klar, dass sie immer alles getan habe, nie aber etwas, das ihr vorgeworfen werden können. Der SMS-Kontakt zum Pfizer-Chef, der die Europäer am Ende 35 Milliarden Euro kostete, sei von ihr nie verschwiegen worden. Mehr müsse auch das Parlament nicht wissen
 
Hier geht es um Vertrauen gegen Vertrauen. Ursula von der Leyen, die die europäische Gemeinschaft wie ein eigenes Kaiserreich führt, hat sich den bei der Besetzung von europäischen Spitzenposten stets uneinigen Mitgliedsstaaten unentbehrlich gemacht. Die in Brüssel geborene Frau aus Niedersachsen agiert mit stählerner Entschlossenheit und einem Lächeln, vor dem ganz Europa zittert. 
 
Sie weiß, dass es zu ihr keine Alternative gibt. Nur auf sie konnten sich Deutschland und Frankreich einigen, nur hinter ihr findet sich immer wieder eine Parlamentsmehrheit ein, die motiviert ist von der Furcht, was wohl geschehen werden, wenn die schon in Deutschland mit einer SMS-Affäre aufgefallene Kommissionspräsidentin Platz für jemand anderen machen müsste. 

Angriff eines Hinterbänklers 

Dass der Antrag, von der Leyen das Misstrauen auszusprechen, von einem rumänischen Hinterbänkler kommt, passt ins Bild. Gheorghe Piperea ist Juraprofessor, ein Feind der Anstrengungen der EU zur Bankenrettung in der Finanzkrise und ein rechtsnationaler Anhänger eines fürsorgenden Sozialstaates. Erst seit einem Jahr sitzt der Politiker der Partei "Bündnis für die Union der Rumänen" im Straßburger Parlament. Und schon versucht er, die mächtigste Frau Europas zu Fall zu bringen.
 
Eine Unterfangen, dass scheitern muss, wenn Europa weiterleben soll. Das wissen in Straßburg alle, die verantwortlich im Dienst ihrer Wählerinnen und Wähler handeln. In einer Zeit, in der die EU multiplen und hybriden Angriffen ausgesetzt ist - die USA führen einen Wirtschaftskrieg gegen die Gemeinschaft, Russland bedroht die Ostflanke, China rächt sich für notwendige und faire EU-Strafzölle - gilt die Schar der 26 Kommissare um Ursula von der Leyen als Versprechen auf bessere Zeiten. 
 

Eine unverwüstliche Anführerin 

 
Und Ursula von der Leyen selbst erscheint selbst im Rückblick auf ihren starken und oft zu allem entschlossenen Vorgänger Jean-Claude Juncker als Glücksfall. Wie keine andere verkörpert die unverwüstliche Anführerin der 440 Millionen Europäer den Geist von zukunftsweisenden Richtlinien, Bürokratieauf- und Abbau und einer nie dagewesenen Gesetzgebungslawine aus sogenannten "Acts", mit denen die EU auf ihre ganz eigene Art auf KI und Hightech-Chips, Aufrüstung und Elektromobilität setzt.
 
Juncker war wie viele seiner Vorgänger ein grauer Bürokrat, der versuchte, nicht aufzufallen. Von der Leyen ist ein General, der demonstrativ auf dem Feldherrenhügel ausharrt, um den Angriffen von Extremisten und Verschwörungstheoretikern mit der Eleganz einer politischen Primaballerina zu trotzen. Von der Leyen weiß sich sicher dank einer Politik, die klar ist wie Quellwasser und sauber wie ein Operationssaal. Die Demokraten von Links bis zur gemäßigten Mitte wissen das zu schätzen und stehen wie eine Mauer hinter ihr. Die Attacken, denen sie immer wieder ausgesetzt ist, nimmt sie als höchste Ehre hin: Wer ihr Vorwürfe macht, das weiß sie, will Europa in den Abgrund reißen.
 

Ein Schauspiel in Straßburg 

 
Sie aber wird das nicht zulassen. Der erste Akt des Schauspiels in Straßburg zeigte, wie geschlossen die Demokraten im EU-Parlament, diesem heiligen Tempel der europäischen Demokratie, zusammenstehen, wenn die Heckenschützen im Gebüsch ihre Flinten laden. Die demonstrative Debatte über den Misstrauensantrag, die von den 73 erklärten Gegnern der Kommissionspräsidentin als Tribunal geplant war, wurde zum Gegenteil. 
 
Auf einen ningelnden und höhnenden Redner aus dem bunten braunen Haufen von ECR-Fraktion, "Patriots for Europe" und "Europe of Sovereign Nations" kamen zwei, drei Abgeordnete, die sich ihrer Verantwortung gewachsen zeigten. Solidarisch stellten sie sich hinter die Präsidentin. Wie ein Mann wiesen selbst die Frauen, die ans Rednerpult traten, die Vorwürfe als müden Aufguss alter Kamellen zurück, die vermutlich vom Kreml lanciert wurde. 
 
Von wegen "Pfizergate", von wegen, das höchste  Gericht der EU habe die mangelnde Transparenz der Kommissionschefin gerügt. Von der Leyen selbst hat doch längst eingeräumt, dass hinter den verschwundenen Nachrichten keine Absicht stecke und hinter der Bestellung von mehr Impfdosen als Europa benötigte sogar die allerbeste.
 

Aufrüstung als neue Hauptaufgabe 

 
Niemand hätte in einer globalen Pandemie nicht die Gelegenheit genutzt, die EU ganz vorn im Spiel zu halten. Dieselbe Absicht verbirgt sich auch hinter von der Leyen auch für Brüssel, Straßburg, Berlin und Paris überraschend verkündeten Plan, die EU unter dem Begriff "ReArmEurope" mit Milliarden aus dem gemeinsamen Haushalt aufzurüsten. Natürlich musste sie das Parlament dabei umgehen. Die Front der Russlandversteher unter den Abgeordneten hätten den Plan sofort an den Kreml verraten.
 
Nein, Krisenzeiten erfordern entschlossenes Handeln, nicht bürokratisches Geplänkel. Und Ursula von der Leyen stützt sich bei allem, was sie tut, auf sichere Mehrheitsverhältnisse im Parlament: Ihre Europäische Volkspartei (EVP) hält 188 Sitze, sie regiert in einem Bündnis mit den Sozialdemokraten (136 Sitze), den Liberalen (79 Sitze) und den Grünen (53 Sitze). Das verschafft der EU-Chefin eine Mehrheit von 456 Sitze – weit mehr als die 361, die nötig wären, um jeden Antrag von Störern, Quertreibern und Feinden unserer Demokratie mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit zurückzuweisen.  

Auch die Linke ist solidarisch 

Diesmal dürfte die Absicht der Angreifer sogar nach hinten losgehen. Als Ursula von der Leyen im November 2024 als einzige Kandidatin für den Posten der Kommissionschefin antrat, konnte sie nur 370 von 688 Abgeordneten davon überzeugen, ihre die Stimme zu geben. Mehrere Sozialdemokraten verweigerten die Gefolgschaft, weil von der Leyen sich Unterstützung von Italiens Postfaschistin Giorgia Meloni geholt hatte. Andere wichen von ihrer Seite, weil die alte und neue Präsidentin am Kern der europäischen Stabilität zu rütteln versprochen hatte oder weil sie damals noch nicht Teil der Von-der-Leyen-Luxus-Koalition (Die Linke) sein wollte.
 
Das wird sich ändern, wenn es jetzt zum Schwure kommt. Die demokratischen Abgeordneten im Parlament, angeführt von EVP-Chef Manfred Weber, der den Antrag als "parteitaktisches Spielchen" abtat, werden von der Leyen den Rücken stärken. Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen lassen ohnehin keinen Zweifel an ihrer Loyalität. Selbst die Linke, sonst immer am Rande der Rebellion, hält still. Warum? Weil sie wissen, dass von der Leyen die EU zusammenhält.  

Ich oder der Untergang 

In ihrer unmissverständllichen Rede vor den Parlamentariern hat Ursula von der Leyen noch einmal klar aufgezeigt, vor welcher Wahl Europa steht: Ich oder der Untergang. Weiterso oder Chaos, Krieg und Elend. Ihre Argumente wogen schwer, das zeigte die Aussprache, in der Spreu und Weizen sich sauber trennten. Nicht nur die gemäßigte Mitte, die staatstragende Sozialdemokratie und die verantwortungsbewussten Grünen, sondern auch die revolutionäre Linke stehen an ihrer Seite. Niemand will den Rechtspopulisten die Hand reichen, niemand will Zweifel daran aufkommen lassen, dass Europa mit einer Stimme spricht.
 
Das Ergebnis der Abstimmung am Donnerstag wird daher zu einem Triumph für von der Leyen werden, die schon bekanntgegeben hat, dass sie keine Zeit haben werde, der Veranstaltung beizuwohnen. Wichtiges ist zu tun, als "russischen Marionetten" und Desinformationsverbreitern, die die EU spalten wollen, die Ehre der Anwesenheit zu geben. Mit ihrem Versuch, die EU aus der Mitte des Parlaments zu spalten, werden sich Rechtsnationalisten, Putin-Fans und selbsternannte Souveränisten eine blutige Nase holen. Die starke, vereinte EU, die dabei ist, sich selbst wiederaufzubauen, wird ein klares Zeichen gegen den Illiberalismus setzen und der Welt vor Augen führen, dass Quengler und Kritikaster wie  Piperea und Co. keine Chance haben.

Das Kartell: Auf der Karlsruher Besetzungscouch

Bundesverfassungsgericht, Verfassungsrichter, Zweidrittelmehrheit, Besetzungsformel, Hinterzimmer, Proporz, Karlsruhe
Ehe Richter in Karlsruhe urteilen können, müssen Politiker in Berlin ein "traditionell nach Proporz" gestaltetes Verfahren betreiben. Abb: Kümram, Öl auf Hartfaser

Wie es genau passiert, weiß draußen im Lande niemand. Wohlweislich haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes einst nur bestimmt, dass offene Richterstellen am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe je zur Hälfte durch den Bundestag und den Bundesrat zu besetzen seien. 

Jeder Richter, der vorgeschlagen wird, braucht eine Zweidrittelmehrheit, die Vorschläge kommen aus einem Wahlausschuss des Bundestages. Wer heute hundert Deutsche nach ihrer Theorie befragt, wie die wichtigsten Hüter der Grundrechte nach Baden geraten, wird hundert Vermutungen hören. Und allenfalls zwei, drei richtige Tipps zu hören bekommen.

Prozedere im Hinterzimmer 

Mehr als sieben Jahrzehnte ging nach diesem nicht näher ausgestalteten Prozedere alles weitgehend unfallfrei über die Bühne. Anfangs waren es nur CDU, CSU, FDP und SPD, die Richter vorschlagen durften. Immer abwechselnd, darauf hatte man sich geeinigt. Mehr Parteien wurden nicht gebraucht, um Kandidaten durchzubringen, auf die man sich im berühmten "Hinterzimmer" (Sigmar Gabriel) vorab geeinigt hatte. Wählst Du diesmal meinen mit, wähle ich nächstes Mal Deinen. Einfacher geht es kaum.

Später schafften es auch die Grünen auf die Besetzungscouch. Nachdem sie immer wieder mal in diesem oder jenem Bundesland mitregieren, ließ es sich nicht mehr vermeiden, sie zu beteiligen. Im Bundesrat ist eine Zweidrittelmehrheit für jede Besetzung erforderlich, die Union, FDP und SPD konnten  nicht mehr sicher sein, sie sicher zu haben. 

Besetzungsformel 3-3-1-1 

Unauffällig und rein informell - es geht hier nur um die Vergabe der Jobs, deren Inhaber über die Einhaltung der Verfassung wachen - einigten sich die deutschen Dauerregierungsparteien auf einen neuen Verteilungsschlüssel, der nirgendwo niedergeschrieben ist, aber respektiert wird. Die Besetzungsformel Union / SPD / Union / SPD / Union / SPD / Grüne / FDP bestimmt, dass für je drei Richter, die Union und SPD aussuchen, einmal auch die Grünen und die FDP einen Richter aussuchen dürfen, dem die anderen dann ihr Plazet geben, um dafür zu sorgen, dass ihre Kandidaten deren Stimmen bekommen. 

Das ist noch immer gut gegangen. Selbst ernsthafte Adressen bezeichnen das institutionalisierte Kungelverfahren vor Verfassungsrichter-Wahlen als eines, bei dem "die Vorschlagsrechte traditionell nach Proporz unter den Parteien verteilt werden, die für eine Zwei-Drittel-Mehrheit benötigt werden". Handverlesene Christdemokraten wie Stephan Harbarth und Peter Müller reisten mit einem fast noch warmen Bundestagsmandat nach Karlsruhe, um dort über Gesetze zu befinden, die sie als Abgeordnete selbst mit beschlossen hatten. 

Die gesamte Hinterzimmerkoalition aus CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen hatte den Vorschlag von Bundeskanzlerin Angela Merkel begrüßt, den Obmann der CDU im Rechts- und Verbraucher-Ausschuss des Bundestages, dessen Kanzlei den VW-Konzern in der Abgasaffäre vertrat,  nicht nur als einfachen Verfassungsrichter ans höchste deutsche Gericht zu entsenden. Sondern ihn, nach einer angemessenen Anstandspause, zum neuen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts zu machen.

Besetzende und Besetzer an einem Tisch

Harbarth, "einer der größten Raffkes im Bundestag", wie ihn der "Stern" einmal nannte, war womöglich wirklich ein "ausgewiesener Parteipolitiker", wie die Taz nörgelte, noch dazu einer, der nie im Justizdienst stand. Doch er bewährte sich. Die Gipfeltreffen der Verfassungsorgane gingen weiter, von einem Tisch getrennt, aber in der Sache einig. Um die "Krise als Motor der Staatsmodernisierung" ging es beim letzten Mal, der damalige Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) trug vor. Dass aus all dem nichts werden konnte und geworden ist, dafür konnten weder der Redner noch seine Zuhörer.

Mit Günter Spinner, Frauke Brosius-Gersdorf und Ann-Katrin Kaufhold sind nun wieder neue Verfassungsrichter bereit, längst vakante Plätze zu übernehmen, die wegen des abrupten Endes der Ampel nur noch notbesetzt sind. Spinner wird von der CDU/CSU vorgeschlagen, die beiden Damen  von der SPD. 

Das Auswahlverfahren unterscheidet sich diametral etwa von dem in Polen üblichen europarechtswidrigen Berufungsweg, aber auch den dort zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit geplanten Reformen. Die sehen vor, dass Kandidaten für die höchsten Richterposten abgelehnt werden, wenn sie in den vorangegangenen vier Jahren der Regierung oder einer Partei angehört haben oder als Abgeordnete, Senatoren oder Mitglieder des EU-Parlaments tätig gewesen sind.

Ordentliche Westdeutsche

Waren weder Spinner noch Brosius-Gersdorf noch Kaufhold. Alle drei sind ordentliche Westdeutsche, so dass die Ostdeutschenquote unter den 16 Karlsruher Richterinnen und Richtern stabil bei 6,25 Prozent bleibt. Alle drei werden sicher gewählt, nachdem sich die Union bereiterklärt hat, ihren ursprünglichen Wunschkandidaten Robert Seegmüller aus Rücksicht auf die SPD und die Grünen zurückzuziehen und zum Ausgleich die in den eigenen Reihen umstrittene Frauke Brosius-Gersdorf widerstandslos durchzuwinken. 

Das System zeigt sich wasserdicht und europarechtlich unbedenklich, es atmet die frische Luft des gegenseitigen Respekts und da formal nicht die Exekutive über die Richter bestimmt, die berufen werden, um über ihr Handeln zu richten, sondern Parlamente das tun, ist auch demokratietheoretisch alles bestens. Es ist kein Wahljahr, auch nicht im Osten. Nicht einmal die folkloristische Diskussion über die Notwendigkeit, einen zweiten Ostdeutschen nach Karlsruhe zu schicken, muss geführt werden.

"Traditionell nach Proporz" 

Dafür aber die, ob das "traditionell nach Proporz" (LTO) verteilte Teilhaberecht diesmal für eine Zwei-Drittel-Mehrheit ausreichen wird. Brosius-Gersdorf gilt in Teilen der Union als juristische Aktivistin, deren Absicht es sei, den eben glücklich halbwegs beendeten Marsch nach links in der Robe eines Verfassungsrichtenden fortzusetzen. Andere bis hin in die CSU verweisen auf die Notwendigkeit, die Kröte zu schlucken, um die "Handlungsfähigkeit unserer Demokratie" zu gewährleisten. Egal was, es muss. Egal wer, Hauptsache jemand.

Auch so wird es in jedem Fall dünn. Selbst wenn CDU, CSU und SPD sich einig werden, reichen ihre 328 Sitze im Bundestag nicht, das Trio einzustellen. Die schwarz-rote Koalition braucht Hilfe von den Grünen, von der Linken oder - Gott bewahre - sie bekommt sie von der AfD. Mit den Grünen allein reicht es nicht, mit den Linken zu reden aber hat sich die Union vor Jahren selbst verboten. Obwohl auch die ehemalige SED schon in mehreren Bundesländern mitregiert und in Thüringen sogar eine Landesregierung angeführt hat, gab es nie Überlegungen, sie auf die Besetzungscouch einzuladen.

Allerschlimmster Fall 

Und das wird es sein, was Heidi Reichinnek und Jan van Aken fordern werden, erst recht nachdem die Union sich geweigert hat, die linke Fraktionsvorsitzende ins Geheimdienstüberwachungsgremium des Bundestages zu wählen. Ohne geht es nicht, mit geht es nicht. Gelingt es trotzdem, die Wahl am Freitag im Namen von "unserer Demokratie" irgendwie über die Bühne zu bekommen, dann wird eine "meinungsstarke Professorin" (Der Spiegel) eine Art Verfassungsrichterin sein, der in den kommenden zwölf Jahren niemand abnehmen wird, unparteiisch geurteilt zu haben. Wird es nichts mit der Wahl, muss im schlimmsten Fall die Besetzungsformel erweitert werden.